Größeres Problem als KariesBröckelnde Zähne – Der Feind im Kindermund

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Kreidezähne

Ein sogenannter Kreidezahn (Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation

Es geschieht ohne Vorwarnung. Anstelle eines noch jungfräulich glatten Zahns bricht ein Gebilde durch den Kiefer, das aussieht, als habe es bereits ein langes Leben hinter sich – und zwar eines, in dem die Zahnbürste keine allzu große Rolle spielte.

Kreidezähne nennen Zahnärzte diese Gebilde, die vor allem da durchbrechen, wo gesunde, kräftige Backenzähne sitzen sollten. Insbesondere der erste große Backenzahn, der Sechsjahrmolar, weist die unschönen Veränderungen oft auf. Doch auch die bleibenden Frontzähne und immer häufiger sogar schon die zweiten Milchmolaren sind von dem rätselhaften Phänomen betroffen, in der Fachsprache Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation – kurz: MIH - genannt: Der Zahnschmelz ist nicht ausreichend mineralisiert und daher brüchig und rau – wie Kreide. Besonders schlimm betroffene Zähne reagieren empfindlich auf Kälte, Wärme und Berührung. Auch aufgrund ihrer zerfurchten Oberfläche sind Kreidezähne sehr anfällig für Karies.

Größeres Problem als Karies – eine neue Volkskrankheit

Zahnärzte warnen vor einer neuen Volkskrankheit, denn MIH scheint immer schneller um sich zu greifen. „Aktuelle Studien aus Deutschland zeigen, dass im Schnitt zwischen 10 und 15 Prozent der Kinder an MIH leiden“, sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGKiZ), Norbert Krämer von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Vor gut zehn Jahren seien es nicht mal halb so viele Kinder gewesen. Die jüngste Mundgesundheitsstudie aus dem Jahr 2016 berichtet gar, dass knapp 30 Prozent der zwölfjährigen Kinder Kreidezähne aufweisen. „In dieser Altersgruppe inzwischen ein größeres Problem als Karies“, so Krämer. Kariöse Zähne sind der Studie zufolge nur noch bei knapp 20 Prozent der Zwölfjährigen zu finden. „Die Zahl der kariesfreien Gebisse hat sich damit in den Jahren 1997 bis 2014 praktisch verdoppelt“, heißt es.

Woher die neue Zahnkrankheit kommt, weiß bislang niemand.

Erkrankung kann schon im Mutterleib beginnen

Sicher ist nur, dass sie ihren Anfang sehr früh nimmt – bei den Sechsjahrmolaren bereits im Mutterleib, bei den Frontzähnen im ersten Lebenshalbjahr. Schon in diesem Zeitraum beginnen sich im Kiefer auch die bleibenden Zähne zu entwickeln. Mit vier, fünf Jahren sind die Zahnentwicklung und auch die Schmelzbildung dieser Zähne in der Regel abgeschlossen. Für die Bildung des Zahnschmelzes sind bestimmte Zellen im Zahn, die Ameloblasten, zuständig. Mit ihrer Hilfe entstehen Kristalle aus Apatit, aus denen dann der harte Schmelz hervorgeht. Zudem bauen sie im jungen Schmelz die Proteine ab. „Bei Zähnen mit MIH ist der Proteinanteil teilweise um das Zwanzigfache erhöht“, sagt Krämer. „Irgendetwas scheint die Ameloblasten bei dieser Krankheit in ihrer Arbeit zu stören.“

Als Störenfriede werden eine Reihe von Kandidaten gehandelt, allen voran die in vielen Kunststoffen enthaltene Substanz Bisphenol A (BPA), die erst 2011 für die Herstellung von Säuglingsflaschen verboten wurde. Ein Experiment ließ BPA verdächtig werden: Französische Forscher verabreichten Ratten kurz nach deren Geburt geringe Mengen BPA und wiesen nach, dass die Zähne der Tiere später ähnliche Strukturanomalien aufwiesen wie bei der MIH. „BPA könnte die Aktivität der Enzyme, mit deren Hilfe die Proteine im Zahn abgebaut werden, beeinflussen“, sagt Krämer. Kunststoffe in der Nahrungskette könnten die Entstehung von Kreidezähnen begünstigen.

Kreidezähne schonend behandeln

Zahnmediziner teilen die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) –das Phänomen der sogenannten Kreidezähne – in drei Schweregrade ein.

Grad A betrifft rund 60 Prozent der an MIH erkrankten Kinder. Die Zähne sind hier lediglich cremig-weißlich oder gelb-bräunlich verfärbt. Es reicht aus, die Zähne zu fluoridieren und sie später, wenn sie vollständig durchgebrochen sind, mit Komposit zu versiegeln. Verfärbte Frontzähne lassen sich zu kosmetischen Zwecken auch mit Komposit verblenden.

Grad B trifft auf etwa 30 Prozent der betroffenen Kinder zu. Es kommt vermehrt zu Abplatzungen des Zahnschmelzes. Solange de r Zahn noch nicht vollständig durchgebrochen ist, raten Mediziner zu einer Behandlung mit Glasionomerzement.

Anschließend kommen Kompositfüllungen zum Einsatz.

