Lukas RickDer Säuglings-Sanitäter

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60 Sekunden. Die Zeit in Lukas Ricks Kopf läuft, sobald ihn der Alarm um 2.47 Uhr aus dem Tiefschlaf reißt. Rick, 1,80 Meter groß, drahtig, sportlich, springt aus dem Bett. Streift die weiße Arbeitskluft über. Die schweren Stiefel mit Stahlkappen haben einen Reißverschluss. Schnürsenkel dauern zu lange. Die Brille. Dann ein Sprint zum Rettungswagen. Ratternd öffnet sich das Tor der Wagenhalle. Rick tritt das Gaspedal durch.

60 Sekunden. Mehr Zeit darf Rick sich nicht lassen, bis er hinter dem Steuer sitzt. Wenn der Alarm schlägt, wird er in einem nahe gelegenen Krankenhaus gebraucht. Rick, 25, ist Rettungssanitäter bei der Johanniter-Unfall-Hilfe in Bonn. Er hilft den winzigsten aller Patienten: Neugeborenen, bei denen während der Geburt oder in den ersten Lebenstagen unerwartete Komplikationen aufgetreten sind.

Nach Angaben des deutschen Berufsverbands der Frauenärzte steigt die Zahl der Risikogeburten in Deutschland kontinuierlich. Das hat mehrere Gründe: Die Mütter werden immer älter und sind häufiger übergewichtig. Durch künstliche Befruchtungen kommen außerdem mehr Zwillinge, Drillinge und Vierlinge auf die Welt - oft viel zu früh. Dann müssen Sanitäter wie Lukas Rick die Babys möglichst schnell zu Spezialisten bringen.

Es ist Mittwochmorgen, 8.30 Uhr. Rick sitzt in seiner Wache an der Siegburger Straße in Beuel, einem Stadtteil von Bonn. Neben ihm auf der Holzbank sind drei Kollegen in ihre Zeitungen vertieft. Sie fahren die Krankentransporte für Erwachsene. Die vier Johanniter sind im Zivildienst ausgebildet worden. Ricks Kollegen sind nur acht Stunden im Einsatz. Sein Dienst geht 24 Stunden lang - von sieben Uhr morgens bis zum nächsten Morgen. "Dafür habe ich manchmal eine Schicht lang gar keinen Einsatz, während die Kollegen im Stundentakt ausrücken."

Den Weg zur Kinderklinik ist er schon hundertmal gefahren

Das Warten überbrückt Rick mit Lehrbüchern. Er studiert Betriebswirtschaftslehre an der Fernuniversität Heidelberg. Sanitäter ist er nur im Nebenberuf. Aber sein Job hat im Studium Spuren hinterlassen. Das Thema seiner Bachelor-Arbeit: Der Einsatz von Management-Instrumenten im Rettungsdienst der Johanniter-Unfall-Hilfe Deutschland. Auch in der Freizeit lässt der Rettungsdienst Rick nicht immer los. Wenn die Gedanken nach dramatischen Einsätzen nicht aufhören zu kreisen, zieht Rick Turnschuhe an und joggt. Eine Stunde. Manchmal länger. "Beim Laufen kriege ich den Kopf frei", sagt Rick und reibt die Brillengläser mit einem Zipfel seines weißen Polohemds sauber.

Um 10.30 Uhr piept der Alarmmelder an seinem Gürtel. Ein Einsatz im Krankenhaus Troisdorf. Lukas Rick weiß nicht, was ihn am Einsatzort erwartet. Sein Alarm verrät ihm nur, wo er hin soll, und ob Eile angesagt ist. Wenn es schnell gehen muss, lässt er das Blaulicht kreisen und das Martinshorn heulen.

Liegen winzige Patienten hinten bei ihm im Wagen, muss Rick manchmal Schritttempo fahren. Bei Frühchen können schon kleine Erschütterungen Hirnschäden auslösen. Deshalb hat sein Rettungswagen eine spezielle Federung. Selbst im Schritttempo schaltet der Sanitäter manchmal die Sirene und das Blaulicht ein. Dann hat er "Sonderwegerecht" und darf rote Ampeln ignorieren. Das spart wertvolle Zeit.

Rick fährt nicht direkt nach Troisdorf. Er braust zunächst zur Asklepios-Kinderklinik nach Sankt Augustin. Von dort nimmt er eine Notärztin und eine Krankenschwester mit. Auf der Geburtsstation des Troisdorfer Krankenhauses wartet eine aufgelöste Frau. Sie wiegt ein winziges Baby in ihren Armen. Ihr erstes Kind. Eine Tochter. Zilan, vier Tage alt, macht komische Geräusche beim Atmen. Es klingt nach Schnarchen. Zilan ist aber hellwach. Atemprobleme zählten zu den klassischen Startschwierigkeiten von Babys, erklärt Rick.

Die Notärztin geht mit dem Baby im Arm in einen der hinteren Räume der Geburtsstation. Zilan muss Blut abgenommen werden, auch die Herztöne hört die Notärztin ab. Die Mutter steht mit Rick draußen vor dem Behandlungsraum. Sie hat die Arme um ihren Körper geschlungen. Die Türkin spricht kein Deutsch. Ihre Schwester, die dolmetschen kann, ist auf dem Weg in die Klinik.

