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Schulbildung„Lesen durch Schreiben“ – Motivation oder schlicht der falsche Weg?

Lesezeit 4 Minuten
Hat sichtlich Spaß am Schreiben: Lina hat im ersten Schuljahr gelernt, alles nach Gehör auf Papier zu bringen.

Hat sichtlich Spaß am Schreiben: Lina hat im ersten Schuljahr gelernt, alles nach Gehör auf Papier zu bringen.

Sätze, wie sie die siebenjährige Lina nach einem Jahr Rechtschreibunterricht zu Papier bringt, lassen bei vielen die Emotionen hochkochen. „Heute, gen, wir, inz, Schwim, Bat“, schreibt die Bonner Grundschülerin selbstbewusst auf, ihr bereitet das kleine Diktat sichtlich Spaß. In den zurückliegenden Monaten hat sie gelernt, die Laute der einzelnen Worte nach Gehör zusammenzufügen, ein Komma markiert ein neues Wort. Das „g“ hat die Linkshänderin gespiegelt, das passiert ihr noch manchmal.

„Lesen durch Schreiben“ heißt die Methode, mit der auch in NRW viele Erstklässler schnell selbstständig Texte aufschreiben können. Wie viele Kinder genau es sind, ist unklar – Methoden zum Schreibenlernen sind nicht in den Lehrplänen verankert, ihr Einsatz obliegt Grundschulen und Lehrern. Grammatikregeln spielen bei dem Verfahren allerdings keine Rolle, was die vielen Kritiker erzürnt. In einer nicht-repräsentativen Online-Umfrage zum Beispiel votierten mehr als 90 Prozent der knapp 1500 Teilnehmer gegen „Lesen durch Schreiben“. Doch die Sache ist komplizierter.

Die Diskussion brandet in deutschen Klassenräumen und Wohnzimmern schon seit Jahren immer wieder auf. „Die Rechtschreipkaterstrofe“ titelte der „Spiegel“ etwa im Juni 2013. Im darauffolgenden Jahr diskutierte der nordrhein-westfälische Landtag das Thema. Jetzt ist die Frage nach dem besten Weg zur guten Rechtschreibung wieder auf die Agenda gerückt, nachdem die neue Schulministerin Yvonne Gebauer angekündigt hat, die Methode auf den Prüfstand zu stellen.

Im Ministerium sind die Klagen weiterführender Schulen, dass die Rechtschreibkompetenz der Fünftklässler nicht den Erwartungen entspreche, wohlbekannt, sagt Sprecher Daniel Kölle. So ist für das nächste Jahr mit zwei Universitäten eine wissenschaftliche Untersuchung zu den Rechtschreibleistungen der Schüler geplant. NRW ist mit dieser Skepsis nicht alleine – Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) etwa hat eine „Fehlerkorrektur von Anfang an“ angemahnt, das Aus für „Lesen durch Schreiben“ im Land.

„Mich ärgert schon der Begriff 'Lesen durch Schreiben' sehr“, sagt dagegen die Bonner Grundschullehrerin Bettina Jooß. Sie findet es gut, dass die Kinder sofort etwas über Dinge aufschreiben können, die sie wirklich interessieren – von Fußball bis Pokemon. Allerdings betont sie: „Für uns ist das nur der erste Schritt im Schreiblernprozess, die Basis“. Mit der Methode könne sie zudem gut auf die individuellen Leistungen der Kinder eingehen, denn die Vorkenntnisse der i-Dötzchen seien sehr unterschiedlich.

Kinder schreiben mehr als in den 1970er Jahren

„Die Methode motiviert ungemein“, sagt sie nach 14 Jahren Berufspraxis. „Die Kinder schreiben viel mehr als im Unterricht der 1970er Jahre.“ Verunsicherten Eltern versucht sie mit einem Beispiel den Wind aus den Segeln zu nehmen: „Wenn wir Wörter wie Popocatepetl oder Titicacasee hören, schreiben wir sie doch auch nach Gehör auf.“

Wie Lehrerin Jooß kann auch Mutter Kristin Gehm der Methode Positives abgewinnen. Ihre Tochter hat gerade die erste Klasse hinter sich und erste Geschichten wie die vom Besuch im Kletterwald oder auf dem Bauernhof zu Papier gebracht. „Für mich war alles von Anfang an verständlich“, sagt sie. „Ich selber habe in meiner Schulzeit am Anfang nur auswendig gelernt.“ Bedenken wegen der Methode und der Rechtschreibfehler hat sie nicht – die Lehrerin habe auch sofort damit begonnen, erste Regeln zu erläutern.

So praktiziert es auch die Schule von Karin Müller-Recht in Köln, die ein engmaschiges Rechtschreibkonzept entwickelt hat. „Wenn man so etwas ergänzend macht, ist das System wunderbar“, sagt die Lehrerin. Ihre Schule hat einen „Rechtschreib-Baum“ entwickelt, in dem alle Grammatik-Phänomene vorkommen. Nach dem Karteikartenprinzip können alle Kinder individuell damit lernen. „Wir gehen mit der Methode schon kritisch um“, sagt Müller-Recht. Bei ihr lernen die Kinder auch, Texte zu überarbeiten und Fehler zu finden. Eine Ursache der Kritik am System sieht die Kölnerin darin, dass die Eltern rechtschreibschwacher Schüler auf der Suche nach einem Grund für die Probleme ihrer Kinder sind und glauben, ihn durch „Lesen durch Schreiben“ gefunden zu haben.

Auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) und die Landeselternschaft wollen die Methode verdammen. Der Vorwurf, die Methode sei für den Unterricht nicht geeignet, sei „nicht haltbar“, betont der VBE-Vorsitzende Udo Beckmann. „Wir sollten lieber über die Problematik guten Unterrichts diskutieren statt über eine Methode“, sagt Birgit Völxen, Geschäftsführerin der Landeselternschaft Grundschulen. Sie bewegen Themen wie Lehrermangel, Unterrichtsausfall oder überfüllte Lehrpläne. „Aber dieser andere Teil der Diskussion ist deutlich teurer“, sagt sie.

Eine vehemente Kritikerin des Systems ist dagegen die Legasthenie- und Rechtschreibtrainerin Kerstin Bungarz aus Königswinter. „In den vergangenen Jahren ist die Zahl der rechtschreibschwachen Kinder stark gestiegen“, sagt sie. Damit meine sie nicht die Legastheniker, betont sie, sondern die Kinder, die Probleme mit der Rechtschreibung hätten. Und das macht sie an „Lesen durch Schreiben“ fest. „Die Kinder prägen sich unter anderem visuell ein, wie etwas geschrieben wird“, sagt die gelernte Grund- und Hauptschullehrerin. Da sei es schwer, Worte, die falsch im Gedächtnis abgespeichert seien, zu korrigieren. „Es ist wesentlich sinnvoller, wenn die Kinder die Rechtschreibung direkt richtig lernen“, findet sie. Zwar sei es motivierend für die Mädchen und Jungen, wenn sie direkt eigene Geschichten erzählen könnten. „Aber die Rechtschreibung ist sehr wichtig.“

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