Drei Viertel PizzaSo machen Alltags-Beispiele Mathe verständlicher

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Ein Schüler meldet sich während einer Mathestunde

Ein Schüler meldet sich während einer Mathestunde.

Köln – Benjamin Prüfer reagiert allergisch auf Matheschulbücher. Er sagt: „Schon wenn ich ihr wachsiges Papier in den Händen halte, spüre ich leichte Übelkeit. Sehe ich dann noch die Illustrationen, die immer glückliche Kinder zeigen, die Anna oder Bernd heißen, dann juckt es mich am ganzen Körper.“ So wie dem Buchautor und Familienvater geht es auch manchen Schülerinnen und Schülern. Allein der Gedanke an eine Mathe-Doppelstunde treibt ihnen wahlweise das Gähnen ins Gesicht oder die Schweißperlen auf die Stirn. Denn viele Kinder und Jugendliche haben Mathe-Angst. Torsten Landwehr, Leiter von „Mathe-Vision“ und des Kölner Rechentherapie-Zentrums, weiß, was sich dagegen tun lässt.

Was ist Mathe-Angst genau?

Kein Fach ist so verhasst und so angstbesetzt, wie Mathematik. Wer Mathe-Angst hat, empfindet Stress schon beim Anblick von Formeln und Gleichungen auf dem Papier. Allein die Vorstellung, jetzt diese Aufgabe lösen zu müssen, kann den Betroffenen in den Panik- und Fluchtmodus versetzen. Schüler mit Mathe-Panik machen sofort dicht. Egal, wie gut und clever sie eigentlich sind, die Angst blockiert sie einfach. Daher ist der erste wichtige Schritt, diese Angst zu überwinden. Leider wird das in der Schule und auch beim Üben zu Hause meist nicht berücksichtigt.

Woher kommt die Angst?

In Deutschland ist es etabliert, dass Kinder, aber vor allem auch Erwachsene sagen: „Mathe kann ich nicht, ich war noch nie gut darin.“ Viele Eltern sagen das ganz offen, kokettieren vielleicht sogar nach dem Motto: Aus mir ist ja trotzdem etwas geworden. Es ist sozial legitimiert, schlecht in Mathe zu sein. Mathe-Experte Benjamin Prüfer kritisiert: „Wie sollen Kinder ein Interesse an Mathematik entwickeln, wenn ihnen die Erwachsenen täglich vorleben, dass die Wissenschaft abzulehnen und dass es nicht nur normal, sondern sogar erstrebenswert sei, darin zu versagen?“ Hört ein Kind das oft, verinnerlicht es diese Einstellung, Unlust und Unsicherheit übertragen sich. Wenn dann noch schlechte Erlebnisse im Schulalltag hinzukommen, ist der Weg bis zur Mathe-Phobie nicht weit.

Steckt immer eine Rechenschwäche dahinter?

Nein. Bei Mathe-Angst ist die entscheidende Frage: Was traue ich mir zu? Wie ist mein Selbstbild in Mathematik? Bei klassischer Nachhilfe wird vor allem der Fokus auf das Fachliche gelegt. Das reicht aber manchmal nicht. Es gibt viele Schüler und Schülerinnen, die fachlich gut sind, sich aber in Mathe nur wenig zutrauen. Mathe hat nicht nur mit Wissen zu tun, sondern viel mit dem eigenen Glauben, ob man es kann oder nicht. Viele Schüler haben großen Stress mit dem Fach, obwohl sie eigentlich gar keine Rechenschwäche haben. Kinder sind nie allgemein schlecht in Mathe. Sie haben meist spezifische Schwierigkeiten mit einzelnen Verfahren. Oft sorgt ein kleines Stück fehlendes Wissen für weitere Probleme mit dem Stoff.

Was ist das Tückische an Mathe?

Vieles können Schüler auswendig lernen, ohne die Rechenwege zu verstehen. Dann können sie zwar die richtige Lösung nennen, verstehen aber zum Beispiel nicht, warum bei 88 minus 87 derselbe Rechenschritt nötig ist, wie bei 8 minus 7 oder warum 3x + 2x das gleiche ist wie 5x. So bekommen sie durch Tricks und Auswendiglernen teilweise ohne Verständnis die Lösung hin, zumindest in der Basismathematik. Auch in den weiterführenden Schulen lernen viele mechanisch, wie die Rechenschritte funktionieren, vor allem, wenn sie ein wichtiges Thema nicht verstanden haben. Mathe bleibt diesen Schülern dann auf ewig ein Rätsel. Viele sagen: „Ich brauche eine fertige Formel, dann funktioniert es.“ Sie verstehen nicht, dass sie sich diese Formel eigentlich selbst herleiten können. Um Mathe wirklich zu verstehen, braucht man vor allem ein gutes Mengen- und Zahlenverständnis und gute Grundlagenkenntnisse. Oder wie Benjamin Prüfer meint: „Erfolg in Mathematik basiert auf einem tiefen Verständnis des Stoffes und regelmäßigem Üben und Wiederholen.“

Wie können Eltern ihren Kindern helfen?

