Stoßgebet zum HaarhimmelBärte sind im Trend – aber was, wenn der Bartwuchs ausbleibt?

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Barttoupet scheint auch keine Lösung.

Barttoupet scheint auch keine Lösung.

Bitte nicht. Nicht schon wieder. Ein skeptischer Blick, ich kenne ihn schon. Wie kaputte Suchscheinwerfer irren die Augen des Kellners in wirren Routen von links nach rechts, von oben nach unten. Sie fixieren meinen Mund, dann mein Kinn, dann meine Wangen, dann wieder mein Kinn. Sie leuchten jeden Fleck meines Gesichts aus. Aber da ist nichts außer nackter Haut. Kein Hinweis auf vorherige Klingenbehandlungen, kein viriles Ausrufezeichen, keine Wurzel der Männlichkeit.

Ein Moment unangenehmen Schweigens. Mein Gegenüber streicht sich nachdenklich übers Kinn. Es knirscht. Nun denn, gleich wird sie beginnen, die Konversation, die ich erwartet hatte, es ist die schlimmste meines Lebens vielleicht, ein Sisyphos-Gespräch. Ich bin auf ewig dazu verdammt, in Kneipen immer dieselben Worte zu ertragen, dann die immer gleiche Bewegungsfolge durchzuführen. Man muss sich mich als unglücklichen Trinker vorstellen.

„Kann ich vielleicht…“, setzt der Theken-Theatraliker an. Ich zücke den Personalausweis. Hatte ich ohnehin schon vor der Bestellung aus dem Portemonnaie genommen, wo er immer ganz vorne im Kärtchenfach steckt, quasi auf „Schnellzugriff“. Die Gewohnheit. „Ist nicht böse gemeint“, sagt er. Jaja, du mich auch, denke ich. Könnte ja auch von meinem großen Bruder sein, oder? „Man kann ja nie wissen, bei der Jugend heute“, sagt er. „Bestimmt“, sage ich und bekomme mein Getränk. Es ist ein Bier. Biertrinken ist in Deutschland ab 16 Jahren erlaubt. Ich werde in wenigen Monaten 22.

Leichter Schatten aus Stoppeln

„Man kann ja nie wissen“, was für ein Unsinn, denke ich. Schon Hunderte Male habe ich das gehört, von quirligen Supermarktkassierinnen, müden Lotto-Annahmestellen-Besitzern und grimmigen Türstehern, ja dieses „Man kann ja nie wissen“-Gerede ist ganz sicher das schlimmste an der Sache. Denn man kann ja wohl wissen. Wenn Mann einen Bart hat. Aber ich, ich habe den leider so gar nicht.

Es gibt einen Punkt im Leben jeden Mannes, quasi eine Schwelle des Erwachsenwerdens, die Junge-zu-Mann-Transformation: Bei manchen geht sie mit 14 vonstatten, bei anderen erst mit 18. Aber sie passiert: Auf dem Kinn und den Wangen legt sich ein leichter Schatten aus dunklen Stoppeln, sie werden dichter und länger und irgendwann dann ist er da, unangekündigt zwar und überraschend, ein spontaner Gast auf der Hormon-Party der männlichen Haut, aber er kommt: der Bart. Ein anatomisch-sichtbarer Altersnachweis, der einen Personalausweis bis auf Verkehrskontrollen und Giro-Konto-Eröffnungen überflüssig macht. Ich dagegen musste ob meines bartlosen Daseins meinen Ausweis schon so oft vorzeigen, dass ich mittlerweile selbst zweifle, ob ich wirklich schon über 18 bin, ob sich nicht Arzt und Eltern und Standesamt gravierend im Jahr getäuscht haben. Traurig ist das, denn einst war ich in dieser Sache noch selbstbewusster.

Mit 14 Jahren dachte ich, der Bart wird schon kommen, mit 16 spätestens. Als meine Klassenkameraden sich in der Sportumkleide heimlich die Härchen über der Oberlippe entfernten, mit Shampoo und Einwegrasierern, die sie bei ihren Großvätern aus dem Badezimmerschrank geklaut hatten, da war ich schon fertig umgezogen und wartete geduldig vor der Halle auf sie.

