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„Ich bin oft ziemlich zerrissen“Sänger Joris über Glücksmomente und den Tod

Lesezeit 9 Minuten
Der fast-29-jährige Joris wuchs im westfälischen Vlotho auf und studierte an der Popakademie in Mannheim.

Der fast-29-jährige Joris wuchs im westfälischen Vlotho auf und studierte an der Popakademie in Mannheim.

Joris, auf „Schrei es raus“ gibt es passend zum Titel viele laute, forsche Songs. „Kommt schon gut“, „Du“ oder „Das sind wir“ klingen nach Festival und Stadion. Wolltest du auf deinem zweiten Album alles eine Nummer größer haben?

Festivals sind das Geilste überhaupt, und natürlich beflügelt es einen, da oben vor 50 000 Leuten zu stehen. Was die Produktion angeht, haben wir zum Beispiel bei „Das sind wir“ echt mit Kanonen auf Spatzen geschossen, mit Lautstärke, Geigen, Trompeten und Chören. Und auf einmal ist das Lied zu Ende, aus. Solche Kontraste liebe ich.

Ist „Das sind wir“ eine Hymne auf uns alle?

Nein, das ist keine Hymne. Eher ein Kaleidoskop. Mit einem Kaleidoskop kannst du dasselbe Objekt in verschiedenen Farben sehen, und je nach Blickwinkel erkennst du unterschiedliche Muster. Ich denke, so ist das Leben insgesamt. Alles gehört zusammen. Wir sind immer zugleich Gewinner und Verlierer, fühlen große Freude und tiefe Traurigkeit. Sich dessen bewusst zu werden, macht das Leben für mich viel erträglicher. Du spielst vor zig Tausenden von Leuten, dann steigst du in den Bus, und es ist still. Und du weißt oder hoffst, dass der nächste Tag wieder schön wird.

Ist „Du“ ein Liebeslied an das Leben an sich?

Ja, das stimmt. Das Stück ist live, sehr direkt produziert und es dreht sich wieder darum, wie viele Dinge gleichzeitig passieren. In meinem Leben gibt es große Partys und ganz viel Liebe, und auf einmal bin ich im Sommer 2016 in Ansbach bei einem Festival, soll dort auftreten, und plötzlich sprengt sich jemand in die Luft. Und du hast Angst, Panik statt Glück in den Augen, das Leben ist von einer Sekunde auf die nächste ganz anders. Der Song „In all den Augen“ behandelt ein ähnliches Thema. Du steigst aus der S-Bahn, kriegst mit, dass es irgendwo hundert Tote gibt und zur gleichen Zeit kommt jemand lächelnd auf dich zu. Ich merke bei all dem, wie die Welt immer schneller wird und wie nah das alles beieinander liegt.

Ist das so?

Ja. Ich glaube, Glück kann für einen selber nicht stattfinden, ohne dass man auch Unglück kennt. Wenn du mit diesem Kreislauf im Reinen bist, kannst du das Glück auch mehr genießen. Ich habe in den letzten drei Jahren sehr viel Glück erlebt. Das kannte ich so nicht, ich hatte mich irgendwie daran gewöhnt, immer knapp das Nachsehen zu haben, immer quasi Zweiter zu werden. Und auf einmal klappte alles, gingen viele Türen auf. Mein erstes Album war sehr erfolgreich. Mich erdet, dass ich weiß, wie viel Glück ich hatte.

Also hast du den Rummel um deine Person locker verkraftet?

Wenn du mich fragst, dann würde ich sagen, ich bin noch derselbe Mensch wie früher. Klar, du wirst überall angesprochen und sehnst dich irgendwann nach Ruhe. Ich habe viele neue Leute kennengelernt. Trotzdem habe ich noch meine alten Freunde und weiß, wo ich herkomme.

„In all den Augen“ thematisierst du den Tod. Mutig, oder?

Findest du? Um den Tod kommen wir alle nicht herum. Keiner von uns kommt lebend aus dieser Sache raus. In „Signal“ sage ich ja auch, dass das Leben an irgendeinem Tag enden wird. Aber an allen anderen nicht. Ich bin der Überzeugung, dass wir uns mit dem Tod befassen müssen, damit wir wissen, wie wertvoll das Leben ist. Ich reise zum Beispiel lieber spontan irgendwo hin, als eine Woche auf der Couch zu liegen.

