Abo

„Rolling Thunder Revue“Warum Scorseses Netflix-Doku zu Bob Dylan viel Spaß bringt

Lesezeit 4 Minuten
  • Die legendäre Tour von 1975/76 hat Martin Scorsese für Netflix in einer Mischung aus Fiktion und Dokumentation nachgezeichnet.
  • Ein großartiger Film von zwei Stunden und 22 Minuten Länge, der jede Menge Spaß bietet.

Sicher waren bei der Rolling Thunder Revue, mit der Bob Dylan 1975/76 durch die USA und Kanada tourte, nur zwei Dinge: Die Show begann immer mit „When I Paint My Masterpiece“, dem Lied, in dem es darum geht, die wahre Liebe zu finden. Die Straßen Roms sind die Wege, die alle Menschen auf der Suche nach ihrem Seelenverwandten eingeschlagen haben. Und um Suche geht es auf dieser ganzen Tour. Und darum, sein Land wieder zu lieben, auf eine eher Jack-Kerouac-mäßige Art, nämlich durch Reisen. Und so war bei jedem Konzert Woody Guthries „This Land Is Your Land“ das Schlusslied.

Mit der Wahrheit nicht so genau

Die legendäre Tour von damals hat Martin Scorsese jetzt für Netflix in einer Mischung aus Fiktion und Dokumentation nachgezeichnet. Ein großartiger Film von zwei Stunden und 22 Minuten Länge – und ein großer Spaß, wenn man sich darauf einlässt, dass es Dylan und Scorsese mit der Wahrheit nicht so ernstnehmen.

Es ist die Zeit, als Dylan nur mit weißgeschminktem Gesicht auftrat, wie ein Harlekin. Sharon Stone erzählt in einer Szene, sie habe mit ihrer Mutter damals ein Dylan-Konzert besucht, als Dylan später an ihnen vorbeigekommen sei und ihr Kiss-T-Shirt bewundert habe. Also eine Hommage an Kiss? Dylan erklärt es so: „Du sagst die Wahrheit nur, wenn du eine Maske trägst.“ Als er das sagt, ist er ungeschminkt und trägt keine Maske.

Alles zum Thema Netflix

Es ist schön, den alten Dylan endlich einmal wieder beim Erzählen zu sehen. Es sind seine ersten Interviews seit zehn Jahren. Das allein und die fantastischen Aufnahmen von den Konzerten machen den Streifen zu einem Erlebnis. Die Aufnahmen aus den 1970er Jahren sind von intimer Schönheit. Die Kamera, so scheint es, ist immer ganz nah dran an Dylan, egal ob an seinem weißgeschminkten Gesicht auf der Bühne oder am Steuer seines Wohnmobils. Und dann hören wir Songs wie „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, „Isis“, „A Simple Twist Of Fate“ und „One More Cup Of Coffee“.

Eine Zeit, wie in einer Blase

Es war eine merkwürdig unbestimmte Zeit – Post-68er, Post-Hippie und Prä-HIV, eine seltsame Blase zwischen Disco-Ära und Vietnam, zwischen Folk, Rock, Avantgarde und Kunstperformance; Patti Smith ist bei einer Performance zu sehen. Alles irgendwie analog. Man riecht regelrecht das Patchouli. Die Rolling Thunder Revue von Bob Dylan war der Ausdruck dieses Zeitgeists.

Es ist die Phase von „Blood On The Tracks“ (1975) und „Desire“ (1976), wo er mit der mysteriösen Violinistin Scarlet Rivera auftrat. Nach seinen erfolgreichen Stadiontouren hatte Dylan Sehnsucht nach kleineren Bühnen. Er wollte seinem Publikum in einem von der Watergate-Affäre und dem Desaster in Vietnam zerrissenen Amerika näherzukommen.Vielleicht war es auch so etwas wie eine große, bunte Gruppentherapiesitzung, die sich da abspielte, mit etlichen Musikern auf der Bühne, darunter Joan Baez und Joni Mitchell. In jeder Stadt ließ er noch lokale Größen mitspielen. Dylans Gesang war selten so kraftvoll, als er „The Lonesome Death Of Hattie Carroll“ singt. Oder „Hurricane“, das Lied über die rassistisch motivierte Verurteilung des Boxers Rubin „Hurricane“ Carter wegen mutmaßlichen Mordes, das Dylans Feuer als Protestsänger zum Vorschein bringt.

Viele erzählerische Tricks im Einsatz

Neben Interviews mit zeitgenössischen Wegbegleitern und einigen sehr witzigen Kommentaren von Dylan selbst wird der mutmaßliche Filmemacher „Stefan van Dorp“ eingebaut, der die Liveaufnahmen angeblich gemacht hat. „Ich kann mich an nichts von Rolling Thunder erinnern“, sagt Dylan an einer Stelle. „Es ist so lange her, dass ich nicht einmal geboren war.“ Scorsese zelebriert Dylans Verwandlungskunst. Realität und Fiktion verschwimmen. Jim Gianopulos, heute Chef von Paramount, war damals angeblich Promoter. Und dann kommt noch ein Politiker vor – Michael Murphy als Jack Tanner aus Robert Altmans Serie „Tanner ’88“. Roger McGuinn und T-Bone Burnett treten auf, der Dichter Allen Ginsberg als tanzender Schamane und Dylan-Jünger.

Dass Scorsese hier mit erzählerischen Tricks arbeitet, wird schon im Vorspann deutlich – mit einem Clip aus Georges Méliès‘ Kurzfilm „The Vanishing Lady“ von 1896, in dem ein Zauberer eine Frau unter einem magischen Tuch verschwinden lässt. „Im Leben geht es darum, sich selbst zu erschaffen“, sagt Dylan, der möglicherweise einige Wahrheiten erzählt. Es ist eine weitere Manifestation seiner Selbsterfindung.

Rundschau abonnieren