Gespräch über KitschMedienwissenschaftler findet, Kitschliebhaber werden unterschätzt

Lesezeit 7 Minuten
Ein Kitsch-Klassiker zu Weihachten: „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“.

Ein Kitsch-Klassiker zu Weihachten: „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“.

Thomas Küpper (47) ist Literatur- und Medienwissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen. Im Interview spricht er mit unserer Autorin über Kitsch – und erklärt, warum dieser heute kein Ächtungskriterium mehr ist.

Thomas Küpper schreibt Bücher über Kitsch.

Thomas Küpper schreibt Bücher über Kitsch.

Herr Küpper, der notwendige Weihnachtskitsch in unserer Familie heißt „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Wenn die Hüte am Ende in die Luft fliegen, gibt es kein Halten mehr. Welcher Kitsch-moment ist Ihr liebster?

Das Happy End dieses Films gehört für mich auch zu den schönsten Momenten: Das Aschenbrödel und der Prinz reiten durch den Schnee ins Weite, in ihre gemeinsame Zukunft. Aber ist so ein Happy End denn Kitsch? Einige würden wohl sagen: Ja, das ist zu schön, um wahr zu sein. Doch vielleicht wirkt es auf die Realität zurück. Das selbstbewusste, mutige Aschenbrödel könnte ein Vorbild sein.

Selbst wenn es Kitsch ist: Kein Grund mehr, sich dabei schlecht und untergeistig zu fühlen, oder?

Ja, heute ist Kitsch kein Ächtungskriterium mehr. Man darf sich dazu bekennen, ohne als sentimental zu gelten. Wir haben gelernt, spielerisch damit umzugehen.

Man kann sich heute originelle Peinlichkeiten leisten. So heißt es in Ihrem ersten Buch über Kitsch, das sie herausgegeben haben. Jetzt schreiben Sie ein zweites Buch zum Thema. Wieso?

Ich beschäftige mich mit der Kritik an Kitsch, weil sie meiner Meinung nach die Kitschliebhaber unterschätzt. Denn meist wird ihnen ja vorgeworfen, sie seien naiv, ließen sich leicht betrügen und gäben sich unreflektiert den Gefühlen hin. Das dürfte so einfach nicht stimmen.

Wovon sprechen wir denn genau? Können Sie bitte Kitsch definieren?

Ich selbst habe keine Definition formuliert. Davon gibt es sehr viele. In einem der ersten Bücher über Kitsch schrieb Fritz Karpfen: Kitsch sei wie eine Zwiebel. Wer sich die vor die Augen hält, kann gar nicht anders als weinen. Ich behaupte nun, dass sich viele Menschen ganz bewusst diesen Reizen aussetzen und sehr genau wissen, dass es sich um eine Ausnahme handelt. Also, dass Weihnachten zum Beispiel eine Inszenierung der heilen Welt ist, die man nur vorübergehend genießt.

Eine alte Kritik an Kitsch ist ja eine etwas andere: Schiller ereiferte sich über Autoren, die dem Publikum nur durch Sinnlichkeit gefallen wollten, darüber dass Menschen wahre Kunst nicht erkennen.

Das ist ein typischer Abgrenzungsmechanismus. Kunstbeflissene wollen sich mit so einer Kritik unter anderem von Autoren der Unterhaltungsliteratur, die für die Masse gemacht wird, distanzieren. In der so genannten wahren Kunst geht es traditionell nicht oder nicht nur um Sinnlichkeit.

Sie legt vielmehr Wert darauf, dass der Betrachter auch noch Vernunft ins Spiel bringen kann. Er soll distanziert und handlungsfähig bleiben können. Kitsch hingegen lässt einem keine Freiheit: Sehe ich die Darstellung eines Waisenkindes am Grabe der Mutter, muss ich in Tränen ausbrechen. Mir bleibt keine Wahl. Und das widerspricht den Prinzipien der althergebrachten Ästhetik.