Grad C kommt mit etwa zehn Prozent am seltensten vor. Dabei ist der komplette Zahn beeinträchtigt. Die Kinder leiden unter starken Schmerzen bei Kälte-, Wärme- und Berührungsreizen. Eine sofortige Versiegelung mit Glasionomerzement, noch während der Zahn durchbricht,ist dann angebracht.

Bei massiven Schäden kann auch eine Stahlkrone erforderlich werden. Mittel der Wahl, um alle MIH-Zähne langfristig zu versorgen, sind Füllungen aus Komposit, die klebend verarbeitet werden. Sie versiegeln die erkrankte Oberfläche und isolieren den Zahnnerv, um vor schmerzhaften Reizen zu schützen.

Zahnputz-Tipp

Nach dem Essen Zähne putzen – aber 30 Minuten warten!

Die Zähne nach jeder Hauptmahlzeit zu putzen, ist eine gute Idee, die man den Kindern weitergeben sollte, denken viele Eltern.

Man sollte jedoch etwas damit warten. Viele Lebensmittel enthalten aber Säuren, die den Zahnschmelz ein wenig aufweichen.

Nach etwa einer halben Stunde hat er sich erholt und Zähne können gefahrlos geputzt werden, ohne den Schmelz zusätzlichabzutragen.

Ein Zusammenhang zwischen MIH und der Aufnahme von Bisphenol A sei unwahrscheinlich, urteilt das Bundesinstitut für Risikobewertung. Neueren Daten aus den Niederlanden zufolge betrage die orale Aufnahme von BPA bei Kindern höchstens 0,14 Mikrogramm pro Kilo Körpergewicht und Tag und sei 35-mal niedriger als die Dosis, die im Tierversuch verwendet worden sei.

Andere Auslöser seien wahrscheinlicher, etwa Erkrankungen der Mutter im letzten Schwangerschaftsviertel, Komplikationen bei der Geburt oder Erkrankungen des Kindes in den ersten Lebensjahren – vor allem solche, die mit hohem Fieber verbunden sind. Auch ein zu niedriger Vitamin-D-Spiegel oder eine frühe Aufnahme des Antibiotikums Amoxicillin würden als Ursache diskutiert, heißt es. Vermutlich müsse man von einem multifaktoriellen Geschehen ausgehen.

„Wir brauchen dringend mehr Forschung zu dem Thema“, sagt Krämer. „Tatsächlich lassen sich die Ameloblasten durch vieles in ihrer Arbeit stören, auch durch einen zu niedrigen pH-Wert, wie er bei Entzündungen entsteht, oder durch Sauerstoffmangel, der auf Asthma und andere Erkrankungen der Atemwege zurückzuführen sein kann.“ Solange die Ursachen nicht bekannt seien, sei eine sichere Prävention nicht möglich, sagt auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Präventivzahnmedizin (DGPZM), Stefan Zimmer. Zumal die Veränderungen der Zähne ja unbemerkt im Kiefer ihren Lauf nähmen.

Fluoiridbehandlung für bleibende Zähne

Ziel sei es in jedem Fall, Kreidezähne vor zusätzlicher Karies zu schützen: „Für Kinder unter sechs Jahren ist die täglich zweimalige Anwendung einer fluoridhaltigen Kinderzahnpasta daher dringend zu empfehlen“, sagt der Zahnmediziner. Eltern müssten darauf achten, dass die Zahnpasta intensiv in Kontakt mit den geschädigten Zähnen kommt.

Bei Kindern unter zwei Jahren rät Zimmer zweimal täglich zu einer sehr kleinen, nach dem zweiten Geburtstag zu einer jeweils erbsengroßen Menge. „Fluorid in der Zahnpasta stabilisiert den Zahnschmelz, indem es dessen Entkalkung verhindert, und es kann zudem bewirken, dass kleine Entkalkungen remineralisiert werden.“ Daher in der Küche fluoridhaltiges Speisesalz verwenden und die Zähne mindestens zweimal im Jahr vom Zahnarzt mit Fluoridlack behandeln lassen.

Nach dem Durchbruch der ersten bleibenden Zähne sollten Kinder dem Experten zufolge eine Junior- oder Erwachsenenzahnpasta mit höherer Fluoridkonzentration verwenden. Zusätzlich könnten nun zweimal täglich eine fluoridhaltige Mundspüllösung oder einmal wöchentlich ein hoch konzentriertes Fluoridgelee verwendet werden.

„Spätestens mit zweieinhalb, drei Jahren, wenn das Milchgebiss vollständig ist, sollten Eltern mit ihrem Kind zum Zahnarzt gehen“, rät Kinderzahnmediziner Krämer.

Wenn die zweiten Milchmolaren dann Verfärbungen aufwiesen, deute dies auf MIH hin – mit möglichen Folgen für bleibende Zähne. Sobald diese vollständig durchgebrochen seien und das Kind zu Behandlungen durch den Zahnarzt bereit sei, könne dieser die Zähne mit unterschiedlichen Techniken wieder aufbauen, ergänzt Zimmer. Bei guter Pflege könnten dann auch Kreidezähne ein Leben lang halten.

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