Abo

RDR2 und Assasin´s CreedComputerspiele als begehbare Kunstwerke

Lesezeit 5 Minuten
Betrachten, bewundern, dabei sein bei Red Dead Redemption 2

Betrachten, bewundern, dabei sein bei Red Dead Redemption 2

Vor den Männern, ganz unten im Tal, scheinen Felsen und Bäume vor dem weißen Untergrund zu schweben. Es ist nicht ganz klar, ob es der Nebel ist, der die Blicke der Reiter auf die Spielzeugwelt trübt, oder die Anstrengungen des Aufstiegs, der kraftraubende Weg durch den tiefen Schnee. In der Ferne steigt Rauch auf. Ein wärmendes Feuer oder eine drohende Gefahr? Gleich zu Beginn wird klar, wohin die Reise geht. Stumpfe Action wird hier nicht geboten. Sinnfrei ballern kann man woanders. Stattdessen öffnet sich die Tür in eine andere Dimension. „Red Dead Redemption 2“, die Fortsetzung der Western-Saga von Rockstar Games, in ein begehbares Kunstwerk.

Schnee in einem Western. Bereits Sergio Corbuccis Klassiker „Il grande silenzio“ (dt. „Leichen pflastern seinen Weg“, 1968) unterlief damit die Erwartungshaltung des Publikums. Doch die Entwickler greifen auf noch viel frühere Quellen zurück. Viele Szenen wirken, als seien die Werke alter Meister plötzlich lebendig geworden. Zum Beispiel „Die Heimkehr der Jäger“ von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahr 1565. Wie bei Bruegel, der die Landschaft als einer der ersten Künstler überhaupt als Bildgegenstand eigenen Rechts erkannte, wird die Tiefenwirkung durch das Setzen dunkler Akzente im Vordergrund erzielt, während der Mittelgrund grün und der Horizont hellblau gehalten sind. Auch das Stilmittel, einen erhöhten Standpunkt einzunehmen, um ein möglichst großes Areal zu überblicken, sowie die Staffelung des Bildraums mittels Hügel, Klippen und Erhöhungen findet sich wieder. Die „Immersion“, der Einbezug des Betrachters in die dargestellte Szenerie, ist keineswegs eine Erfindung der Ära der Videospiele.

Quälende Weite

Wie Bruegel erzeugt „Red Dead Redemption“ den Eindruck, dass man in die künstliche Welt hineinlaufen kann. Mit dem Unterschied, dass die moderne Technik das tatsächlich ermöglicht. Im Spiel – das unterscheidet die vergleichsweise junge Kunstform von der Malerei und vom Film – eröffnet sich ein unbegrenzt scheinender Bewegungsfreiraum, kann man seine Perspektive frei wählen. In solchen Open-World-Games wird die Landschaft zum eigentlichen Hauptdarsteller. „In dieser Welt passiert ständig etwas“, erklärt Rockstars Art Director Aaron Garbut. „Eine Klapperschlange, die dein Pferd erschreckt, ein Lagerfeuer oder die Lichter einer Stadt aus der Ferne. All diese Dinge, denen du begegnest, während du dich einfach nur dort aufhältst, ziehen dich in diese Welt hinein und erschaffen Erlebnisse, die sich echt und neu anfühlen.“

