„Jetzt sind wir hier eingesperrt“Verl trifft Lockdown besonders hart – ein Ortsbesuch

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Durch einen Bauzaun von­ein­an­der getrennt: Verls Bür­ger­meis­ter Michael Esken (r.) in­for­miert Mit­ar­bei­ter von Tönnies über den Lockdown.

  • Von der aktuellen Anordnung des Landes sind etwa 360 000 Bewohner direkt betroffen.
  • In der ostwestfälischen Kleinstadt Verl trifft es knapp 700 Bürger besonders hart.
  • Sie sind nach dem Anstieg von Covid-19-Fällen bei Tönnies seit Samstag in Quantäne und dürfen die Sperrzone nicht bis zum 2. Juli nicht verlassen.

Für etwa 360 000 Menschen im Kreis Gütersloh hat das Land Nordrhein-Westfalen am Dienstag den Lockdown angeordnet. Den doppelten Lockdown erleben dagegen knapp 700 Anwohner in der ostwestfälischen Kleinstadt Verl. Am Samstag hat die Verwaltung per Verfügung die Absperrung mehrerer Wohnblocks im Ortsteil Sürenheide umgesetzt. Für etwa 350 Mitarbeiter von Tönnies-Subunternehmen und ihre direkten Nachbarn heißt das: Quarantäne bis Donnerstag, 2. Juli, 24 Uhr. Polizisten und ein Sicherheitsdienst wachen rund um die Uhr am Bauzaun und passen auf, dass niemand die Bannmeile verlässt.

Vorerst bis zum 30. Juni gelten die verschärften Regeln für die Bürger in insgesamt zehn Städten und drei Gemeinden. Damit gelten erstmals in Deutschland wieder in einem Landkreis jene Schutzmaßnahmen aus der Zeit ab März wegen steigender, nachgewiesener Covid-19-Infektionen. Mit Betroffenen aus verschiedenen Bereichen des Kreises Gütersloh hat unsere Redaktion gesprochen. Einige Bürger sind sauer auf die Firma Tönnies und Politiker auf Kreis- und Landesebene. Andere halten die von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) angekündigte Maßnahme für sinnvoll.

„Plötzlich ist Rheda-Wiedenbrück weltbekannt“

Zwischen Landwirtschaft und Hightech-Unternehmen: So ist der Kreis geprägt. Doch Medien auch aus dem Ausland berichten derzeit nicht wie sonst über Miele und Bertelsmann. In Rheda-Wiedenbrück hat der Fleischverarbeiter Tönnies seinen Firmensitz. Hier wohnt Rolf Lind (84). „Zwei Drittel der Welt habe ich bereist, und plötzlich ist Rheda-Wiedenbrück weltbekannt“, sagt er. Als passionierter Boule-Spieler habe er sich gefreut, dass die Corona-Schutzmaßnahmen zwischenzeitlich wieder gelockert wurden. „Und jetzt sowas. Gerade als älterer Mensch brauche ich Bewegung an frischer Luft“, sagt er.

Mit dem Lockdown verbindet auch Filmemacher Matthias Cremer (45) aus Halle/Westfalen Ärger. „Vor der Ankündigung des Lockdowns gab es doch keine klare Ansage der Politik, obwohl dieser wie ein Damoklesschwert über uns schwebte“, sagt der verheiratete Vater von Emil (10) und Liese (7). Für Emil bedeute der Lockdown das Ende des vierten Schuljahres. „Dabei waren wir gerade so froh, dass die vorherigen Einschränkungen beendet waren. Jetzt ist alles für’n Eimer“, sagt Cremer. Für Schwester Liese war schon die Geburtstagsfeier im Mai ein Kompromiss: In Autos seien die Kinder vorgefahren worden, um ihr zu gratulieren. Zudem fragt sich Cremer: „Wir haben derzeit keinen Fall in Halle. Wieso sind wir aber mitbetroffen?“

Hoffen auf den Urlaub im Schwarzwald

Dass sein Urlaub am 4. Juli im Schwarzwald beginnen kann, darauf hofft Peter Pohlmann (58), Mitarbeiter einer Bielefelder Offsetdruckerei. Er wohnt in Rheda-Wiedenbrück und hat von Bekannten aus dem Kreis Gütersloh gehört, die am Samstag ihren Urlaub in Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) vorzeitig abbrechen mussten. „Der Hotelbesitzer hatte darum gebeten. Deshalb hoffe ich darauf, dass das mit dem Urlaub für meine Frau und mich klappt“, sagt er.

