Angst, Mobbing?Was zu tun ist, wenn Kinder nicht mehr in die Schule wollen

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Unterricht

Symbolbild

Auf den ersten Schultag hatte sich Tim riesig gefreut. Doch seine Euphorie war schnell verflogen. Jeden Abend und jeden Morgen klagte der Sechsjährige über Bauchschmerzen. Nach einigen Monaten kamen Kopfschmerzen und Übelkeit dazu. „Wir haben gemerkt, dass er sich immer mehr zurückzieht und trauriger wird“, sagt seine Mutter Claudia Sunder, die Tim oft schon vor dem Unterrichtsende von der Schule abholen musste.

Die Eltern suchten das Gespräch mit der Klassenlehrerin. „Sie hat sich aber nie richtig Zeit dafür genommen“, sagt Sunder, deren Name ebenso wie der ihres Sohnes geändert ist. Die Grundschule in einer niedersächsischen Kleinstadt war mit der Situation überfordert. Am Ende ging Tim gar nicht mehr zum Unterricht.

Wenn von Schulschwänzern die Rede ist, denken die meisten an Teenager, die lieber im Bett bleiben oder mit Freunden abhängen als Matheformeln zu pauken. Tatsächlich gibt es Schulverweigerer bereits ab der ersten Klasse. Die Gründe für das Fernbleiben sind unterschiedlich und oft komplex. Und immer mehr Kinder sind solche Absentisten, die chronisch der Schule fernbleiben.

Elternwerkstatt

Schulverweigerung erkennen – helfen – vorbeugen

Dienstag, 6. November 2018

19 bis 20.30 Uhr,

studio dumont, Breite Str. 72, 50667 Köln.

Der Eintritt ist frei

Was sind die Gründe für die Schulverweigerung? Ängste oder Unlust, Unter- oder Überforderung, Vernachlässigung oder Verwöhnung? Was hilft?

Darüber informieren und diskutieren Pädagogen und Therapeuten von Apeiros: Emel Altintas, Leiterin des Vereins, und Benedikt Schoening, Standortleiter Köln und Leverkusen

Moderation: Wolfgang Oelsner

Pädagoge und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, und Prof. Dr. Christoph Wewetzer, Leiter der Städtischen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Köln-Holweide

Es gibt zwar kaum verlässliche, repräsentative und auf das gesamte Schulsystem bezogene Zahlen zur Schulverweigerung. Schätzungen zufolge gelten drei Prozent der Schüler jedoch als Vollverweigerer. Das sind 300 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland. Die Tendenz ist steigend. Mehr als zehn Prozent der Schüler fehlen in einem Ausmaß, das eine sinnvolle Beschulung unwahrscheinlich werden lässt. Daneben gibt es eine große Anzahl Kindern und Jugendlichen, die nur „äußerlich“ anwesend sind. Die offiziellen Zahlen der Bundesregierung geben an, dass acht Prozent der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs keinen Abschluss erhalten. Doch woran liegt das? Der Kölner Pädagoge und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Wolfgang Oelsner erklärt einige Ausprägungsformen.

Klassisches Schulverweigern

Betroffen sind oft Kinder, die in schwierigen familiären Verhältnissen aufwachsen. Perspektivlosigkeit, Alkoholismus, Drogensucht oder anderweitige Probleme der Eltern können eine Rolle spielen. Manchmal leben viele Familienmitglieder auf engem Raum oder das Kind muss alleine den Haushalt schmeißen. „Hier müssen Schulsozialarbeiter und das Jugendamt aktiv werden, um eine Lösung und bessere Struktur für das Kind zu finden“, sagt Oelsner.

Verweigern aus Schulangst

Manchmal haben Kinder richtig Angst vor der Schule. Weil sie wegen Überforderung im Stoff nicht mehr mitkommen, unter einem Lehrer leiden oder von ihren Mitschülern gemobbt werden. „Angst ist ein großes, vielschichtiges Thema unter vielen Schülern“, sagt Benedikt Schoening. Er arbeitet beim Verein Apeiros als Leiter der Standorte Köln und Leverkusen. Das Wort „Apeiros“ ist Griechisch und bedeutet in etwa „Das noch Formbare, was aus dem Chaos entsteht.“ Apeiros ist eine Jugendhilfe-Einrichtung, die sich auf Schulabsentisten spezialisiert hat und häufig vom Jugendamt beauftragt wird. Der Verein betreut momentan 45 Familien in Köln, die Anzahl der betroffenen Mädchen und Jungen ist ungefähr gleich hoch. Das jüngste Schulverweigerer-Kind ist 9 Jahre alt.

„Die Symptome hängen oft mit angstbehafteter Reizüberflutung zusammen“, weiß Schoening. „Bei manchen Schülern reichen schon zwei, drei abwertende Sprüche von anderen, dann brechen sie ein.“ Die Kinder werden in dem Verein täglich kurzzeitbeschult, auch in den Ferien. Oft ist es aber ein langer Weg, bis die Kinder überhaupt dazu bereit sind. „Zunächst verlagern unsere Pädagogen ihren Arbeitsplatz ins Kinderzimmer. Manchmal sind 20 bis 30 Hausbesuche nötig, bis sich etwas bewegt. Wir ermitteln die Störfaktoren, beobachten das Familiensystem. Das läuft stark über die Eltern.“ Und diese schämen sich oft sehr, dass sie im Kampf gegen das Schulschwänzen so hilflos sind. Oft schreiben sie ihrem Kind ein Attest nach dem anderen – aus purer Not heraus. Über das Schwänzen weiß oft noch nicht einmal das nahe Umfeld Bescheid.