Was stimmt mit deiner Couch nicht?

Die Couch ist super, sehr bequem. Von IKEA, aus zweiter Hand.

Denkst du, dass sich viele Leute in deinem Alter solche tiefgehenden Gedanken machen?

In meinem Freundeskreis zumindest schon. In meiner Generation ist es ein Riesenthema, was in der Welt los ist. Uns lässt es nicht kalt, dass wieder viel engstirniger gedacht wird und man wieder Grenzen hochzieht. Dass der Protektionismus wieder in Mode kommt. Dass wir Gefahr laufen, Fehler zu wiederholen, die lange undenkbar schienen. Dass wir die Menschenrechte verlieren. Wenn Zeitungen Pro-und-Kontra-Listen darüber erstellen, ob man Menschen in Seenot retten soll, dann stimmt etwas ganz Grundlegendes nicht mehr. Deshalb ist es wichtiger denn je, miteinander zu reden.

In „Signal“ befasst du dich auch mit den sozialen Medien.

Das Lied ist eines von mehreren, die Mut geben und die Angst klein halten sollen. Die Lieder auf „Schrei es raus“ haben Haltung, das ist mir sehr wichtig. Heutzutage sollte man eine Meinung haben und seine Meinung auch zeigen, und das nicht nur im persönlichen Gespräch. Durch die sozialen Netzwerke verlieren wir den Kontakt zu denen, die anders denken als wir. Aber wir müssen wieder mehr in einen Diskurs kommen. Es reicht nicht mehr, leise zu sein und in der Masse mitzuschwimmen. Bestimmte Dinge müssen wir rausschreien.

Wofür nutzt du die sozialen Medien?

Für das Übliche, aber insbesondere, um Kontakt zu meinen alten Freunden von der High School zu halten.

Welche High School?

Mit 17 war ich ein Jahr in Texas zum Schüleraustausch. Das war eine ganz wichtige Erfahrung für mich. Ich habe dort die Folkszene kennengelernt, nachmittags habe ich selber gespielt, und abends bin ich oft auf Konzerte gegangen. Vorher in Vlotho war ich auch in Bands, aber immer als Schlagzeuger. In Amerika habe ich mich zum ersten Mal getraut, meine eigenen Songs zu spielen.

Wo genau bist du denn da gewesen?

In Abilene, einem Ort 300 Kilometer westlich von Dallas. In der Schule war ich plötzlich nicht mehr der Quatschmacher wie in Deutschland. Sondern konnte jemand ganz Neues sein. Und das galt irgendwie für mein ganzes Leben. Ich habe dort Leute kennengelernt, die genauso Musik liebend waren wie ich.

Zurück zu Hause stand dann fest, dass du Musiker werden willst?

Nee, das habe ich lange nicht gedacht. Ich baute mir immerhin daheim ein kleines Studio und begann, mich sehr für Musiktechnik zu interessieren. Während die anderen fürs Abi lernten, fuhrwerkte ich bei uns im Keller rum. Meine Mutter fand dann den Studiengang „Tontechnik“ in Berlin. Nach zwei Semestern merkte ich, dass ich Musik machen will.

Sind deine Eltern zufrieden mit deiner Berufswahl?

Ja, die Familie ist glücklich. Die wissen, dass mir Musik unfassbar viel Spaß macht.

Du singst in dem leisen Lied „Glück auf“: „Auch wenn es dich zerreißt und es lange dunkel bleibt, werde ich an deiner Seite sein.“ Was war die Inspiration für diesen Text?

Eine sehr persönliche Geschichte. Während der Pause hatte ich auch Gelegenheit, für Menschen dazu sein, die Hilfe brauchten. In „Glück auf“ drücke ich aus, dass ich an der Seite dieser Menschen bleiben werde, bis es wieder aufwärts geht und heller wird. Diesen Gedanken, tief im Dunkeln zu sitzen, den kennen manche intensiver, manche weniger, ich selbst ein bisschen.

Im ebenfalls ruhigen „Feuerwesen“ sprichst du über den Teufel, den du in dir hast. Kann man sich gar nicht vorstellen.