Viele Eltern lieben Lern-Apps und Übungsblöcke für Kinder. Viel effektiver wäre es aber, Mathe in den Alltag zu integrieren. Mengen und Rechenprozesse begreiflich zu machen, zum Beispiel beim Backen und Zutaten abmessen oder bei der gemeinsamen Urlaubsplanung mit der Landkarte. Es geht darum, Mathe ins Leben zu holen, das Fachgebiet relevant zu machen. Wenn man Mathe beherrscht, wird deutlich, wie praxisnah dieses Fach ist. Leider verschwindet Mathematik in unserem Alltag immer mehr. Wir zahlen immer weniger mit Bargeld, müssen deshalb immer seltener das Wechselgeld nachrechnen. Es ist paradox: Wir leben in einer scheinbar unmathematischen Umwelt, die aber völlig durchtechnisiert ist – und dafür braucht es Mathe. Wir nutzen immer häufiger unser Smartphone und immer weniger konkretes Material. Wir schalten das Navi ein, anstatt die Karte zu lesen. Kurzfristig praktisch, aber es schadet dem Verständnis von Logik.

Wie lässt sich Mathe besser verstehen?

Mit Hilfe von Materialien aus dem Alltag. Bruchrechnen ist zum Beispiel für sehr viele Schüler ein schwieriges Thema. Torsten Landwehr verdeutlicht das in seinem Institut anschaulich mit einem kleinen Klumpen Knete, den er zu einer runden Pizza formt. Dann wird Pizzeria gespielt und die Pizza in Stücke geteilt: „Gib mir mal eine halbe Pizza. Jetzt gib mir drei Viertel und dann noch mal drei Viertel.“ So sieht der Schüler auf einen Blick, dass sechs Viertel dasselbe sind wie eine ganze Pizza plus eine zusätzliche Hälfte. Und was sind ¾ von 60? Wenn es auf dem Papier steht, ist es abstrakt. Wenn wir uns aber vorstellen: Auf der Pizza liegen insgesamt 60 Oliven, also auf jedem Viertel-Stück 15. Dann bekommen wir leicht raus, dass ¾ von 60 gleich 45 ist.

Wenn ein Schüler Schwierigkeiten mit Variablen oder Gleichungen hat, holt Landwehr die bunten Poker-Chips heraus. Auf dem Tisch liegen dann drei weiße (3w) plus 4 blaue (4b) plus ein grüner (1g). Das ist logisch und klar. Und wenn die Kinder dann aufschreiben: 3w + 4b + 1g können sie das Prinzip der Variablen plötzlich nachvollziehen. Der Unterricht im Rechentherapie-Zentrum Köln hat seinen Preis, der Intensivkurs mit einer Einzelsitzung pro Woche startet ab 250 Euro monatlich. Bei anerkannter Dyskalkulie wird der Betrag für die Förderinstitute in der Regel vom Jugendamt übernommen.

Warum arbeiten die Schulen nicht so?

Die Themen Mathe-Angst und die Veranschaulichung mit ganz konkreten Gegenständen hat in den Unterricht noch nicht wirklich Einzug gehalten. Immer noch müssen täglich Schüler an der Tafel vor der ganzen Klasse Aufgaben vorrechnen. Für ein Kind mit Mathe-Panik ist das der Horror. Auch Eckenrechnen oder Blitzrechnen gibt es in der Schule immer noch. Bei all diesen „Mathespielen“ fühlen sich viele Schüler, als werde ihr Unwissen vorgeführt. Keine Frage, viele Lehrer sind sehr engagiert. Aber es ist fast unmöglich in einer Klasse mit 30 Kindern individuell auf einen oder mehrere Schüler mit Mathe-Panik einzugehen.