Mit 16 Jahren dachte ich, der Bart wird schon kommen, mit 18 spätestens. Mein bester Freund konnte sich zu dieser Zeit bereits beachtlich dichte Koteletten stehen lassen. Was war ich neidisch. Regelmäßig fragten Mädchen auf Partys, warum er denn seinen kleinen Bruder mitgebracht hatte. Sie meinten mich.

Barbier Felix Hohleich rasiert unter neidischen Blicken des Autors einen Kunden.

Barbier Felix Hohleich rasiert unter neidischen Blicken des Autors einen Kunden.

Mit 18 dachte ich, wenigstens mit dem Schnurrbart wird’s schon noch klappen, bitte, lieber Gott im Haarhimmel, irgendwas muss da doch noch passieren. Heute denke ich, das war’s. Ich habe mich damit abgefunden, mir wird kein Bart mehr wachsen, es ist zu spät. Zwar rasiere ich mich mittlerweile alibimäßig einmal in der Woche, allerdings nur, damit ich mich nicht allzu schlecht fühle, neben dem Klingenarsenal meines Mitbewohners. Trimmgerät, Bartshampoo, Bartöl – all das werden für mich immer nur Wunschträume bleiben, Utensilien eines kratzigeren Lebens, das ich nie führen werde. Es sind vielleicht 25, maximal 30 Bartstoppeln, die sich bei mir mit der Zeit auf Kinn und Hals gebildet haben. Sie sind blond und man sieht sie kaum. Es werden – entgegen des Volksglaubens – auch nicht mehr, egal, wie oft ich sie feinsäuberlich eliminiere. Es ist zwecklos.

Ich bin wohl für immer oben ohne. Das ist zwar nervig, aber ich habe es akzeptiert, wenngleich mir einige Lebenswege dadurch natürlich für immer versagt bleiben: Weder mache ich mich gut als orthodoxer Jude, noch als Salafist – nicht, dass ich das vorgehabt hätte. Auch dem Kommunist in marxistischer Tradition passe ich nicht ins Bild. Wer würde mich denn beim Aufstand des Proletariats ernst nehmen – ein Revolutionär ohne Rauschebart? So wenig vorstellbar wie, dass ich noch einmal eine Karriere als biblischer Prophet, Holzfäller oder Nobelpreisträger einschlage. Robert Koch, Albert Einstein, Günter Grass, Thomas Mann – die größten Denker vergangener Jahrhunderte – sie alle trugen eine feine bis zauselige Gesichtsbehaarung.

Alibirasur fürs Wohlbefinden

Der Bart aber, da habe ich Glück, ist sonst mittlerweile weitestgehend losgelöst von seiner sozialen Bedeutung. Galten im frühen Mittelalter noch Männer ohne Bart als Verbrecher, da ihnen ebendieser bei kleineren Vergehen als Strafe nach der Verurteilung abgeschnitten wurde, kann ich ein weitestgehend unverdächtiges Leben führen. Dennoch habe ich das Gefühl, der Bart hat gerade in der Moderne eine neue Funktion gewonnen, er ist das Make-up des Mannes. Ein zu kurzes Kinn? Der Bart macht’s weg. Die Wangenknochen betonen? Einfach zwei Tage nicht rasieren. Falten am Mund? Lass’ Haare drüber wachsen. Und ja, verdammt, dazu kommt: Er ist einfach sexy, der Bart.

Natürlich nicht diese fiesen Rotzbremsen auf der Oberlippe. Aber Vollbärte, der Drei-Tage-Bart? Das sind Attraktivitätsgaranten. Ich habe noch nie eine Frau sagen hören, dass sie Bärte nicht gut findet. Was bei anderen einfach so aus den Wangen sprießt, muss ich dann mühsam versuchen, mit Humor und Charakter wettzumachen. Gar nicht so leicht, erst recht, seit der Bart das Markenzeichen des trendigen Mannes geworden ist. Neuzeit-Wikinger, kernige Typen, die aussehen, als könnten sie auch drei Tage alleine in der Wildnis überleben. Ich dagegen sehe immer aus, als ob ich noch Mühe hätte, mir die Schuhe selbst zu binden.

