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WissenschaftWie funktioniert das Denken? – Große Fragen der Hirnforschung

Lesezeit 6 Minuten
Die Nervenzellen im Gehirn folgen einem gemeinsamen Takt – und können in verschiedenen Orchestern spielen.

Die Nervenzellen im Gehirn folgen einem gemeinsamen Takt – und können in verschiedenen Orchestern spielen.

Wie groß ist eigentlich das Gehirn? Etwa 100 Milliarden Nervenzellen bilden unser Denkorgan – so wurde es im Medizinstudium gelehrt. Und nie hinterfragt.

Bis 2009 eine brasilianische Neurowissenschaftlerin „nachgezählt“ hat (natürlich hat sie nicht gezählt, sondern zahlreiche Gehirnproben analysiert und hochgerechnet). Das Ergebnis fiel deutlich geringer aus: 86 Milliarden Nervenzellen bilden das Gehirn des Menschen. Immer noch eine große Zahl. Aber nicht mehr, wenn man sie in Relation zu allen Zellen des menschlichen Körpers stellt: Der soll aus 100 Billionen Zellen bestehen. Anders gesagt: hundert mal tausend mal tausend Millionen Zellen. Dagegen wirkt das Gehirn relativ klein: Nur eine von knapp 1200 Zellen im Körper ist eine Hirnzelle. Aber Hirnzellen sind erstaunlich „hungrig“. Sie verbrauchen je nach Schätzung zwischen 20 und 25 Prozent der gesamten Energie des Körpers. Mindestens jedes fünfte Brötchen, jedes fünfte Eis essen wir nur für das Gehirn. Das heißt wiederum: Jede Gehirnzelle verbraucht viele hundertmal mehr Energie, als eine durchschnittliche Körperzelle. Denken ist offensichtlich sehr aufwendig.

Aber wie funktioniert Denken? Man weiß, dass viele Funktionen über das ganze Gehirn verteilt sind. So wie das Gedächtnis: Die Erinnerung etwa an die eigene Großmutter wird nicht in einer speziellen Zelle, einer „Großmutterzelle“ im Gehirn festgehalten. Sie wird auch nicht in einem Erinnerungszentrum gespeichert.

Das Gehirn schwingt. Es hat einen Rhythmus

Die Erinnerung ist wie alle anderen vielmehr über das ganze Gehirn verteilt. Millionen von Zellen speichern die Erinnerung an Omas Stimme, an ihr Gesicht, ihren Geruch und viele Erlebnisse mit ihr. Wenn aber die Zellen, die eine spezielle Erinnerung speichern, über das ganze Gehirn verteilt sind, wie finden sie dann zueinander?

Und zweitens: Wenn eine einzelne Erinnerung, wie etwa die an die Großmutter, schon Millionen von Zellen benötigt, wie reicht dann die Zahl von 86 Milliarden Zellen für die Erinnerungen eines ganzen Lebens? Für Erlebnisse, Gesichter, Situationen, Gefühle, Musik und Gelerntes aus sieben, acht oder gar neun Jahrzehnten?

Die Antwort auf diese zwei Fragen ist überraschend: Das Gehirn schwingt. Es hat einen Rhythmus. Einen ersten groben Blick auf dieses rhythmisch schwingende Gehirn bietet die Elektro-Encephalo-Graphie die Hirnstrommessung, das EEG. Bei dieser alltäglichen Untersuchung in der neurologischen Praxis werden elektrische Aktivitäten des Gehirns aufgezeichnet. Sehr grob zwar, weil die schwachen Signale nur zum Teil durch die Knochen- und Hautschichten des Schädels kommen. Aber doch ausreichend, um verschiedene Rhythmen zu unterscheiden und krankhafte Veränderungen – etwa bei Epilepsie – festzustellen. Rhythmen ändern sich, je nachdem, ob der Patient die Augen öffnet oder schließt, ob er wach ist oder schläft.