Kann man so konsequent unterscheiden? Schiller hat sich auch kitschverdächtig gemacht. Über „Die Glocke“ haben sich Kritiker seiner Zeit kaputtgelacht.

Ja. Das stimmt. Wie gesagt, es ging um Abgrenzung. Um die Sicherung des eigenen Status. Das war auch Ende des 19. Jahrhunderts der Fall, als zum ersten Mal das Wort Kitsch auftauchte. Damals wollten sich die Bildungsbürger von den so genannten einfachen Leuten abheben.

Denn plötzlich waren viele in der Lage, sich industriell gefertigte Kulturwaren zu leisten. Jeder konnte sich nun eine Mini-Venus ins Zimmer stellen. Kitsch-Kritik wurde also notwendig, um die soziale Hierarchie zu wahren.

Und auch um die Geschlechterrollen zu festigen?

Kitsch-Kritik ist sehr oft auch mit Frauen-Diskriminierung verbunden. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Liebesromane von Hedwig Courths-Mahler zum Inbegriff von Kitsch-Literatur wurden. Die Frau wurde verachtet und sollte keinen Platz in der Ehrenreihe großer Autoren finden.

Pierre Brice als stolzer Apachen-Häuptling in „Winnetou 3“

Pierre Brice als stolzer Apachen-Häuptling in „Winnetou 3“

Frauen sind aus der Sicht vieler Kitschkritiker immer gefühlig und einfältig gewesen, Männer dagegen kühl und stark. Dabei wissen wir, dass niemand vor Kitsch gefeit ist. Auch Männer lesen Courths-Mahler. Und nehmen wir nur mal Karl May, der Männer mit Sentimentalitäten versorgt hat. Gerade Winnetous Tod ist kitschverdächtig.

Schöne Namen sind für Kitsch entstanden. Wie etwa Hausgre el. Oder Pimpeleien.

Oder Stehrümchen. Wobei ich das Wort Kitsch toll finde. Es hat eine vielsagende Klangqualität: Es klingt nach Quatsch. Aber es wirkt freundlich dabei und ist in viele Sprachen übernommen worden.

2. Teil des Interviews

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde viel getan, um die Menschen im guten Geschmack zu unterrichten. Es galt sogar als „vornehmste Kulturaufgabe sowohl in ästhetischer, nationaler und volkswirtschaftlicher Hinsicht“, ließ der Deutsche Werkbund verlauten.

Spannend in diesem Zusammenhang ist die Ausstellung „Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe“ des Kunsthistorikers Gustav E. Pazaurek Anfang des 20. Jahrhunderts. Er hatte eine Typologie entwickelt, um Geschmacksverirrungen zu sortieren: Damals wurde zum Beispiel der Bismarck-Bierkrug zum Aufklappen gezeigt oder royales Motivgeschirr mit dem Hinweis, man könne doch weder Kanzler noch Könige einfach so an den Mund führen.

Hat das irgendetwas bewirkt?

Das Publikum hat damals schon mit einer Mischung von Faszination und Abneigung reagiert. Das heißt, es gab damals schon einen ambivalenten Umgang mit Kitsch – wie heute auch.

Haben Hoch- und Trivialkultur heute wirklich Frieden miteinander geschlossen?

Seit den 1960ern hat die dünkelhafte Hochkultur an Ansehen verloren. Man kann sich natürlich weiterhin zu einer Geschmackselite zählen und auf die anderen herabsehen. Aber die anderen schauen nicht mehr unbedingt auf. Die Gesellschaft ist pluralistischer geworden und die unterschiedlichen Gruppen haben ein neues Selbstbewusstsein.

Auch die Anhänger der leichten Muse verstecken ihre vermeintliche Schwäche nicht mehr. Man muss nicht Beethoven hören. Man kann sich auch an André Rieu erfreuen. Einfach so.

