28 Jahre, 2 Monate und 27 TageWie die Mauer einst Berlin trennte

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7000 leuchtende Ballons zeichnen zum 25. Jahrestag des Mauerfalls 2014 den Verlauf der einstigen Grenze nach.

7000 leuchtende Ballons zeichnen zum 25. Jahrestag des Mauerfalls 2014 den Verlauf der einstigen Grenze nach.

Viele Ehepaare werden sich noch genau an den Morgen nach ihrer Hochzeitsnacht erinnern. Für Klaus und Josefine Schmidt hat der Morgen danach eine ganz besondere Bedeutung, denn zum Frühstück kam ein guter Freund mit einer Hiobsbotschaft. „Er sagte: Ihr kommt nicht mehr nach Berlin zurück, da ist alles abgeriegelt“, erzählt der damals frischgebackene Ehemann, der inzwischen 89 Jahre alt ist.

Am 15. August 1961 hatte der Berliner seine Frau Josefine in deren rheinischer Heimat Uckerath geheiratet, das heute zur Stadt Hennef gehört. In Berlin hatten die beiden zuvor schon ein Haus gekauft. Nun aber war ihre Zukunft unklar. „Es wusste ja keiner, wie es jetzt weiter gehen würde“, sagt Klaus Schmidt. War es doch die richtige Entscheidung, in Berlin leben zu wollen?

Wer die politische Situation in den Tagen und Wochen zuvor verfolgt hatte, konnte ahnen, dass die DDR es irgendwann nicht länger hinnehmen würde, dass immer mehr gut ausgebildete junge Menschen das Land verlassen würden. Ihr Fluchtweg war zumeist die in ganz Berlin verkehrende S-Bahn. Im Mai 1961 flohen knapp 18.000 Menschen, im Juni 19.000, im Juli 30.000 und in der ersten August-Woche allein fast 10.000.

Die Fluchtwilligen schenkten DDR-Staatschef Walter Ulbricht offenbar keinen Glauben, der am 15. Juni gesagt hatte: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten.“ Zudem waren viele von der Rede des neuen US-Präsidenten John F. Kennedy am 25. Juli alarmiert, der sinngemäß erklärt hatte, dass sich Amerika verpflichtet fühle, die Freiheit West-Berlins zu verteidigen. Für viele klang das wie eine Einladung an Walter Ulbricht, in Berlin die Grenze zwischen West und Ost dichtzumachen.

Nach wochenlanger Vorbereitung rückten dann in der Nacht zum 13. August Bauarbeiter und Soldaten an der Sektorengrenze an und rollten Stacheldraht aus. Ein paar Tage später wurde daraus eine Mauer aus Steinen. „Wir haben das damals gar nicht mitbekommen, weil wir uns nicht um Politik gekümmert haben“, sagt Josefine Schmidt, die inzwischen 84 Jahre alt ist. Verständlich: An den Tagen vor der Hochzeit schwebten die beiden im siebten Himmel.

West-Berliner konnten ihre Insel weiter verlassen

Doch bei Freunden und in der Familie war die angespannte Lage in Berlin sehr wohl ein Thema. Josefines Vater Pantaleon vermerkte in seinem Notizbuch, dass er tagelang an einem Magenkatarrh gelitten habe. Dass seine Tochter gerade jetzt nach Berlin ziehen wollte, war dem Vater offenbar auf den Magen geschlagen. „Diese Sorgen haben wir damals gar nicht mitgekriegt. Wahrscheinlich wollten alle uns die Hochzeit nicht verderben“, ist Josefine Schmidt überzeugt.

Doch so sehr sie sich auf ein gemeinsames Leben in Berlin freuten, dennoch trafen sie Vorkehrungen für den Fall, dass es zu brenzlig werden würde. So beantragten sie einen zweiten Wohnsitz in Uckerath.

Fakten zur Mauer

Die zuletzt etwa vier Meter hohe Mauer um West-Berlin umfasste 155 Kilometer. 43 Kilometer davon trennten das Stadtgebiet von Ost- und West-Berlin, 112 Kilometer die DDR von West-Berlin. Die Mauer unterbrach zwölf S- und U-Bahnlinien sowie 193 Straßen.