Psychologisches Feingefühl ist wichtig für einen Rettungssanitäter. Rick tröstet die verzweifelten, manchmal panischen Eltern, während die Notärzte ihre Babys behandeln. Setzt sich zu den Müttern, noch während sie nach einem Kaiserschnitt zugenäht werden und redet. Er müsste das nicht. Er könnte auch mit den Krankenschwestern im Aufenthaltsraum tratschen. Aber Rick tröstet. "Für Eltern sind das doch Extremsituationen." Ein Vater habe mal einen Türrahmen kurz und klein geschlagen. Manchmal kommt für die Babys jede Hilfe zu spät. "Zum Glück passiert das selten."

Nachdem die Ärztin mit dem Stethoskop das Herz des Säuglings abgehört hat, wischt sie den Po des Mädchens sauber und wickelt es. Zilan strampelt heftig, während kleine Elektroden mit runden Pflastern auf ihren Brustkorb gedrückt werden. Und beginnt zu weinen. In den kleinen Betten ringsum hebt ebenfalls Geschrei ein. "Das ist typisch. Sobald ein Baby schreit, fangen alle an", seufzt Rick. Eine Krankenschwester schiebt Zilan einen Schnuller in den Mund. Das Baby verstummt sofort. "Jungs sind viel wehleidiger", sagt der Sanitäter. Er legt den Kopf schief und mustert das Mädchen zärtlich: "Du kleines Mäuschen."

Die Notärztin beschließt nach der Untersuchung: Zilan muss auf die Intensivstation der Kinderklinik Sankt Augustin transportiert werden. Als der Brutkasten mit Zilan im Rettungswagen fest verzurrt ist, schlägt Lukas Rick die Tür zu, grinst jungenhaft und reckt den Daumen in die Luft: "Alles tippitoppi." Den Weg zur Kinderklinik ist er schon hundertmal gefahren.

Auf der Intensivstation empfängt Chefarzt Michael Ehlen die kleine Zilan. Er gibt Anweisung, ein Röntgenbild zu machen. "Wir müssen klären, ob eine bakterielle Infektion vorliegt, um die Ursache für die Atemprobleme herauszufinden", sagt er. Es ist auffällig ruhig auf seiner Intensivstation. Die Mitarbeiter laufen in Gummischuhen über die Flure. Rund 500 Säuglinge werden hier pro Jahr betreut. In wenigen Tagen wird direkt neben der Intensivstation eine Geburtsstation mit drei Kreißsälen eröffnet. Bislang hatte die Klinik noch keine eigene. Wenn auf der neuen Station ein krankes Baby auf die Welt kommt, ist die Intensivstation nur wenige Meter weit entfernt. Werden Lukas Rick und seine Kollegen künftig weniger zu tun haben? Der Chefarzt schüttelt den Kopf. "Es wird immer unvorhersehbare Geburtskomplikationen in anderen Krankenhäusern in der Region geben."

In einem Zimmer wartet der zwei Tage alte Maxim auf seine Behandlung. Auch er wurde aus dem Troisdorfer Krankenhaus nach Sankt Augustin gebracht. Maxim kam in der 34. Schwangerschaftswoche auf die Welt - fünf Wochen vor seinem Geburtstermin. Mitten in der Nacht auf dem Weg zur Toilette platzte der Mutter die Fruchtblase. "Ich hatte die Babysachen noch gar nicht gewaschen", sagt sie. "Ich dachte ja, wir hätten noch ein wenig Zeit." Bevor sie sich auf den Weg ins Krankenhaus machte, stellte sie ihre Waschmaschine an.

Die Kleidung wird ihm erst in einigen Wochen passen. Maxim wog bei der Geburt nur 2340 Gramm und war 47 Zentimeter groß. Fest hält die Mutter ihren Sohn an sich gedrückt. Gut die Hälfte seines winzigen Gesichts wird von einer durchsichtigen Beatmungsmaske verdeckt, von der ein Schlauch in eine Maschine führt. Weil seine Lungen noch unreif sind, hat er Atemschwierigkeiten. Maxim wird noch zwei bis drei Tage an die Maschine angeschlossen bleiben und erst nach drei bis vier Wochen ganz aus dem Krankenhaus entlassen werden.

Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hat kürzlich beschlossen, Mütter, die Frühchen unter 1500 Gramm erwarten, künftig nur noch in wenigen spezialisierten Kliniken entbinden zu lassen. Die Frühchen müssen dann nicht erst von Sanitätern zu Spezialisten gebracht werden. Das soll Leben retten. Der Beschluss spaltet die Ärztezunft. Michael Ehlen gehört zu den Kritikern, obwohl seine Station von dem Beschluss profitiert. "Das flächendeckende Spezialistentum ist dadurch nicht mehr gewährleistet", sagt er. Außerdem hätten werdende Eltern, die auf dem Land leben, dann oft sehr weite Anfahrtswege.

Um 12.38 Uhr sitzt Lukas Rick wieder auf der Wache. Warten. Der restliche Tag bleibt ruhig. Die Nacht nicht. Der zweite Alarm schlägt um 23.38 Uhr. Der dritte Alarm geht um 2.47 Uhr los. Erst knapp vier Stunden später, um 6.30 Uhr, kehrt Rick in die Rettungswache zurück. Er setzt Kaffee auf. Für sich und für seinen Kollegen, der ihn um sieben Uhr ablösen wird. Als die volle Stunde schlägt, radelt Rick nach Hause in seine Junggesellen-Wohnung. Der Sanitäter ist Single. Will er selbst einmal Kinder haben? Rick zögert. "Ich gehe das Thema schon bewusster an als andere, weil ich sehe, was alles schiefgehen kann bei der Geburt." Trotzdem, ja. Er möchte Kinder haben. Doch in dieser Sache wird Lukas Rick nicht hetzen. Er wird sich Zeit lassen.

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