Umgekehrt hat sich Kitsch auf dem Kunstmarkt durchgesetzt.

Es gibt eine Vermischung: Die angesehene Kunst hat den Kitsch als Provokation entdeckt. Jeff Koons zum Beispiel greift Kitsch auf, macht ihn noch kitschiger, vergrößert und verdichtet ihn. Das wirkt im sterilen Museumsraum ganz besonders aufreizend. Aber mir ist nicht ganz klar, ob er damit den Kitsch zur Kunst aufwerten will und unbefangene Zugänge zu beidem ermöglichen möchte.

Wie kommt es, dass sich Kitsch so teuer verkaufen lässt? Viele sprechen von Werttäuschung.

Das kann man sehen, wie man will. Ich zitiere gerne den Philosophen Konrad Paul Liessmann: Der Kitsch bietet den Menschen, was die Kunst versäumt hat. Sie war häufig zu kalt und zu rätselhaft, vernachlässigte das Sinnliche und Wärmende.

Was halten Sie von der Kritik, dass Kitsch folgenlos bleibt?

Kitsch ist dieser Kritik nach reine Sentimentalität. Der Philosoph Ludwig Giesz schrieb: Man kann von seiner eigenen Rührung gerührt sein. Und wer sich diesem Selbstgenuss hingibt, ist weniger daran interessiert, tatsächlich die Welt zu verbessern. Er will nur diesen Zustand wieder erreichen und in den eigenen Tränen schwelgen.

Gibt es auch bösen Kitsch?

Ein schwieriger Punkt: Die heutige ästhetische Diskussion neigt dazu, vieles zu verharmlosen. Wir haben heute das Glück, alles nebeneinander goutieren zu können. Alles scheint gut. Aber stimmt das? Grundsätzlich gibt es bösen Kitsch, wenn man ihn nicht durchschaut. Es gibt den so genannten Hurra-Kitsch in der Propaganda totalitärer Regime.

Der Ballonhund von Jeff Koons.

Der Ballonhund von Jeff Koons.

Sie können der Masse durch Inszenierungen das Gefühl geben, gerade einen großen Moment zu erleben. Auch der Nationalsozialismus ist ja bereits unter dem Aspekt des Kitsches untersucht worden. Was ich sagen will: Vielleicht sollten die Bedenken so mancher Kritiker wieder etwas ernster genommen werden.

Was macht es denn so schwierig, gefährlichen Kitsch zu erkennen?

Es ist nicht immer offensichtlich. Auch nicht für den, der sich für kitschresistent hält. Es gibt zum Beispiel die Kritik, dass viele Spendenaufrufe von Entwicklungshilfe-Organisationen kitschig sind. Sie zeigen immer wieder arme Kinder und befördern damit auf Dauer das übliche Bild vom vermeintlich naiven und abhängigen Afrikaner.

Viele schauen auf ihn herab. Andererseits heißt es, mit den Bildern werden mehr Spenden gewonnen als mit Zahlen. Ich will das jetzt gar nicht beurteilen, sondern zeigen, dass die Kitsch-Diskussion manchmal über ästhetische Fragen hinausgehen muss. Man muss sich dann auch mit weitergehenden, zum Beispiel politischen Fragen beschäftigen.

Formulieren Sie damit nicht einen allgemeinen Bildungsanspruch?

Ich will sagen, dass wer gern in eine inszenierte heile Welt eintaucht, um sich wohlzufühlen, trotzdem darüber nachdenken sollte, welche Auswirkungen dies auf die Realität jenseits der Inszenierung hat.

„Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ halte ich für eine ungefährliche Zwiebelaktion.

Ich auch! Und wer lässt sich nicht gern vom Gefühl ergreifen? Es ist wie ein Aufguss in der Sauna. Den kann man genießen. Das wirkt entkrampfend. Vielleicht sogar stärkend für den weiteren Umgang mit der Realität.

Rundschau abonnieren