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KraftaktZwei Verlage bringen Georges Simenons Gesamtwerk heraus

Lesezeit 4 Minuten
Simenon

Maigret-Erfinder: Der belgische Schriftsteller Georges Simenon.

Ein Tropfen Blut fällt aufs zerwühlte Laken – nicht weiter schlimm, nur ein Liebesbiss in die Lippe. Schließlich ist „Das blaue Zimmer“ für Tony und Andrée Schauplatz ihrer außerehelichen Leidenschaft. Doch aus dem Spiel wird tödlicher Ernst, und irgendwann steht Tony vor Gericht.

Die kleinen Fluchten aus dem bürgerlichen Mief werden in den Romanen von Georges Simenon (1903-1989) meist zu Höllenfahrten. Und wie schon der stoische Pfeifenraucher Maigret stets in menschliche Abgründe blickt, so gilt dies erst recht für die Figuren jener „romans durs“ (harten Romane), in denen der Pariser Kommissar pausiert.

Viele Neuübersetzungen

Das monumentale Gesamtwerk beider Gruppen wird nun in einem verlegerischen Kraftakt (siehe Info auf der nächsten Seite) vielfach in Neuübersetzungen herausgegeben. Außerdem liefert die Autobiografie „Intime Memoiren“ (Hoffmann und Campe, 1200 S., 58 Euro) gewissermaßen den Generalschlüssel zum Verständnis jenes Mannes, der fieberhafte Produktivität mit einem uferlosen Sexualleben verband und sich in einer Luxussuite am Genfer See genauso wohlfühlte wie in Pariser Rotlichtbars.

Glück blitzt ist in den Romanen des geborenen Lüttichers immer nur kurz auf, dann beginnt der Mahlstrom der Malaise. Die Tänzerin Célita in „Striptease“ (Hoffmann und Campe, 208 S., 22,90 Euro) träumt von einem Leben mit ihrem Chef Léon, doch der Clubbesitzer verfällt den Reizen ihrer jungen Konkurrentin Maud. So wird der Animierclub zur Bühne des ewigen Dramas um Begierde und Eifersucht, Liebe und Hass.

Hier wie in fast allen Romanen des Belgiers geschehen die schrecklichen Dinge mit einer seltsamen Zwangsläufigkeit, die Fragen nach Schuld und Unschuld zweitrangig macht. Der Autor weiß zu viel über Menschen, um sich aufs hohe Moralross zu setzen. Kein Wunder, dass Albert Camus sagte, erst die Simenon-Lektüre habe ihm seinen Roman „Der Fremde“ ermöglicht. Und dann diese Sprache: klarste Prosa ohne literarische Schlacken, ohne gönnerhafte Schöpferallwissenheit, vor allem ohne Sentimentalität. Man hat stets das Gefühl, das Geschehen erzählte sich selbst.

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Der Leser riecht die Meerluft der Côte d'Azur, den Frühling in Paris, aber spürt auch das Bleierne jenes nordfranzösischen Kaffs, in dem die Lastkähne „geduckt im Wasser lagen, wie große Tiere“. In dieses Milieu lässt der Autor 1938 in „Chez Krull“ (Kampa, 254 S., 22,90 Euro) den deutschen Hallodri Hans platzen. Kein Wunder, dass der seinen ohnehin misstrauisch beäugten Verwandten das Außenseiterleben noch schwerer macht. Erst bleibt nur die Ladenglocke bei den Krulls stumm, dann fliegen Steine, und schließlich bangen die „Saudeutschen“ um ihr Leben.

Georges Simenon weiß genau, wie das Böse in die Welt kommt. Und er zeigt es nirgends grimmiger als in seinem Meisterwerk „Der Schnee war schmutzig“ (Kampa, 240 S., 22,90 Euro), einer schonungslosen Geschichte von Mord und geschändeter Liebe.

Lieblingspfeife vermisst

Die Maigret-Romane gelten etwas zu Unrecht als harmloser. Gewiss, die Novelle „Maigrets Pfeife“ (Kampa, 88 S., 9,90 Euro) beginnt recht gemütlich mit der Suche nach dem verschwundenen Lieblingsschmauchgerät, die dann aber auch ins Milieu der Schwerkriminellen führt. „Wie ein Schwamm“, so heißt es über den Kommissar, „saugte er alles auf, was seine Umgebung absonderte.“ Dies trifft auch auf seinen geistigen Vater zu.

Eine Perle der aktuellen Neuausgaben ist zweifellos „Maigret und die junge Tote“ (Kampa, 208 S., 14,90 Euro). Die Titelfigur, die man im zerschlissenen Abendkleid am Montmartre findet, ist eins jener Provinzmädchen, das von den Lichtern der Großstadt angelockt wird. Wenn diese Louise eigentlich nur stirbt, weil sie das Silberkettchen ihrer Tasche um die Hand gewickelt hat, ist man mitten im dunklen Kosmos von Georges Simenon angekommen.

So todtraurig es dort auch sein mag, geht es doch immer um die Gier nach Leben. Und Vorsicht: Wer einmal von dieser Prosadroge genascht hat, kommt kaum wieder davon los.

Mehr als 200 Titel

In zwei Verlagen erscheinen alle 117 Romane ohne Maigret, pro Jahr ca. 20 Titel. Die Simenon-Rechte, zuerst bei KiWi, später bei Diogenes, wurden von David Kampa (Foto) erworben. Der nach ihm benannte Verlag teilt sich die Edition mit Hoffmann und Campe, Kampas Ex-Arbeitgeber.

Bis Herbst 2020 veröffentlicht der Kampa-Verlag exklusiv alle 75 Maigret-Romane sowie 28 Erzählungen um den Pariser Kommissar, pro Halbjahr ca. 15 Bände zu je 14,90 Euro. Der Audio Verlag bringt parallel alle Maigrets (Sprecher: Walter Kreye) und eine Auswahl der großen Romane heraus. (EB)

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