Die Menge macht’sZwei Expertinnen sagen, worauf es bei Kinderernährung ankommt

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Kinder bei der Essenszubereitung.

Es gibt keine „guten“ oder „bösen“ Lebensmittel, sagen Oberärztin  Joaquina Mirza und Diätassistentin  Petra Stommel. Beide arbeiten im Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße mit adipösen Kindern und Jugendlichen. Eliana Berger erzählten sie im Interview, was bei der Ernährung von Kindern wichtig ist. 

Frau Stommel, Frau Mirza – welchen Ernährungsmythos würden Sie gerne aus der Welt räumen?

Petra Stommel Es heißt immer, Süßigkeiten und Zucker machen dick. Aber es kommt auf die Menge an. Man sollte sich nicht ein einzelnes Lebensmittel aussuchen und es als „gut“ oder „böse“ betiteln – entscheidend ist die Summe, die am Ende des Tages oder der Woche herauskommt. Wenn jemand täglich fünf Salamibrote isst, dann ist das auch zu viel.

Das heißt, es ergibt keinen Sinn, Kindern erst möglichst spät Süßigkeiten zu geben?

Joaquina Mirza Nein. Schon im frühen Alter kommt jedes Kind mit Süßigkeiten in Kontakt. Viele Jahre waren die Fette in Verruf – jetzt hat das Pendel umgeschlagen und der Zucker ist in den Fokus geraten. Für diesen Ansatz gibt es gute wissenschaftliche Daten. Am Ende ist die gesunde Mischung ent scheidend.

Wie sieht eine gesunde Kinderernährung aus?

Stommel Die Grundlage sind die Getränke. Es werden zu viele gezuckerte Getränke konsumiert. Verbreitet ist auch der Mythos, Apfelsaft sei besser als Cola. Dort sind sicher die gesünderen Kalorien drin, aber letzten Endes sind es genauso viele.

Gesündere Kalorien?

Stommel Auf der einen Seite stehen die natürlichen Säfte: Aus Obst wird Saft hergestellt. Auf der anderen Seite stehen die Limonaden, denen Zucker zugesetzt wird; die also auch keine Vitamine und Mineralstoffe enthalten. Aber auf den Kaloriengehalt wirkt sich das nicht aus. Wenn ich 300 Milliliter Apfelsaft trinke, entspricht das den Kalorien von etwa drei Äpfeln. Die muss man erstmal essen.

Der Zucker des Apfelsafts ist also auch nicht „gesünder“?

Stommel Alle Obstsorten – und damit auch die Obstsäfte – enthalten Kohlenhydrate über Traubenzucker und Fruchtzucker in einem unterschiedlichen Mengenverhältnis. Der normale Haushaltszucker, der in Limonaden enthalten ist, besteht auch aus Traubenzucker und Fruchtzucker. Da gibt es also keinen Unterschied. Bei einer gesunden Ernährung kommt es aber natürlich auch auf andere Faktoren an: Wie viel Gemüse und Obst essen die Kinder? Welche Getreideprodukte essen sie? Milchprodukte sind für die Calcium und Vitamin D Versorgung sehr wichtig. Aber Milch ist eine kleine flüssige Mahlzeit und kein Durstlöscher. Auch Fette und die Eiweißmengen, die über Fisch, Fleisch und Eier gegessen werden, spielen eine Rolle. Und zu guter Letzt: die Süßigkeiten.

Mirza Eine Hand voll Süßigkeiten pro Tag, so schulen wir es immer. Die Hand eines Zweijährigen ist nicht so groß wie die Hand eines Erwachsenen. Das ist ein guter Merksatz.

Worauf kommt es bei kindlicher Ernährung noch an?