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Bei genaueren Untersuchungen kann man aber feststellen, dass es zahlreiche, über das Gehirn verteilte unterschiedliche Rhythmen gibt. Wahrscheinlich ist es so, dass Nervenzellen im Gehirn über diese Rhythmen zusammenfinden – eben auch dann, wenn sie im Gehirn weit auseinanderliegen. Wie sie den Rhythmus bilden, ob es ein zentrales Zentrum, eine Art Dirigenten gibt, ist unklar. Aber ein solcher gemeinsamer Takt kann ein Orchester aus Nervenzellen zu einer gemeinsamen Erinnerung zusammenzubinden.

Möglicherweise erklärt diese Rhythmisierung des Gehirns auch, dass das Gehirn fast unendlich viele Erinnerungen speichern kann. Je nach Rhythmus kann ein und dieselbe Zelle nämlich in verschiedenen Orchestern spielen – sie kann Teil der Erinnerung an die Großmutter sein, in einem anderen Orchester aber auch Teil der Erinnerung an den Großvater. Sie kann englische Fremdworte speichern, aber auch französische – je nachdem, in welches Netz, in welches Orchester, der Rhythmus sie integriert.

Und es geht noch einen Schritt weiter: Das gesunde Gehirn ist in der Lage, zahlreiche komplizierte Aufgaben gleichzeitig zu erledigen. Wir können Rad fahren – wobei das Gehirn Dutzende von Muskeln in einer präzisen Abfolge so koordinieren muss, dass der Mensch nicht stürzt. Wir können uns gleichzeitig mit einem Mitfahrer unterhalten, ohne vom Rad zu fallen. Wir können gleichzeitig den Verkehr überwachen und auf unerwartete Gefahren reagieren. Gleichzeitig kontrolliert und koordiniert das Gehirn den Stoffwechsel, die Herzaktionen, die Atmung und sehr viel mehr. Das Gehirn ist Weltmeister des Multitasking.

Wobei es eine Grenze gibt: Das Bewusstsein. Bewusst kann der Mensch nur einen Gedanken gleichzeitig denken. Bewusstes Multitasking ist eine Illusion. Wer von einer Arbeit zur anderen hüpft, wer auf dem Bildschirm seines PCs mehrere Fenster gleichzeitig bearbeitet, der leistet wesentlich weniger, als würde er sich auf eine Arbeit konzentrieren. Wer mit der eigenen Fähigkeit des Multitasking prahlt, der lügt. Unterbewusst ist Multitasking allerdings möglich: Während wir etwa Musik hören, während wir dösen oder schlafen, arbeitet das Gehirn zahlreiche Gedanken ab (geniale Ideen werden eher in solchen Phasen geboren – nicht beim angestrengten Darübernachdenken). Wie kann das Gehirn diese „Multitasking“ leisten?

Wieder liegt die Erklärung – wahrscheinlich – im Rhythmus. Nervenzellen können nicht nur in verschiedenen Orchestern spielen – sie können es gleichzeitig tun. Oder präziser: fast gleichzeitig. Denn die Impulse, die eine Nervenzelle abschickt oder empfängt, dauern nur tausendstel Sekunden. Innerhalb einer Sekunde können also sehr viele Signale empfangen, verarbeitet und gegebenenfalls weitergeleitet werden. Nervenzellen könnten also in viele Arbeitsprozesse gleichzeitig eingebunden sein, sie könnten viele Gedanken gleichzeitig denken. Oder um im Bild zu bleiben: Sie könnten in mehreren Orchestern gleichzeitig mehrere Stücke spielen.

Damit wäre die unglaubliche Effizienz des menschlichen Gehirns zumindest teilweise erklärt. Es kommt mit relativ wenigen Zellen aus, um unglaublich schnelle Arbeiten zu verrichten und unglaublich viele Daten zu speichern. Dabei arbeitet das Gehirn durch und ruht sich niemals aus – auch nicht beim Schlafen oder Dösen. Und es ist niemals voll – auch nicht am Ende eines sehr langen und lernreichen Lebens. Zwar ist dieses Wunderwerk an Effektivität nach wie vor nur zum kleinen Teil verstanden. Aber die von der Forschung lange übersehenen unterschiedlichen Rhythmen des Gehirns scheinen das zentrale Geheimnis dieser Effizienz zu sein.

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