Studien über den Bart gibt es in großen Mengen, man findet welche, die sagen, der Bart kratze beim Küssen und welche, die sagen, der Bart sei unhygienisch. Aber keine, die sagt, der Bart sei nicht anziehend auf Frauen. Laut einer Umfrage der Online-Partnervermittlung „Parship“ findet die Damenwelt den Drei-Tage-Bart am besten. Auf Platz zwei folgt dann tatsächlich die Aussage „Ich mag’s glatt rasiert am liebsten“. Die impliziert aber natürlich schon: Generell könnte da etwas wachsen – im Gegensatz zum evolutionären Kahlschlag auf meiner Haut. Außerdem bin ich mir sicher: Diese Frauen haben eine süße Hugh-Grant-Version von Bartlosigkeit im Kopf – und nicht einen Anfang 20-Jährigen, der sich, ohne aufzufallen, auf die Abifahrt des örtlichen Gymnasiums schmuggeln könnte. „Immerhin musst du dich nicht täglich rasieren“, sagen sie dann, wenn mir die Bart-Misanthropie über den Kopf zu wachsen droht. Nur: Das muss man auch nicht, wenn man einen Bart trägt. Dafür würde ich auch das Haar in der Suppe in Kauf nehmen.

Warum also ich? Weshalb muss ich das Babyface unter den Borstigen sein? Ich rufe bei einem Dermatologen an, bei einem zweiten, irgendwann sind es zehn. Sie alle wollen oder können mir nichts zu meinem glatten Schicksal sagen. Selbst von der Kölner Uniklinik erhalte ich eine Absage. Bin ich ein unerforschtes Wesen? Habe ich eine noch unbekannte Krankheit?

Dann muss also Doktor Google Antworten liefern. Auf Webseiten für Bart-Enthusiasten (ja, die gibt es tatsächlich!) heißt es, der spärliche Wuchs sei genetisch bedingt, man solle sich nur einmal in seiner Familie umgucken. Mache ich: Meine beiden Großväter trugen Vollbart, mein Vater trägt Vollbart, mein Halbbruder auch. „Erbschaftsbetrug!“ schreit es in mir. Ein weiterer Grund, lese ich, kann auch ein Mangel an Testosteron sein. Eine Hormontherapie könnte helfen, man solle ich an einen Arzt wenden. Guter Witz, denke ich.

Weiter unten auf der Seite finde ich noch dubiose Mittel mit Namen wie „Minoxidil“ oder „Tribulus“. Kurz überlege ich. Ist mir dann aber doch zu heikel. Ich scrolle weiter. Das Internet ist voll mit Männern, denen es genauso geht wie mir. Das fühlt sich gut an, irgendwie wie eine Solidargemeinschaft der Fläumlinge. Als dann auch noch in einem Forum die Behauptung aufgestellt wird, Günther Jauch gehöre zur Riege der Bartlosen, fühle ich mich vollends mit mir selbst im reinen. Günther Jauch, denke ich, das ist in Ordnung, wenn dieser Alleskönner von einem Mann keinen Bart hat, na dann brauch ich auch keinen. Dann aber finde ich Fotos des Moderators mit verstoppeltem Gesicht. Verdammt.

Das kann bis zum 25. Lebensjahr dauern

Meinen Seelenfrieden finde ich dennoch im Internet. Und zwar im folgenden Satz: „Manchmal braucht der voll ausgeprägte Bart Zeit, das kann bis zum 25. Lebensjahr dauern.“ Drei Jahre. In dieser Zeit hat Heinrich Heine alle Teile seines Salons geschrieben, wurde die gesamte Piazza Pio in Pienza errichtet, wäre Phileas Fogg fast 14. Mal um die Welt gereist. Mein Gesicht beginnt zu kribbeln. Drei Jahre. Vielleicht klappt’s ja doch noch.

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