Familienberater RoggeWarum man seine Kinder nicht mit anderen vergleichen sollte

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Warum kann mein Kind das nicht? Das fragen sich viele Eltern.

Warum kann mein Kind das nicht? Das fragen sich viele Eltern.

Gerade war man noch froh und stolz, dass der kleine Sohn endlich krabbeln kann. Da sieht man im Babykurs, dass gleichaltrige Kids sogar schon laufen. Oje, ist etwas falsch mit meinem Kind? Und so geht es dann die Jahre über weiter. Während man selbst vom Zweijährigen noch jede Nacht dreimal geweckt wird, schlummert das Kind der Nachbarin längst im eigenen Bett durch. Und isst sogar jeden Tag Gemüse. Wie machen die das nur? Später dann Panik in der Kita: Die fünfjährige Freundin der Tochter kann schon schreiben und auf Englisch zählen – habe ich verpasst, mein Kind frühzeitig zu fördern? Und überhaupt: Wieso wirken andere Mütter immer so lässig und sind so gut gekleidet, während ich mir wie ein scheiternder Zombie vorkomme?

Zur Person

Jan-Uwe Rogge ist einer der bekanntesten deutschen Familien- und Erziehungsberater – und Autor vieler Bestseller zu Erziehungsfragen.

Wenn es um Kinder geht, schauen sich viele Eltern ständig um. Sie vergleichen ihr Kind mit Gleichaltrigen. Und sich selbst mit den anderen Müttern und Vätern im Umfeld. Sicherer macht sie das allerdings nicht – im Gegenteil. Doch warum ist der vergleichende Blick besonders unter Eltern so verbreitet?

Warum vergleichen Eltern ihr Kind und sich selbst immer wieder mit anderen?

Das hat natürlich damit zu tun, dass heutige Eltern die Kinder ständig im Blick haben. Und damit automatisch auch andere Kinder beobachten und miteinander vergleichen. Das Problem ist: Viele Eltern nehmen an ihren Kindern und an sich selbst nur die Defizite wahr. Sie fragen sich dann: Warum kann das andere Kind das schon, meins aber noch nicht? Was mache ich falsch? Warum funktioniert es bei mir nicht so gut?

Was Mütter und Väter zusätzlich unter Druck setzt, ist das „Eltern-Bashing“, das in den letzten 20 bis 30 Jahren zugenommen hat. Eltern stehen unter genauer Beobachtung, sie werden getadelt und es wird ihnen ständig suggeriert, was sie alles machen müssen. Das ist auch ein Grund, warum sie sich immer vergleichend umschauen und den Fokus auf das legen, was bei ihnen nicht läuft.

Wovor haben die Eltern Angst? Wollen sie nur bestimmten Idealen entsprechen?

Viele Eltern sind sehr verbissen und erziehen aus der Perspektive heraus, keinen Fehler machen zu wollen. Sie denken, dass jeder Fehler für das Kind eine Lebenskatastrophe ist. Sie glauben, sie müssten perfekt sein. Es müsse so laufen, wie sie es wollen, sonst hätten sie es nicht im Griff. Das ist ein problematischer Gedanke, weil sie sich selbst und auch das Kind damit unter Druck setzen.

Messen die Eltern ihren eigenen Erfolg am „Erfolg“ der Kinder?

Ja, es ist oft so, dass das elterliche Wohlbefinden vom Wohlergehen des Kindes bestimmt wird. Und der Erfolg der Erziehungsbemühungen dann aus dem Erfolg des Kindes abgeleitet wird. Ich rate Eltern immer, das umzudrehen: Denn wenn es mir gut geht, geht es auch den Kindern gut. Ich wünsche mir, dass man Eltern wieder dazu ermutigt, sich so anzunehmen, wie sie sind – mit all ihren Stärken und berechtigten Unzulänglichkeiten. Dabei kann auch der Austausch mit anderen Eltern helfen, wenn man merkt, dass andere die gleichen Probleme mit den Kindern haben. Nur wenn Mütter und Väter sich selbst akzeptieren, können sie auch ihr Kind mit all seinen Facetten annehmen.

Und dazu gehört auch, mit dem Vergleichen aufzuhören?

Es gibt einen wunderbaren Satz des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi, der etwa vor 200 Jahren lebte: „Vergleiche nie ein Kind mit einem anderen – sondern immer nur mit sich selbst.“ Hier bekommt der Vergleich sozusagen eine andere Qualität: Man sollte das Kind in seiner eigenen Entwicklung sehen. Eltern sollten sich also nicht fragen, was ihr Kind nicht kann, sondern was es noch nicht kann. Ich finde es wichtig, das Kind als einen Menschen wahrzunehmen, der sich entwickelt.

Ist es für Eltern so schwierig zu erkennen, dass jedes Kind sein eigenes Tempo hat?