In einer Studie des Deutschen Jugendinstituts aus dem Jahr 2003 heißt es, dass drei Prozent aller Schulschwänzerkarrieren bereits im Alter von sechs bis acht Jahren beginnen, zwölf Prozent im Alter von neun bis elf. Statistiken dokumentierten das Problem allerdings nur unzureichend – aufgrund der vielen elterlichen Attests.

„Aufgabe der Schule ist es, frühzeitig das Gespräch mit den Eltern zu suchen und Schulpsychologen einzuschalten. Für das Verhalten des Kindes gibt es immer eine Ursache“, sagt der Berliner Schulpsychologe und Lehrer Klaus Seifried. Zum Beispiel Trennungsangst.

Schulphobie aus Trennungsangst

Besonders häufig sind hiervon überbehütete Kinder aus gut situierten Familien betroffen. „Sie tun sich schwer damit, ihr vertrautes Milieu zu verlassen, weil sie in ihren Familien die Prinzen und Prinzessinnen sind“, sagt Kinder-Psychotherapeut Wolfgang Oelsner. Diese Kinder merken mit der Zeit, dass in der Schule ein rauerer Wind weht als zu Hause und ziehen sich zurück. Diese Kinder haben oft Eltern, die früher selbst sehr ängstlich waren und ungute Gefühle dem Schulsystem gegenüber hegen. „Eltern sollten verstehen, dass die Trennungsschritte ihrer Kinder Fortschritte sind und diese begrüßen anstatt sie zu verhindern“, findet Oelsner. Betroffene Kinder leben sonst häufig die Trennungsängste ihrer Eltern aus.

Es gibt Auswege

Um Schüler wieder zurückzugewinnen, ist es wichtig, ihnen Erfolgserlebnisse zu verschaffen, sie vielleicht mit außerschulischen Angeboten zu locken. Im Apeiros-Verein gibt es Kinder, die fünf Jahre keine Schule mehr von innen gesehen haben. „So etwas darf nicht passieren, dann haben alle Beteiligten versagt“, findet Experte Wolfgang Oelsner. Auch langandauernde Einzeltherapien sieht er kritisch: „Wenn nach drei Monaten Therapie immer noch kein Schulbesuch stattgefunden hat, wird das wahrscheinlich auch in den nächsten Monaten nicht passieren“, so seine Erfahrung. Wirkungsvoller könne in solchen Fällen ein kurzzeitiger stationärer Aufenthalt sein. Eltern sollten in jedem Fall mit dem Schreiben falscher Atteste aufhören. Es lasse sich immer etwas tun. Eine ausweglose Situation sei der Absentismus nicht.

Schulverweigerung fällt juristisch in den Bereich der Kindeswohlgefährdung, daher ist das Jugendamt zuständig. Dieses übernimmt in der Regel auch die Kosten von Dienstleistern wie Apeiros. „Schulen selbst können die Probleme oft selbst nicht mehr abdecken“, ist die Erfahrung von Standortleiter Benedikt Schoening. Betroffenen Eltern rät er, sich frühzeitig Hilfe zu holen. „Manchmal reicht auch eine flexible Hilfe, eine Schulwegbegleitung oder ein Elterncoaching. Wir sind nur eine Möglichkeit von vielen.“

Die Eltern haben oft schon verschiedene Maßnahmen durchprobiert und machen sich selbst große Vorwürfe. Auch Familie Sunder brauchte lange, um die Gründe für Tims Verhalten zu finden. „Wir waren gerade erst umgezogen, und dachten anfangs noch, das renkt sich schon ein“, so Tims Mutter. Die Klassenlehrerin machte die Eltern verantwortlich.

Lego gegen Schulbesuch

Die Sunders probierten alles: Sie machten klare Ansagen, gingen mit ihrem Sohn zur Psychologin, drohten mit Sanktionen, am Ende machten sie aus lauter Verzweiflung Bestechungsversuche: Lego gegen Schulbesuch. Manchmal lief es bei Tim so ein paar Wochen gut. Aber eines Tages kam er nach Hause, warf sich weinend auf den Boden und sagte zu seiner Mutter: „Die Schule macht mich krank.“ Er zeigte Anzeichen einer Depression. Ein IQ-Test brachte Klarheit: Der Junge ist hochbegabt. Er war immer schon besonders gut in Mathe, im Unterricht wollte er schnell vorankommen – aber die Lehrerin bremste ihn. Da verlor er schließlich die Lust.

In der dritten Klasse forderte die Schulleitung die Eltern auf, für Tim eine andere Schule zu suchen. Seit dem Sommer geht er in die vierte Klasse einer Schule in der Nachbarstadt. Dort ist das Lehrerkollegium bereit, auf Tims Besonderheiten einzugehen. Er hat einen Assistenten, der ihn in den Unterricht begleitet. „Tim ist wie ausgewechselt“, sagt seine Mutter. Nach drei Jahren ist in der Familie endlich Ruhe eingekehrt.

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