SprechtherapieStottern belastet Körper und Seele – was dagegen hilft

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Yasin Gül stottert und besucht eine Therapie-Gruppe an der Bonner LVR-Klinik.

Yasin Gül stottert und besucht eine Therapie-Gruppe an der Bonner LVR-Klinik.

Elisa (15) beschreibt ihr Stottern: „Wenn ich um die Wörter kämpfe“, sagt die Schweizerin, „ist mein Körper total angestrengt.“ Wer den kurzen Vortrag an diesem Morgen hört, kann nicht glauben, was er auf dem Video sieht und hört, das bei Elisas Vorstellung zur Therapie in Bonn aufgenommen wurde. Fast bei jedem Wort greift da die junge Frau zuerst an ihren Haarzopf, geht dann mit ihrem anderen Arm über den Kopf. Als ob sie einen epileptischen Anfall hat, sich schützen will. Es sind Elisas Techniken, um in den „Kampf um die Wörter“ zu gehen, nur so kommen die Wörter aus ihrem Mund. „Das hat mein Stottern noch auffälliger gemacht“.

Wochenanfang in Haus 27 der LVR-Klinik in Bonn. Hier sitzen in einem Therapieraum zwölf Menschen zwischen 15 und 35 Jahren (die Altersgrenze nach oben ist übrigens prinzipiell offen), die nicht flüssig sprechen können. Die voller Angst und Scham nicht nur um Wörter, sondern auch um ihre Chancen im Leben ringen. Landläufig heißen sie Stotterer. Oder Stotternde, wie die Betroffenen oft sagen. Es ist wohl nicht wesentlich, aber der Begriff „Stotternder“ klinge nicht so defizitorientiert, da „Stotterer“ den Menschen nur auf seine Störung reduziere, so die Erklärung der Therapeuten.

Yasin Gül (30) aus Coburg ist einer der Patienten, er stottert, „seit ich denken kann.“ Schon als Kind war ihm das peinlich, er fängt schon früh an, sich für sein Defizit zu schämen. Die Angst vor dem Sprechen wird immer größer, wie Elisa entwickelt er „Taktiken“, um die Peinlichkeiten zu vermeiden: „Wenn mich einer fragt, wieviel sind zwei und zwei und ich weiß, dass ich beim Wort „vier“ hängen bleibe, sage ich irgendwann „weiß ich nicht“ oder „fünf“, weil das leichter geht“, erzählt er. Alle in der Bonner Therapierunde kennen das Problem, jeder entwickelt eine andere „Vermeidungstaktik“.

„Schauen Sie sich das nicht an“

Auch von Yasin Gül gibt es ein Erstaufnahmen-Video. „Oh Gott, schauen Sie sich das nicht an“, meint er und lächelt verlegen. Es ist tatsächlich eine Qual – für den Zuhörer, den Zuseher. Wieviel schlimmer aber muss es für Yasin Gül sein? 30, 40 Sekunden versucht er, sich vorzustellen, seinen Namen zu sagen. Es hakt, die Lippen zittern, er schluckt. Die zwei Wörter, die seit Geburt zu ihm gehören, wollen den Mund nicht verlassen. Elisa beschreibt diese Momente so: „Der Hals geht zu.“ Zwischen dem Video und dem Gespräch in Bonn liegen vier Wochen, liegen Welten.

Stottern ist im Jugend- und Erwachsenenalter in der Regel nicht heilbar, so die ernüchternde Eingangsbemerkung der Bonner Experten, als sie über ihre Therapie erzählen. „Auch medikamentöse Behandlungen gibt es bislang nicht“, sagt Sprach-Therapeut Thilo Müller, der seit fast fünf Jahren in der LVR-Klinik arbeitet. Er war selber einmal Therapieteilnehmer in Bonn und gibt seit dem Abschluss seines Sprachtherapie-Studiums Erfahrungen und Hilfe an andere Stotternde weiter.

Haus 27 auf dem weitläufigen parkähnlichen LVR-Gelände in Bonn bietet im Jahr für insgesamt fünf Gruppen mit je zwölf Teilnehmern stationäre Therapien an. Die Patienten sind in Einzel- und Doppelzimmern untergebracht, die Therapie gliedert sich in eine erste Phase von fünf Wochen, eine zweite von drei Wochen sowie Nachbehandlungen von je zweimal einer Woche innerhalb der folgenden neun Monate. An jedem Wochenende fahren die Patienten, die aus dem gesamten Bundesgebiet und sogar aus dem deutschsprachigen Ausland kommen, nach Hause.

In jüngster Zeit ist es schwieriger geworden, Therapiezusagen von Krankenkassen zu bekommen. Einige Kassen sehen nicht die Notwendigkeit einer so intensiven und zeitaufwändigen Behandlung. Nach Einschätzung dieser Kassen, erläutern die Mediziner, könne das gleiche Ergebnis mit einer ambulanten Therapie erzielt werden. „Gerade bei so schwer betroffenen Stotternden ist eine intensive und stationäre Behandlung notwendig“, sagt Christian Dohmen, Chefarzt der Neurologie der LVR-Klinik, zu der die Stottertherapie gehört. „Sie sollten nicht nur die reine Sprechtechnik erlernen. Damit ist es bei derart beeinträchtigten Menschen nicht getan. Wenn der psychosoziale Aspekt nicht therapeutisch integriert wird, ist das Ergebnis nicht vergleichbar mit unseren Erfolgen. Und das funktioniert ambulant nicht gleichwertig.“ Gerade die stationäre Behandlung und ein Kombinationsansatz verschiedener Methoden lassen die Bonner Therapie – nach eigener Einschätzung – einzigartig werden.

