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Kunst der TäuschungHyperrealismus verzaubert im Lütticher Museum „La Boverie“

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Tochter als Modell: John De Andreas „Girl with the red drape“ als realistische Skulptur.

  • Der Kunsttempel ist mit 42 Arbeiten umfangreichste Station der Wanderausstellung.
  • In Rotterdam hatte sie in vier Monaten schon 220 000 Besucher angezogen.
  • Die Kreationen zeigen durch moderne Technik Menschenbilder, die gleichermaßen verstören wie faszinieren.

Lüttich – Die beiden Arbeiter in ihrer fleckigen Kleidung sehen aus, als würden sie nur eine kurze Pause einlegen. Täuschend echt bis ins kleinste Detail hat Duane Hanson sie 1993 nachgebildet. Auf den ersten Blick könnte man sie für lebendige Menschen halten, wären da nicht die selbstvergessene Haltung und der irritierende weltabgewandte Blick, der sich auch beim „Cowboy mit Heuballen“ wiederfindet.

Hansons populäre Protagonisten des US-Alltags sind jetzt mit den Werken von 30 weiteren internationalen Künstlern in der Ausstellung „Hyperrealism Sculpture. Ceci n‘ est pas un corps“ im Museum „La Boverie“ zu sehen. Der Kunsttempel ist die letzte und mit 42 Arbeiten umfangreichste Station einer Wanderausstellung, die in Rotterdam in vier Monaten 220 000 Besucher angezogen hat.

Zwischen Verstörung und Faszination

Ausgehend von den Pionieren der hyperrealistischen Skulptur führt die Schau vor, wie nachfolgende Künstlergenerationen mit neuen Sichtweisen und moderner Technik Menschenbilder kreieren, die gleichermaßen verstören wie faszinieren.

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John De Andrea hat die Textur der Haut bei dem „Girl with the red drape“, für das seine Tochter Modell stand, so naturgetreu nachgebildet, dass man in Versuchung gerät, die Skulptur zu berühren. Der Befriedigung dieses Bedürfnisses dient ein kleiner Silikonblock am Anfang des Parcours, der einem ein Gefühl für die Haptik des Materials vermittelt.

Gegenteile ziehen sich an?

In sechs Abteilungen ist die Ausstellung gegliedert. Man wird mit Geburt und Tod konfrontiert, trifft auf Anziehendes und Abstoßendes, Irritierendes und Vertrautes.

Gleich in dreifacher Ausführung präsentiert Paul McCarthy eine aufrecht sitzende nackte junge Frau mit gespreizten Beinen. Die Intimität dieser Situation lässt einen unwillkürlich zurückweichen, fühlt man sich beim Eintritt in das Kabinett doch als unerwünschter Voyeur. Abstrakter wirken da die monochromen Skulpturen von George Segal, der mit ikonischen Werken wie dem „Blue Girl on a Parkbench“ präsent ist.

Provokation durch Körperteile

Manche Künstler beschränken sich auf Körperteile. Pop-Art-Veteran Allen Jones formte 1972 für „Secretary“ drei Paar kokett übereinander geschlagene schlanke Beine und zum Gruß ausgestreckte Hände als Prototyp der perfekten, allzeit für alle Dienste verfügbaren Bürokraft. Der Provokateur Maurizio Cattelan ist mit zum Hitlergruß erhobenen Männerarmen vertreten. „Ave Maria“ ist der ironische Titel des Werks von 2007. Carole A. Feuermans großes Thema sind Schwimmerinnen, die sie mit Hilfe zahlreicher Assistenten aus Epoxydharz und Silikon baut und mit glitzernden Wassertropfen auf dem Oberkörper versieht – ganz so, als habe sie den Moment eingefangen, in dem ihr Modell dem Meer entstiegen ist. Wie Feuerman hat auch Marc Sijan eine Zeit lang im Studio von Altmeister Duane Hanson gearbeitet, den er an Perfektion bei der Darstellung einer obdachlosen Frau noch deutlich übertrifft. Füße, Hände, Füße, Adern und Falten erscheinen hier in einem geradezu beängstigenden Realismus.

Den Gipfel an Drastik stellt das fünf Meter lange neugeborene Baby von Ron Mueck dar, an dem noch die Nabelschnur baumelt. Schwer auszuhalten ist auch der Blick auf den in Verwesung begriffenen kopflosen Körper von Berlinde de Bruyckere.

Der technische Fortschritt bietet dem Hyperrealismus neue Chancen. Das zeigt sich im Finale der Ausstellung anhand der Werke von Mathilde ter Heijne und Santissimi. Den fulminanten Schlusspunkt setzt das Schweizer Künstler-Duo Glaser/Kunz mit „Jonathan“, einem an Armen und Beinen bandagierten, im Rollstuhl sitzenden Kunstsammler, dessen Gesichtszüge mittels einer Projektion per Beamer animiert werden. Staunend beobachtet man ihn dabei, wie er in Deutsch, Englisch und Französisch in sein Handy spricht, Grimassen schneidet, mit den Augen rollt und lacht. „Jonathan“ hat das Zeug zum Publikumsliebling – und die Ausstellung das Potenzial zum Besuchermagneten.

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