Die anschaulichen Beispiele kommen auch deswegen oft zu kurz, weil manche Lehrer fürchten, dann mit dem Lehrplan nicht durchzukommen. Es fehlt oft schlichtweg die Zeit, um grundlegender zu arbeiten. Gerade am Gymnasium in Zeiten von G8. Doch die Erfahrung zeigt: Wenn sich Lehrer an den wichtigen Stellen Zeit nehmen und Grundlagen wiederholt und ausführlich erklären, lohnt sich das besonders in Mathematik.

Was müsste schon in der Grundschule anders laufen?

Vieles vom Grundschulstoff braucht man die ganze Mathe-Karriere lang, etwa die Grundrechenarten und das Einmaleins. Tatsache ist, dass in Grundschulen in der Regel alle Lehrerinnen und Lehrer alle Fächer unterrichten müssen, mit Ausnahme von Sport. „Das ist in meinen Augen ein Unding. Manche Lehrer sind begnadet darin, den Schülern Lesen und Schreiben beizubringen, andere können das Rechnen gut vermitteln. Aber es können nicht alle alles und das ist ein grober Fehler im System“, sagt Rechen-Therapeut Landwehr.

Wie können Eltern zum Schulstart helfen?

Beim Vorschlag „Lass uns Mathe üben“ wird kaum ein Kind begeistert sein. Bei der Ansage „Ich habe ein neues Spiel und Rätsel für dich“ schon eher. Das sind zwei wichtige Mittel, um Kindern Wissenschaft anschaulich zu vermitteln. Übungsmaterialien gibt es für jede Klassenstufe in Büchern und im Netz. Aber: Die Eltern müssen wirklich mitmachen und nicht nur halbherzig dabei sein. Gut ist auch, gemeinsam mit den Kindern nochmal ins Mathebuch aus dem letzten Schuljahr zu schauen. „Gab es ein Thema, das schwierig war, das wir gemeinsam wiederholen sollten? Lass uns gucken, dass wir das vorbereiten können“, sind gute Sätze. Dann lohnt sich auch ein Blick auf den Stoff, der kommen wird. Mathe-Üben geht nicht nur am Küchentisch, sondern am besten in Alltagssituationen. Das Einmaleins lässt sich prima beim Spazierengehen oder der nächsten gemeinsamen Radtour durchgehen. Und: Die Kinder immer wieder ermutigen, sich auf Mathe einzulassen.

Wie holt man Mathe in den Alltag?

Mithilfe einer alten Küchenwaage samt Gewichten können Kinder ein Gespür für Mengen entwickeln. So lässt sich leicht zeigen, was das Gleichheitszeichen in den Aufgaben wirklich bedeutet. Lehrer könnten Plus- und Minusaufgaben als Rollenspiele darstellen. Zu Hause hilft es Kindern, gemeinsames zu kochen und die Zutaten mit einer analogen Waage abzumessen. Oder ein Quecksilber-Thermometer, das auch verständlich die negativen Zahlen anzeigt. Buchautor Prüfer rät, den Denkprozess nachzuvollziehen: „Fragen Sie Ihr Kind, wie es auf eine Lösung gekommen ist – immer! Gewöhnen Sie es daran, über seine Gedanken beim Mathe-Aufgaben-Lösen zu sprechen und sich selbst zu erklären.“ Das stärkt nicht nur ihr Selbstbewusstsein, es zeigt auch, dass sie den Stoff dann wirklich verstanden haben. Bei bleibender Angst: Gab es eine Situation, die dafür der Auslöser war? Wurde das Kind etwa schon einmal ausgelacht an der Tafel?

Wie lässt sich die Mathe-Angst besiegen?

Manchen Schülern zittern die Hände, wenn sie an die Tafel müssen. Betroffene versuchen, dies Situationen möglichst zu vermeiden. Es ist wichtig, den Schüler behutsam über die Angstschwelle zu bringen. In den Förder-Instituten werden solche Situationen häufig an der Tafel nachgespielt und die Angst verschwindet mit jedem Erfolg ein bisschen. Wichtig ist, dass diese Erfolge auch gebührend wertgeschätzt werden. „Super, du hast jetzt schon sechs von zehn Aufgaben geschafft. Die anderen schaffst du auch noch“, ist der richtige Satz. Das bedeutet aber nicht, dass Eltern ihren Kindern vorgaukeln sollten, Mathematik sei einfach. „Sie ist schwer und es ist normal, damit Probleme zu haben“, sagt Benjamin Prüfer aus eigener Erfahrung. „Doch gerade deswegen macht es Spaß – es ist die Freude am puren Denken.“

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