Doch, doch, ich bin zuweilen sehr extrovertiert. „Feuerwesen“ entstand auf sehr schöne Art. Ich wollte mit meinem Kumpel Jonathan zusammen fürs Album schreiben, wir trafen uns in Spanien, sind ans Meer gefahren. Eines Abends saßen wir noch spät am Kamin, es war Winter, und mir wurde auf einmal bewusst, wie unglaublich ruhig ich am Feuer bin. Das war als Kind schon so. Ich gucke ins Feuer, und für einen kurzen Moment ist die Welt in Ordnung, egal, in welcher Situation man sonst gerade steckt.

Du wirkst ziemlich gelassen. Täuscht das?

Ja. Ich bin oft ziemlich zerrissen. Die Gedanken und Sorgen rattern normalerweise durch meinen Kopf. Ich liebe Harmonie, aber sie muss bei mir immer wieder gebrochen werden.

Über diese Zerrissenheit ging es schon in deinem ersten Hit „Herz über Kopf“. Du sagst darin: „Immer, wenn es Zeit wird zu gehen, verpass„ ich den Moment und bleibe stehen. Das Herz sagt „Bleib!“, der Kopf schreit „Geh!“ Woher kommt dieses Gefühl?

Die Kontraste in meinem Leben sind ein Fluch, der mich seit meiner Kindheit begleitet. Meine Eltern trennten sich, als ich sechs war. Ich wuchs bei meinem beruflich sehr eingespannten Vater auf, dementsprechend musste ich öfter alleine klarkommen. Ich habe in meinem Leben viele Sorten von Beziehungen kennengelernt, harmonische und nicht so harmonische. Ich glaube, diese Zerrissenheit wird mich ein Leben lang begleiten.

Ist „In Zeitlupe“ ein Song über Liebeszerrissenheit? Du scheinst die andere Person nicht gehen lassen aber auch nicht halten zu können.

Ja. Ich habe in meinem Leben schon viele Fehler gemacht und manche Menschen enttäuscht. Manchmal bin ich andere Wege gegangen, als ich mir vorher vorgestellt hätte, Ich bin jedoch auch ein Typ, der schwer loslassen kann. Ich begebe mich gern aktiv in Tagträume, um an Vergangenem festzuhalten. „In Zeitlupe“ ist so ein Moment, wo man ein letztes Mal in schönster Illusion beisammen ist.

Trauerst du vielen Beziehungen hinter her?

Vielen nicht. Der einen oder anderen.

„In Zeitlupe“ ist das einzige Liebeslied auf der Platte. Ist die romantische Erzählung nicht so dein Ding?

Ich war jetzt sehr viel unterwegs, da drängte sich nichts auf. Und jedes Thema, das ich beleuchten wollte, habe ich beleuchtet. Ich denke, das Leben hat mehr zu bieten als Liebeslieder.

Um für „Schrei es raus“ zu schreiben bist du einen Monat alleine auf Elba in Italien gewesen. Wie war das?

Sehr still und sehr schön. Ich war im Januar dort, es war arschkalt und insgesamt herrschte so eine Geisteratmosphäre. Der Strand war meist total verlassen, das war toll zum Gedankensammeln und zum Laufen.

Hast du den ganzen Monat alleine verbracht?

Ich habe ein paar Leute kennengelernt und bin mit denen ab und zu feiern gegangen. Aber meistens war ich allein und musste sehen, wie ich mit mir selber klarkam. Abends, wenn ich mir was kochte, stellte ich manchmal fest, dass ich den ganzen Tag kein Wort gesagt hatte.

Und danach warst du in Spanien.

Das komplette Gegenteil. In Spanien war ich wirklich, um zusammen mit anderen Songs zu schreiben. Wir haben auf einem Matratzenlager gepennt, gegrillt, es war ein Kommen und Gehen von Leuten. Insgesamt bin ich vier Monate dortgeblieben, und ab Spätsommer 2017 war ich dann in Rotenburg an der Fulda, in einem beschaulichen Tonstudio der alten Garde, vollgestopft mit alten Instrumenten.

Lebst du eigentlich noch in Mannheim?

Theoretisch ja. Aber meistens bin ich irgendwo anders. Meinem Mitbewohner geht es genauso. Keiner von uns beiden ist mehr so richtig daheim.

Und kannst du jetzt besser Italienisch oder besser Spanisch?

Die beiden Sprachen sind ähnlich, aber doch anders. Ich bin jetzt Spezialist von so einer Mischsprache (lacht). Hört sich super aber niemand versteht es so richtig.

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