Stommel Das Wichtigste ist, dass Kindern von Anfang an ein sinnvoller Umgang mit Essen beigebracht wird: Was gilt im Alltag, wo gibt es Ausnahmen? Sie sollten schon im Kindergartenalter lernen, was gute Ernährung ist und wie gemeinsame Mahlzeiten aussehen. Esskultur spielt eine wichtige Rolle. Es hilft, wenn Kinder schon im Kindergarten und in der Schule erleben: Wir frühstücken zusammen, wir essen zusammen zu Mittag. Da immer mehr Eltern berufstätig sind, haben Familien heutzutage weniger Zeit für gemeinsame Mahlzeiten. Oft essen die Kinder alleine vor dem Fernseher. Das ist problematisch, weil sie durch die Ablenkung kein Gefühl dafür entwickeln, wann sie satt sind.

Mirza In Kitas werden Kinder ohnehin ganztags betreut, inzwischen ist das auch bei den meisten Grundschulkindern der Fall. Es wäre wünschenswert, dass in den Schulen gemeinsam gekocht wird. So wie es auch Englisch für Grundschüler gibt – warum nicht auch Kochen und Ernährung als Fach anbieten?

Stommel All das muss aber zusammenspielen. Die Eltern können nicht den Erziehern und Lehrern die Verantwortung übertragen, um dann abends und am Wochenende das zu machen, was sie wollen…

Mirza … und die Fertigpizza rauszuholen. Grundsätzlich wird natürlich auch weniger gekocht als früher.

Stommel Daher muss der Umgang mit fertigen Lebensmitteln geschult werden. Ich kann einer Mutter mit Vollzeitjob nicht sagen, dass sie alles frisch kochen muss. Und es gibt viele Fertigprodukte, die man sinnvoll einsetzen und ergänzen kann. Es sollte eine gesunde Mischung gefunden werden zwischen dem, was ich selbst mache und dem, was ich dazukaufe.

Was wäre so etwas?

Stommel Tiefkühlgemüse, zum Beispiel. Das muss ich nicht mehr schälen und putzen. Oder einen Pizzaboden, den ich individuell belege. Dabei kann ich selbst entscheiden, ob ich die Pizza zum Beispiel mit mehr Gemüse und weniger Käse machen möchte. Vielleicht kaufe ich anstelle eines fertigen Fruchtjoghurts Naturjoghurt und gebe dort gequetschtes Obst hinein. Dann weiß ich genau, welche Inhaltsstoffe er enthält.

Und bei welchen Lebensmitteln sollte ich besser aufpassen?

Mirza Der Klassiker sind fettreduzierte Nahrungsmittel. Sobald der Fettanteil reduziert wird, enthalten sie vermehrt Zucker, Salz oder Eiweiß. Schwierig ist auch ein Kuhmilchprodukt wie Pudding. Viele denken: Wir kaufen ihn, er ist gesund, dort ist viel Calcium und Eiweiß drin. Aber er enthält viel Zucker und häufig auch Sahne.

Stommel Viele fett- oder kalorienreduzierte Lebensmittel haben außerdem eine viel längere Zutatenliste. Sie enthalten mehr Füllstoffe, die man im Zweifel nicht kennt, um einschätzen zu können: Sind sie jetzt gesund oder nicht? Wenn wir uns einmal die Zutaten von normalen und fettreduzierten Chips anschauen – dann ist die der fettreduzierten Chips beinahe doppelt so lang.

Wieso üben fettige und süße Lebensmittel eigentlich so eine besondere Anziehungskraft auf uns aus?

Mirza Die Präferenz für das Süße ist stammesgeschichtlich in uns allen angelegt. Süß war nicht ge-fährlich – ganz im Gegensatz zu bitteren Stoffen. Das ist genetisch tief in uns verankert. Auch die Muttermilch ist erst einmal süß. Fett ist ein hervorragender Geschmacksverstärker.

Wirkt Zucker auf Kinder stärker als auf Erwachsene?