Eltern wissen heute sehr viel über Erziehung, aber sehr wenig über kindliche Entwicklung. In meinen Beratungen steht deshalb oft im Vordergrund, den Eltern zu zeigen, wie sich ein Kind entwickelt. Ihnen zu verdeutlichen, dass eine Entwicklung immer aus Fortschritt, Stillstand und Rückschritt besteht. Dass wenn ein Kind zum Beispiel wächst, emotionale Schritte in dieser Zeit zurück bleiben. Oder es immer wieder Krisenphasen gibt, zum Beispiel im Trotzalter oder in der Pubertät. Und Eltern da durchmüssen. Ich möchte Eltern immer vermitteln: Vieles, was ein Kind zeigt, ist einfach Ausdruck von Normalität – und nicht das Resultat von Fehlentwicklung oder problematischer Erziehungsstile. Wenn Eltern das verstanden haben, verändert sich ihr Verhältnis zum Kind. Sie können sich besser in es hinein versetzen. Und werden insgesamt gelassener.

Das Rezept ist also, vieles einfach passieren zu lassen, anstatt sich und seine Kinder verrückt zu machen?

Wir denken immer, Erziehung hat mit „ziehen“ zu tun. Es gibt in der indischen Philosophie dieses wunderbare Bild, das ich Eltern gerne vermittle: Man schaut dem Gras beim Wachsen zu, man zieht nicht am Halm, damit es schneller wächst. Zieht man doch daran, dann reißt man den Halm mitsamt der Wurzel heraus und er verdorrt.

Ähnlich ist es mit den Kindern – Erziehung ist Begleitung der Kinder ins Leben. Kinder sollten sich nicht nach dem Schritt der Eltern richten müssen, sondern umgekehrt. Und Eltern sollten sich an der Individualität des Kindes orientieren, nicht an den eigenen Ansprüchen oder an den gerade vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen.

Und dennoch haben Eltern ja aber auch gewisse Wertmaßstäbe, die sie dem Kind vermitteln wollen, zum Beispiel Respekt oder Höflichkeit. Darf man solche Erziehungsziele nicht verfolgen?

Es ist gut, Werte zu vermitteln. Eltern leben so etwas wie Höflichkeit und Dankbarkeit ja selbst vor. Aber sie dürfen nicht erwarten, dass das Kind diese Werte im Laufe seiner Entwicklung immer auch zu hundert Prozent umsetzt.

Sie müssen berücksichtigen, dass es Entwicklungsphasen gibt, in denen ein Kind komplett auf sich fokussiert ist. Dann wird auch an diesen elterlichen Werten und Normen gerüttelt. Das ist Ausdruck der kindlichen Autonomie – und ganz normal. Jedes Kind ist eine eigenständige Persönlichkeit.

Was kann noch dabei helfen, sich in Sachen Erziehung locker zu machen?

Ich finde wichtig, dass Eltern hin und wieder eine Auszeit vom Kind nehmen. Statt immer nur die Kleinen im Auge zu haben, einfach mal das Radar auf den Partner richten. So wichtig es ist, sich um seine Kinder zu kümmern und ihnen Halt und Bindung zu geben, so wichtig ist es auch, das nicht zum Dogma werden zu lassen.

Und statt sich – was die Erziehung betrifft – immer selbst zu tadeln, sollte man mehr aus dem Bauch heraus machen. Mit mehr Leichtigkeit und Humor an Erziehung herangehen. Und viel mit den Kindern lachen. Sie sind doch Geschenke, an denen man sehr viel Spaß und Freude haben kann.

Mehrheit der Eltern findet Zeugnisnoten gerecht

Auf den Halbjahreszeugnissen werden nicht nur Zensuren stehen, die Kindern und Eltern gefallen. Etwa zwei Drittel der Mütter und Väter (65 Prozent) finden laut einer Umfrage aber, dass es bei der Benotung ihrer Kinder gerecht zugeht – knapp ein Drittel (32 Prozent) ist überzeugt, dass mindestens eine Note ihres Kindes unfair vergeben wurde. Befragt wurden für die repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag des Nachhilfeanbieters Studienkreis insgesamt 1002 Eltern schulpflichtiger Kindern.

Bei den Eltern, die mindestens eine Note auf den beiden zurückliegenden Zeugnissen als ungerecht empfinden, gibt es einen Unterschied zwischen den Geschlechtern: 35 Prozent der Mütter sehen eine Ungerechtigkeit, aber nur 29 Prozent der Väter. Eine weitere Auffälligkeit ergibt sich aus dem Alter der Kinder: Hier steigt das Ungerechtigkeitsempfinden der Eltern im Laufe der Jahre. 47 Prozent der Eltern von Kindern, die mindestens die elfte Klasse besuchen, werten mindestens eine Note als ungerecht, aber nur 23 Prozent der Eltern von Grundschülern.

Auf die Frage, welche Kriterien Einfluss auf die Noten haben, sagten 88 Prozent der Eltern, dass es nach der Leistung geht. 72 Prozent halten die persönlichen Ansprüche des Lehrers für sehr einflussreich, 36 Prozent finden, dass der familiäre Hintergrund des Schülers mit entscheidet. (dpa)

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