Missbrauch im Kinderheim„Das Schlimmste war das Alleinsein“

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Schwester Hedwig leitete das Heim. (Foto: Fliedner Kulturstiftung)

Schwester Hedwig leitete das Heim. (Foto: Fliedner Kulturstiftung)

Ommernborn – „Das Kloster Ommerborn haben die Leute heute in guter Erinnerung: Als Ort der Einkehr, als geistliche Einrichtung in ruhiger, schöner Landschaft“, sagt ein Mann, der dort von seinem ersten bis zum zwölften Lebensjahr seelische Not, Hunger und körperliche Strafen erlitt. „Die wenigsten wissen, dass es dort lange auch ein Kinderheim gab“, erklärt der heute 70-Jährige, der in Lindlar lebt. Während seines ersten Lebensjahres wurde der unehelich Geborene von seiner Mutter ins Heim gegeben, kam nach Ommerborn und blieb dort bis zur Auflösung des Kinderheimes Ende 1952 oder 1953. Bis zu seinem 21. Lebensjahr lebte er danach in einem Heim in Stephansheide bei Rösrath, wo es ihm weitaus besser ging. Der Mann möchte anonym bleiben, sein Name ist der Redaktion bekannt.

„Alles in mir kommt wieder hoch“

„Wenn man liest und hört, was jetzt zum Thema ,Missbrauch durch die Medien geht, kommt alles in mir wieder hoch“, erzählt der Rentner, der heute ein äußerlich normales Leben mit Haus im Grünen, Frau und erwachsenen Kindern führt. Doch in seiner frühester Jugend sei er seelisch und moralisch gebrochen worden. Um sexuellen Missbrauch habe es sich nicht gehandelt, aber um körperliche Misshandlungen, Prügel mit dem Kleiderbügel, Schläge auf Kopf und Ellenbogen, demütigende Strafen vor allen anderen Kindern, dazu die Einsamkeit und Verlorenheit an einem völlig abgeschiedenen Ort ohne Ausweg.

„Ich habe immer gelitten unter meiner Situation. Hilflos ausgeliefert den Erwachsenen gegenüber. Es gibt nichts Schlimmeres, als allein zu sein“, sagt er. „Und dann diese Isolation: Wir haben manchmal nur einmal im Jahr ein Auto gesehen. Fast die gesamten ersten 21 Jahre meines Lebens bin ich nur verwaltet worden. Am meisten beschäftigt mich bis heute die Frage, warum mich meine Mutter nie aus dem Heim geholt hat.“

Den Heimalltag, den er in der Kriegs- und Nachkriegszeit in Ommerborn erlebte, kann er nicht als glückliche Kindheit bezeichnen. „Wir hatten keine Schuhe, liefen meist barfuß oder hatten so genannte Kläpperchen, Holzpantoffeln. Wir mussten im Wald Blaubeeren sammeln. Wer weniger als fünf Pfund am Tag sammelte, bekam kein Abendbrot“, schildert er.

„Wir durften uns oft lange Zeit nicht bewegen. Deswegen habe ich mich freiwillig zum Boden bohnern gemeldet, um dem zu entgegen. Nachts mussten wir stundenlang auf dem Flur stehen. Prügelstrafen waren alltägliche Praxis“, erinnert er sich. „Wir mussten um 18 Uhr im Bett sein. Wer dann noch geflüstert hat und erwischt wurde, musste sich in einen Wandschrank stellen, bis er bestraft wurde. Das konnte 15 bis 30 Minuten dauern. Dann setzte es Prügel mit einem Kleiderbügel.“