Mirza Nein, das funktioniert bei Erwachsenen genauso. Es gibt aber spannende Untersuchungen, die zeigen, was uns schon im Mutterleib prägt. Wir wissen, dass Kinder ein erhöhtes Risiko haben, übergewichtig zu werden, wenn die Mutter adipös ist oder in der Schwangerschaft deutlich an Gewicht zunimmt. Der alte Mythos „iss für zwei“ ist schon lange out. Auf der anderen Seite gibt es Schwangere, die so sehr auf ihre Ernährung achten, dass sie sich unterernähren. Auch diese Kinder haben später ein erhöhtes Risiko, übergewichtig zu werden. Gewicht und Ernährung der Mutter sind für das Kind schon während der Schwangerschaft wichtig.

Immer mehr Menschen ernähren sich vegan oder verzichten auf Gluten oder Weizenmehl. Was halten Sie von solchen Trends?

Mirza Bei Kindern beurteile ich so etwas extrem kritisch – beispielsweise, wenn sie sich vegan ernähren. Da sehen wir tatsächlich viele Mangelerscheinungen. Wir haben hier bereits Kinder behandelt, die dadurch schwer krank geworden sind. Wenn so eine Ernährungsform durchgeführt wird, dann sollte sie mit einer professionellen Beratung begleitet werden.

Stommel Bei veganer Ernährung sind wir uns einig: Sie ist nichts für Kinder. Vegetarische Ernährung lässt sich sicher gut umsetzen. Grundsätzlich gilt: Je bunter eine Lebensmittelgruppe gemischt wird, desto besser. Nur Weizen zu essen ist sicher nicht so sinnvoll, wie Weizen, Dinkel, Roggen und Hafer zu mischen. Nur Äpfel zu essen ist nicht so sinnvoll, wie verschiedene Gemüse- und Obstsorten zu essen.

Mirza Die Kinder, die eingeschränkt werden, sind in der Regel auch nicht die übergewichtigen. Hier geht es vor allem um – vermutete – Nahrungsmittelallergien: Da erleben wir wirklich schlimme Diäten, bei denen die Kinder am Ende nur noch ein, zwei Lebensmittel bekommen. Alles andere wird angeschuldigt, eine Allergie auszulösen, zu einer Hautverschlechterung zu führen oder zu Bauchschmerzen, ohne, dass das getestet wurde.

Sie arbeiten in der Klinik mit adipösen Kindern und Jugendlichen. Welche Auswirkungen haben Übergewicht und Adipositas auf den Körper?

Mirza Das müssen wir voneinander trennen. Bei Kindern, die adipös sind, müssen wir natürlich auf Komorbiditäten achten, also Krankheiten, die in Verbindung mit Adipositas gehäuft auftreten. Vor allem Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen oder Typ 2 Diabetes. Oft sehen wir auch eine Störung des Haltungs- und Bewegungsapparats: Knick-Senk-Plattfüße, zum Beispiel, oder eine belastete Wirbelsäule.

Bei den meisten Kindern, die „nur“ übergewichtig sind, finden wir so etwas in der Regel nicht. Aber wenn es in der Familie eine Neigung zu erhöhtem Blutdruck oder Typ 2 Diabetes gibt, dann müssen wir diese Krankheiten im Blick behalten.

Stommel Eine andere Frage ist: Wie hoch ist der Leidensdruck? Es gibt Kinder, die fühlen sich mit ein paar Kilos mehr wohl, andere verspüren dadurch einen großen seelischen Druck.

Mirza Die Lebensqualität ist bei diesen Kindern und Jugendlichen klar eingeschränkt. Es gibt Studien, die zu dem Schluss kommen, dass Kinder mit Diabetes oder Krebs darin nicht so eingeschränkt sind, wie adipöse Kinder. Adipositas geht oft einher mit Mobbingsituationen. So entsteht ein Teufelskreis: Die Kinder schotten sich mehr ab, konsumieren noch mehr Medien, bewegen sich noch weniger im Alltag und essen aus Frust übermäßig viel. Da kommt man ohne Unterstützung schwer wieder raus.

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