Es gab acht Grenzübergänge zwischen West- und Ost-Berlin, sechs zwischen der DDR und West-Berlin.

11.500 Soldaten kontrollierten die Grenze rund um West-Berlin. Auf 127 Kilometer Länge wurden Signalzäune errichtet, auf 105 Kilometer Gräben, um ein Durchbrechen mit Autos zu verhindern. 259 Laufanlagen für Hunde gab es. 302 Beobachtungstürme wurden gebaut. Die Sperranlagen hatten zuletzt eine Breite von meist mehr als 100 Metern, der sogenannte Todesstreifen. Viermal wurde die Mauer an manchen Stellen erneuert.

Über 100.000 DDR-Bürger versuchten die Flucht über die 1400 Kilometer lange innerdeutsche Grenze oder die Mauer. Gut 600 kamen ums Leben, mindestens 140 starben laut Gedenkstätte Berliner Mauer an der Grenze in der Stadt, 251 bei oder nach Kontrollen an Grenzübergängen, zumeist an Herzinfarkten. (dpa)

Doch erst einmal wurde die Prophezeiung ihres Freundes vom 16. August nicht wahr. Die Einschränkung der Freiheit betraf nur die Menschen aus Ost-Berlin und der DDR. Die West-Berliner konnten auf Straße, Schiene und in der Luft ihre Insel weiter Richtung Westdeutschland verlassen. Natürlich auch umgekehrt. Und so machten sich Josefine und Klaus Schmidt am 1. September auf den Weg nach Berlin – mitsamt ihrer Hochzeitsgeschenke.

„Die Volkspolizisten staunten nicht schlecht, als wir an der Grenzübergangsstelle Helmstedt/Marienborn so vollgepackt ankamen“, erzählt Josefine Schmidt. Schließlich waren an den Tagen zuvor weit mehr Menschen mit gepackten Koffern in Gegenrichtung unterwegs. „Der Klaus hat den Vopos dann gesagt, ich sei der Nachschub für Berlin“, ergänzt sie noch. Die lustig gemeinte Bemerkung veranlasste die Polizisten aber nicht, die beiden durchzuwinken. „Erst mussten wir eine Dreiviertelstunde auf die Wachablösung warten und dann alle Koffer aus dem Wagen rausnehmen“, erzählt Klaus Schmidt von der Schikane. Zudem hatten die beiden alle Geschenke und Umzugsgüter in Warenbegleitscheinen aufführen müssen. Bis zum Transitabkommen 1972 waren solche Abläufe an der Grenze obligatorisch. „Wir haben immer aufgeatmet, wenn wir die Kontrollen hinter uns hatten, in der DDR war es oft beklemmend“, sagt Josefine Schmidt.

Menschen bei Fluchtversuchen getötet

Gleichwohl wussten die beiden zu schätzen, dass es ihnen in West-Berlin weit besser erging als den Menschen in der DDR. „Wir waren zwar eingemauert, aber wir konnten wenigstens durch die Löcher durch“, sagt Josefine Schmidt. Das sei ihnen vor allem bewusst geworden, wenn Menschen bei Fluchtversuchen getötet wurden. Natürlich erinnern sie sich an den 18-jährigen Peter Fechter, der im August 1962 bei einem Fluchtversuch in der Nähe des Checkpoint Charlie angeschossen wurde, stundenlang schwer verletzt an der Mauer lag und später im Krankenhaus starb.

Welch eine Wohltat war es für die beiden, als sie im Juni 1963 mit 400.000 anderen begeisterten Berlinern vor dem Schöneberger Rathaus der berühmten „Ich-bin-ein-Berliner-Rede“ Kennedys zuhörten. Josefine Schmidt erinnert sich an „ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl der Berliner“.