Das ab 1922 erbaute Kloster Ommerborn gehörte zum katholischen Eucharistinerorden und der Altbau wurde von bis zu 80 Patres bewohnt. Im Neubau war das Kinderheim Köln-Mülheim, getragen von der evangelischen Kirchengemeinde Mülheim am Rhein und der Stadt Köln, betreut von Diakonissen aus Kaiserswerth, untergebracht. Das Kinderheim wurde mit 60 Kindern und zehn erwachsenen Betreuern wegen der Bombengefahr im Laufe des Jahres 1941 nach Ommerborn verlegt. Klosterbetrieb und Kinderheimalltag seien strikt getrennt gewesen, berichtet die ehemalige Leiterin des Kinderheimes, die Diakonissen-Schwester Hedwig Hüsken in einem Bericht, den sie um 1946 über die Zeit in Ommerborn verfasst hat. „Wenn die Schwestern mit den Patres etwas besprechen wollten, so geschah dies fast ausschließlich im Empfangszimmer des Klosters“. Das Kinderheim zog in die oberen Stockwerke des neueren Teils des Klosters. Die Mädchen bewohnten die Etage mit der heute überdachten Terrasse, die Jungs wohnten im Stockwerk darüber.. „Die Unterkunft entsprach, was Räumlichkeiten und Hygiene angeht, nicht den Anforderungen eines Kinderheimes. 30 Knaben schliefen in einem großen Saal, aber jeder besaß ein ordentliches Bett“, so Schwester Hedwig Hüsken. Sie schreibt, dass die Heizungsanlage nur für den älteren Teil des Klosters ausgelegt gewesen sei und deshalb im Winter nur eine Innenraumtemperatur von zwölf Grad erreicht werden konnte.

„Ich hatte alle Kinder gern, auch die Belasteten. Sie brauchten uns am Nötigsten. Wir hatten zu viele Kinder, so wurde man leicht blind für die richtige Lage (. . . )“, schreibt sie. „Persönlich zugewandte Güte hätten sie so nötig gehabt. Gestraft haben wir durch Prügel wenig.“ Schwester Hedwig Hüsken leitete das Heim bis 1946. Dann wurde sie auf eine andere Stelle versetzt. Sie starb im Juni 1979. 1953 wurde das Kinderheim in Ommerborn aufgelöst. „Ich bedauere sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sich hierzu im Archiv des LVR keine Unterlagen finden lassen“, antwortete der Landschaftsverband Rheinland als zuständige Aufsichtsbehörde und Rechtsnachfolger dem Lindlarer.

Nie mehr ins

ehemalige Heim getraut

Erst im Alter begann er systematisch mit der Erforschung seiner Kindheit. Er konnte sich noch an Schwester Hedwig und Schwester Emmi erinnern, außerdem an die Patres, die oft im Klostergarten arbeiteten, und an das halb-blinde Pferd Max. „Dort, wo heute die Kapelle steht, stand damals der Stall. Es gab dort auch Kühe.“ Besonders streng sei Schwester Hedwig nicht gewesen. An sie habe er keine schlechten Erinnerungen.

Vor einiger Zeit nahm der 70-Jährige Kontakt zu Pater Friedel Kötter auf, dem letzten Bewohner des Eucharistiner-Klosters. „Der war sehr freundlich und hat mich eingeladen, damit ich mich dort umschauen könne, aber ich habe mich nie getraut, das ehemalige Heim nochmal zu besuchen.“ Er habe lange gebraucht, bis er seiner Frau von seiner Heimvergangenheit in Ommerborn erzählen konnte.

Am falschen Tag

Geburtstag gefeiert

Dass er anders war als Gleichaltrige, erfuhr er erst, als es ihm langsam besser ging und er erwachsen wurde. Er lernte erst mit 14 oder 15 Rad fahren, mit 18 aß er das erste Kotelett seines Lebens. Dass seine Mutter noch lebte, erfuhr er 1974, als er mit seiner Band im Hamburger Starclub auftrat und ihm der Personalausweis gestohlen wurde. Die Recherche für den Ersatzausweis ergab, dass er immer am falschen Tag Geburtstag gefeiert hatte, dass sein Nachname anders geschrieben wird und seine Mutter in Köln lebt. Er nahm Kontakt zu ihr auf, doch das ging schief. Sie starb vor einiger Zeit, ohne dass es eine echte Aussprache gab.

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