Als Inhaber einer Firma für Schilder und Leuchtreklame und passionierter Musiker (New-Orleans-Jazz) hat Max Oestersötebier (40) Laschets Pressekonferenz genau verfolgt. Er wohnt in der Stadt Gütersloh, seine Firma ist in Verl. „Es ist zunächst ein softer Lockdown bis zum 30. Juni. Dann wird man schauen müssen, wie sich das alles auf die Fall-Zahlen auswirkt“, sagt Oestersötebier.

In Schloß Holte-Stukenbrock sieht auch Janina Freihube (24), Studentin an der Fachhochschule in Bielefeld, den Lockdown eher gelassen. „Weil ich ohnehin schon mein Leben zu einem großen Teil ins Internet verlagert habe. Die Uni läuft online“, sagt sie. Zwar könne sie jetzt nicht ins Fitnesstudio. „Dafür habe ich mit meinem Freund jetzt Mountainbike-Fahren für mich entdeckt. Das geht mit Abstand auch zu zweit“, sagt sie.

Zwei Krisenmanager tun sich hervor

Besonders zwei Krisenmanager im Kreis Gütersloh sind in diesen Tagen präsent: Landrat Sven-Georg Adenauer, Enkel von Konrad Adenauer, und Michael Esken (beide CDU), Bürgermeister in Verl. „Die Stadt steht sicher vor der größten Herausforderung in ihrer Geschichte“, sagt Esken. Über den Lockdown sei er „erleichtert“, weil es damit eine Ansage auch an die Bürger in Verl gebe. „Wir hängen schon eine gute Woche in der Warteschleife, müssen vor Ort als Ordnungsbehörde Entscheidungen treffen mit tiefgreifenden Maßnahmen.“ Und zwar in der Helfgerd-Siedlung im Verler Ortsteil Sürenheide. Hier trennen 900 Meter Bauzaun seit Samstag zwei Welten: Mit Mitarbeitern verschiedener Tönnies-Subunternehmen und ihren Nachbarn auf der einen Seite – und dem Rest Verls auf der anderen. Polizisten aus ganz Nordrhein-Westfalen bewachen die Zufahrtsstraßen an mehreren Posten zu drei abgesperrten Bereichen, die wie Inseln wirken. Entkommen zwecklos.

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Die Mitarbeiter der Subunternehmen arbeiten in der fleischverarbeitenden Industrie oder im Möbelbau. Sie stammen überwiegend aus Rumänien, Bulgarien und Polen. In der Vergangenheit waren die betroffenen Wohnblocks immer wieder im Fokus wegen Lärm und Ruhestörung.

„Wieso dürfen die Mitarbeiter hier herumlaufen?“

Viele Anwohner hat die Sperrmaßnahme – trotz mancher Anzeichen – wie ein Schlag getroffen. „Ich bin am Sonntag aus dem Urlaub zurückgekommen“, sagt Susann-Kristin Nolte (39). „Und jetzt sind wir eingesperrt.“ Ein Teil der Familie wohnt in Portugal. „Selbst die haben in den Nachrichten davon gehört“, sagt die dreifache Mutter. Mit Tönnies habe sie genauso wenig wie Nachbar Ivan Kuburovic (40) zu tun. „Wir haben am Samstag hier gegrillt. Und dann passierte das alles hier.“ Ein weiterer Nachbar ist Daniel Bialaski (39). Für ihn ist klar: „Wir wohnen nicht im selben Haus wie die Tönnies-Mitarbeiter. Wieso dürfen die hier aber herumlaufen? Hätte man diese Häuser nicht abtrennen müssen?“, fragt er sich. Überrollt von der Situation fühlen sich auch Nagarathan Veratharajan (52) und Birabu Rasu (34). Sie stammen aus Sri Lanka, haben mit Tönnies ebenso wenig zu tun. „Wir hatten keine Informationen, und jetzt warten wir“, sagt Rasu.

Antworten wollen Esken und Barbara Menne, Leiterin des Sozialamtes in Verl, in diesen Tagen geben. Etwa zum Bauzaun. Den habe die Stadt extra aufstellen lassen. „Sonst hätten alle Betroffenen ihre Häuser nicht verlassen dürfen“, sagt Menne. Auch Lebensmittel habe die Stadt in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) organisiert. „Für den täglichen Bedarf. Einen Großeinkauf können wir aber nicht ersetzen“, sagt sie. Auch Clemens Tönnies habe Hilfe zugesagt: Lebensmittel für alle betroffenen Bewohner, nicht nur Mitarbeiter der Tönnies-Subunternehmen.

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