Initiator der Bonner Stottertherapie ist Holger Prüß, der seit 1989 für die Behandlung jugendlicher und erwachsener Stotternder in der LVR-Klinik zuständig ist. Wie sein Kollege Thilo Müller ist auch Prüß selbst Stotternder. „Durch den zunehmenden Druck, stottern zu müssen, dies aber um keinen Preis zeigen zu wollen, erlebte ich die für Außenstehende nur schwer nachvollziehbare, extreme Diskrepanz zwischen nach außen nicht sichtbarer Stottersymptomatik und sehr hohem subjektiven Leistungsdruck“ schreibt er über seine eigene Geschichte. Für Prüß sind eben nicht nur das Problem der „Sprechunflüssigkeit“, sondern auch die psychosozialen Folgen Aspekte der Therapie. Denn für viele Betroffene sei Stottern mehr als nur ein Problem des Sprechens.

Wichtig, erst einmal die Angst abzubauen

Wie Yasin Gül über den Verlauf seiner Schulzeit berichtet, sind Lebensgestaltung und Lebensqualität in hohem Maße betroffen. Angst, Scham, Selbstabwertung, Perspektivlosigkeit – die Therapeuten in Bonn haben mit Patienten zu tun, die eine ganze Reihe von Problemen mit sich schleppen. „Bevor man Stotternden hilft, flüssiger sprechen zu lernen, ist es wichtig, erst einmal die Angst abzubauen. Denn alle Erfahrungen zeigen: Nur so kann langfristig ein angstfreies und flüssigeres Sprechen erreicht werden“, sagt Prüß. Therapieansätze, die jugendlichen und erwachsenen Stotternden eine dauerhafte Heilung garantieren, sofern sie nur lange genug mit den erlernten Methoden sprechen oder das Stottern auf ein Problem des Atmungsapparates reduzieren, gelten in der Regel als unseriös. Auch Therapeuten, die behaupten, für alle Stotternden die Universallösung parat zu haben, sind mit Vorsicht zu genießen. Es gibt erwiesenermaßen nicht die eine Therapie, die allen Betroffenen in gleichem Umfang hilft. Stattdessen muss jeder Stotternde die Therapie finden, die auch zu ihm passt und in der keine unhaltbaren Versprechungen gemacht werden. So die Warnungen aus Bonn.

Was passiert in der LVR-Klinik? Es hört sich so banal an: In der Kleingruppe wird Telefonieren geübt. Die Patienten rufen in Hotels, Apotheken oder Blumenläden an und stellen dort vorbereitete Fragen. Für viele ist es schon eine große Herausforderung, den eigenen Namen am Telefon sagen zu müssen.

Wichtig ist, dass dabei anfangs auch wirklich gestottert wird und man nicht versucht, wieder die alten Vermeidungsstrategien anzuwenden. „Wenn ich mein Stottern verstecke, wird die Angst nämlich nicht weniger“, wird aus der Gruppe berichtet. Manchmal legen die Angerufenen auf, sehr selten reagieren sie mit Unverständnis oder Belustigung. Über die Erfahrungen wird in der Gruppe ausführlich gesprochen. Schritt eins also heißt: Man lernt, dass Stottern ganz „normal“ ist, die allermeisten Menschen auch „normal“ darauf reagieren. Der Stotternde soll sich Zeit nehmen – es passiert nichts Schlimmes, wenn der Angerufene mal auflegt. So gestärkt sinkt die Angst, was sich auch auf andere reale Situationen des Alltags übertragen lässt – das Ansprechen fremder Menschen in der Stadt oder in Geschäften.

Wirksame Techniken aufbauen

Parallel zu dem Abbau der Angst steht der Aufbau wirksamer Sprechtechniken: „Stottern kontrollieren“. Dabei muss bedacht werden, dass bei den Patienten das Stottern „hoch automatisiert“ und – erschwerend – ausgesprochen verschieden ist. So sollen in einem ersten Schritt „Mitbewegungen und Anspannungen“ abgebaut werden. Elisa, die 15-Jährige aus der Schweiz, die immer die Bewegung mit den Armen auf und um den Kopf machte, stellt sich vor den Spiegel, sieht sich das Video von der Erstaufnahme an. Erstes Ziel ist immer, „im Symptom wach“ zu bleiben, nicht „abzutauchen“ und dabei die Kontrolle über das Stottern abzugeben. Ein fundamentaler Satz in der Therapie: „Ich kann vielleicht nicht entscheiden, wo, wann, bei wem und wie oft ich stottere. Aber ich habe immer in der Hand, WIE ich stottere.“

Ein Therapietag in Bonn geht von 9 bis 17 Uhr, gemeinsames Essen, die Abendgestaltung ist jedem selbst überlassen. Tatsächlich wird es auch gar nicht so ungern gesehen, wenn die Patienten sich „unters Volk“ mischen: „Der Erfolg entscheidet sich nicht im Therapieraum, sondern im wirklichen Leben: im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis, am Telefon, in Gesprächen mit Fremden sowie in Schule und Beruf“, so die Bonner Maxime.

Für Yasin Gül hat sich jetzt eine neue Perspektive aufgetan. Er hat eine Stelle als Druckerhelfer begonnen mit der Aussicht, sich zum Mediengestalter weiterzuentwickeln. „Bei meiner Bewerbung hatte ich schon angegeben, dass ich Stotterer bin. So nimmt man sich selbst den Druck.“ Vor der Therapiegruppe in Bonn hat er probeweise den Vortrag, mit dem er sich an seinem ersten Arbeitstag den neuen Kollegen vorstellen will, gehalten. Kaum zu glauben, wenn man sein Video gesehen hat, in dem er mit seinem Namen kämpft. Yasin Gül lächelt jetzt: „Es ist ein tolles Gefühl. Ich fühle mich wie entfesselt.“

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