Todesstreifen machte Fluchtversuche unmöglich

In den 60er und 70er Jahren stabilisierte sich die DDR, die Fluchtbewegung in den Westen war gestoppt, vor allem weil die Mauer inzwischen erhöht worden war und der nahezu undurchdringliche sogenannte Todesstreifen fast alle Fluchtversuche unmöglich gemacht hatte. Wirtschaftsreformen führten zu einem bescheidenen Wachstum und die Familien- und Jugendpolitik, aber auch die zunehmenden Erfolge im Sport sorgten dafür, dass für viele Ostdeutsche die DDR trotz Repressalien zu „ihrem Land“ wurde.

Auch die West-Berliner richteten sich ein. Ins Umland fuhren sie kaum, der bürokratische Aufwand und der Zwangsumtausch schreckten ab. Die Eheleute Schmidt reisten eher zu Verwandten und Freunden über die Transitstraßen ins Rheinland als in die DDR – und hatten kaum Hoffnung, dass sich dort etwas ändern würde. „Wir dachten, die Mauer würde bis zu unserem Lebensende stehen bleiben“, meint Josefine Schmidt.

Doch manchmal kommt es anders als man denkt. Der Wind der Veränderung wehte in den 80er Jahren aus dem Osten, aus Polen, der Sowjetunion, Ungarn, und auch in der DDR wurden die Menschen kritischer und mutiger. Als die Ungarn im Sommer 1989 die Grenzen öffneten, war die Mauer löchrig geworden. Tausende flüchteten über Ungarn und die CSSR, zu Hause kamen Zehntausende zu den Montagsdemonstrationen, bevor SED-Politbüromitglied Günter Schabowski am 9. November durch unklare Formulierungen zum neuen Reisegesetz ungewollt die Mauer öffnete.

Unterwegs mit Hammer und Meißel

„Das war unbeschreiblich, ich kriege jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke“, erzählt Josefine Schmidt. Wie Tausende andere waren sie und ihr Mann an den Tagen danach mit Hammer und Meißel als Mauerspechte unterwegs – und versorgten Familie und Freunde mit Mauerstückchen. „Das war ein so wunderbares Konzert von Klopfgeräuschen“, erinnert sich Klaus Schmidt.

Doch am 10. November hatten die beiden einen weiteren Termin. Sie wollten – wie beim Kennedy-Besuch – vor dem Schöneberger Rathaus Flagge zeigen. Willy Brandt sprach, der frühere Regierende Bürgermeister, auch Walter Momper, der aktuelle, und Bundeskanzler Helmut Kohl. „Hinter uns fingen einige an zu pfeifen“, sagt Josefine Schmidt, „ich fand das eine Unverschämtheit und habe dem Bundeskanzler dann auch geschrieben, dass ich mich für die Berliner geschämt habe.“ Und sie fügt hinzu: „Man kann ja politisch denken, wie man will, aber in so einer wichtigen Zeit für Deutschland, da tut man so etwas nicht.“

Natürlich war die Zeit nach dem 9. November vor allem für die DDR-Bürger eine Zeit der Befreiung. Aber auch viele West-Berliner nutzten die neu gewonnene Möglichkeit, ohne Einschränkungen ihre Umgebung zu erkunden. „Wir haben morgens überlegt, wo wir hin fahren könnten. Unser Motto war: Nischt wie raus“, sagt Klaus Schmidt.

Und heute? 28 Jahre, 2 Monate und 27 Tage hat die Mauer Berlin geteilt. Und wiederum 28 Jahren, 2 Monaten und 27 Tage ist die Grenzöffnung vom 9. November 1989 her. In Berlin gibt es nur noch wenige Orte, an denen das Symbol der deutschen Teilung zu sehen ist. Dennoch wollen viele wissen, wie es damals war. So besuchten im vorigen Jahr 956 000 Menschen allein die Gedenkstätte Berliner Mauer, wie Gesine Beutin von der Stiftung berichtet.

Klaus und Josefine Schmidt freuen sich, dass sich die Geschichte so entwickelt hat. „Nur wenn man die Schikanen und das Eingesperrtsein erlebt hat, kann man ermessen, wie schön die Zeit seit dem Mauerfall ist“, sagt Josefine Schmidt.

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