Die Story macht zahlreiche Anleihen bei Genreklassikern wie „Spiel mir das Lied vom Tod“ oder „Erbarmungslos“. Auch die Entschleunigung als Stilmittel haben sich die Entwickler bei Sergio Leone und Clint Eastwood abgeschaut. Um von einer Schießerei zur nächsten zu kommen, sind endlos scheinende Strecken auf dem Pferderücken zu überwinden. Es wird förmlich spürbar, welche Mühen es kosten muss, diese monströs schöne Weite zu durchqueren. Überall lauert das Verderben durch wilde Tiere, marodierende Banden oder den Arm des Gesetzes. Wer hier überleben will, muss sich irgendwann die Hände schmutzig machen und wird ganz schnell vom Jäger zum Gejagten. Für strahlende Helden ist hier kein Platz. Abermals stößt man auf ein Thema der Malerei des 16. Jahrhunderts: das zu jeder Zeit prekäre Verhältnis zwischen dem Menschen und der Welt, in der er lebt. Wenn der anfangs alles malerisch bedeckende Schnee zu schmelzen beginnt, verwandeln sich die von den Rädern der Pferde kutschen aufgewühlten Straßen zu schlammigen Schneisen, die die Landschaft wie ein schmutzig-braunes Netz überziehen. Eisenbahnschienen durchschneiden ein Tal, Stollen bohren sich tief ins Erdreich, um Fabrikgebäude herum bilden sich Seen aus schwarzem Wasser. An vielen Orten trifft die Hauptfigur Arthur Morgan auf von der Zivilisation und der beginnenden Industrialisierung geschlagene Wunden.

Die Spiele

„Red Dead Redemption 2“ Rockstar Games, für PS4 und Xbox One, ab 18 Jahren

„Assassin's Creed Odyssey“ Ubisoft, für PC, PS4 und Xbox One, ab 16 Jahren

Seit die Technik solche Feinheiten ermöglicht, werden auch das Wetter und der Wechsel der Jahreszeiten zum spielbestimmenden Faktor. Voraussetzung ist „ein tiefes Verständnis der Flora und Fauna zu einer bestimmten Zeit“, erklärt Thierry Dansereau. Dansereau ist als Art Director für die Landschaften im Antike-Epos „Assassin's Creed Odyssey“ zuständig. Auf einer Studienreise nach Griechenland sammelten er und sein Team Material – auch das ganz nach der Tradition der „Nachahmung der Natur“, wie sie die Malerei seit Jahrhunderten kennt. Im Spiel kann man die digitale Ägäis zu Fuß oder per Pferd erkunden, man taucht zu versunkenen Wracks hinab oder lässt sich am Strand vom Spiel des Lichtes auf den Wellen faszinieren. Erstmals habe man sich intensiv mit der Darstellung von Schaum befasst, erklärt Dansereau. Am Computer lässt sich heute exakt berechnen, wie winzige Wassertröpfchen das Licht reflektieren. All das nur, damit sich die Wellen realistisch am Ufer brechen. „Wir wollten nicht nur die Schönheit der Landschaft darstellen, sondern auch die Art und Weise, wie sie von den Menschen genutzt worden ist“, ergänzt World Designer Benjamin Hall. „Die griechischen Stadtstaaten waren durch natürliche Grenzen definiert. Das haben wir zur Grundlage unserer Rekonstruktion gemacht. Wir benutzten digitale Höhenmodelle der NASA, Google Earth und andere topographische Karten und setzten sie in Bezug zu historischen Quellen.“

Unwägbares Wettersystem

Die komplexe, in zig Nebenhandlungen verzweigte Geschichte von „Assassin's Creed Odyssey“, in der auch reichlich Blut fließt, mag für sich faszinierend sein. Doch immer wieder ertappt man sich dabei, dass man viel lieber die sich auf 130 Quadratkilometern erstreckende Welt mit all ihren geologischen und biologischen Eigenheiten erkundet. Zugrunde liegt dem Ganzen ein dynamisches Wettersystem, dessen vielfältige Effekte auf die virtuelle Welt nicht einmal die Entwickler voraussehen können. Damit wird der Spieler mit seinen individuellen Entscheidungen zum Teil eines Experiments. Er selbst ist es, der über den Blick auf diese Welt gebietet und dort möglicherweise Dinge zu sehen bekommt, die so noch kein anderer gesehen hat. Er ist der Regisseur in seinem eigenen Film. Es wäre spannend zu erfahren, was Pieter Bruegel und seine Zeitgenossen aus solchen Möglichkeiten gemacht hätten.

Rundschau abonnieren