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Freiwilligkeit statt VerboteSchweden geht einen Irrweg in der Coronakrise

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Schwedische Flagge

  • Während der Coronakrise setzte Schwedenbisher mehr auf Freiwilligkeit als auf stikte Regeln zur Eindämmung.
  • Das wurde dem Land jetzt zum Verhängnis.
  • Obwohl Schwedens Gesundheitssystem zu den besten der Welt zählt, klagt es nun besonders über Kapazitätsengpässe.

Schweden ging in der Corona-Krise bisher einen Sonderweg. Das skandinavische Land setzte mehr auf Appelle und Freiwilligkeit als auf Verbote. Die steigenden Zahlen von Infizierten setzen die Regierung und die Gesundheitsbehörden nun zunehmend unter Druck. Als eines der letzten Länder in Europa setzen nun auch die Schweden auf härtere Regeln.

Der schwedische Sonderweg werde sich nach Einschätzung von ARD-Korrespondent Carsten Schmiester möglicherweise nicht länger halten lassen, berichtete der Deutschlandfunk. Die Regierung versuche derzeit mit der Opposition über Sondervollmachten zu verhandeln, um ad-hoc-Maßnahmen wie die Ausgangssperre verhängen zu können. Das sah noch vor einer Woche ganz anders aus.

Öffentliches Leben läuft weiter

Eine Rückblende: Kurz vor halb elf abends. In der Bar Tjoget im hippen Stockholmer Stadtteil Hornstull läuft Musik, Gläser klirren, Stimmengewirr überall. Am Fenster sitzen Ebba (32), Tova (28) und Agnes (32) in Schlaghosen und schicken Turnschuhen. Die Bar ist nicht so voll wie sonst, aber gut gefüllt.

Haben die drei keine Angst? „Ach, jüngere Leute werden ja kaum krank vom Virus, außerdem wären die Bars ja zugemacht worden, wenn das gefährlich wäre“, sagt Ebba und nippt an ihrem Whisky Sour. Ein wenig Unsicherheit liegt dennoch in ihrer Stimme. „Ich bin nur vorsichtig, was meine Eltern und Großeltern angeht. Die besuche ich jetzt erst mal nicht, um sie nicht zu gefährden“, fügt sie hinzu.

Tatsächlich lief das öffentliche Leben in Schweden weiter, wenn auch nach und nach etwas verhaltener. Noch vor zwei Wochen war aus den nordschwedischen Skigebieten von wilden Après-Ski-Partys berichtet worden – mit bis zu 499 Teilnehmern, weil Versammlungen ab 500 Menschen bereits verboten waren. Dann stellten die großen Bars diesen Party-Betrieb ein. Doch die Schweden durften bis zum Wochenende weiter in den Skiurlaub fahren. Aber bitte lieber nicht zum Après-Ski, lautete eine staatliche Empfehlung. Von diesem Montag an bleiben die großen Skigebiete des Landes nun geschlossen.

Obergrenze gesenkt

In der Zwischenzeit war auch die Obergrenze für öffentliche Zusammenkünfte auf 50 gesenkt worden. Viele Ausnahmen blieben möglich. Es gehe vor allem um eine Norm für freiwilliges Verhalten, hieß es vom Gesundheitsamt. Aber Polizeikontrollen waren nicht mehr ausgeschlossen. Dennoch: Fitnessstudios, Bibliotheken, Geschäfte blieben einstweilen geöffnet wie immer. Die auslegbare Richtschnur: Jede Einrichtung darf selbst entscheiden, ob sie schließen möchte. Lediglich den Arbeitnehmern in den wenigen Großstädten wurde empfohlen, von zu Hause aus zu arbeiten, falls möglich. Sogar die Kinos dürften offen bleiben, hieß es vom Gesundheitsamt; allerdings entschieden sich viele Betreiber zu schließen – weil die Menschen vorsichtshalber doch wegblieben.

Im Kampf gegen Corona war in Schweden eben lange Zeit Freiwilligkeit Trumpf. Verbote könne man vielleicht über eine Woche, aber nicht länger durchsetzen, sagte Johan Carlson, der Chef der staatlichen Gesundheitsbehörde, noch vor zwei Wochen im Fernsehen. Die Zwei-Personen-Regel, wie sie in weiten Teilen Deutschlands gilt, finde er recht streng, sagte Carlson, aber jedes Land habe andere Voraussetzungen. Die Regierung hat auch nur „empfohlen“, in Schulen ab Klasse 10 und an den Hochschulen den Unterricht ins Internet zu verlegen. Freilich sind fast alle Einrichtungen dem gefolgt. Kindergärten und Grundschulen zu schließen, sei nicht vertretbar, hieß es.

Gesundheitsbehörden entschieden über Einsämmungspolitik

In Schweden ließen die Politiker in erster Linie die Experten der nationalen Gesundheitsbehörde über die Eindämmungspolitik entscheiden. Anders Tegnell (63), Oberarzt und „Staatsepidemiologe“ der Gesundheitsbehörde, trägt die Hauptverantwortung für die rund zehn Millionen Schweden. Ein Medientyp ist er nicht. Bei seinen zahlreichen TV-Auftritten wirkt er mit seiner Brille, dem etwas schiefen Lächeln und dem alternativen Kleidungsstil eher trotzig-unsicher.

Die bürgerliche Zeitung „Expressen“ feierte Tegnell jüngst als Held, weil er Standhaftigkeit gegen wissenschaftlich nicht fundierten, aber bei Wählern beliebten Aktionismus in anderen Ländern beweise. Andererseits beschönigt Tegnell nichts. Er betont, dass die schlimmste Phase noch nicht erreicht sei, dass noch mehr Schweden sterben werden. Probleme bei der Versorgung der Kranken gebe es nicht, sagt Tegnell. Eine große Mehrheit der Bevölkerung steht nach Umfragen hinter der laxen Corona-Politik.

Andere, darunter eine Gruppe von Fachärzten für Infektionskrankheiten, halten sie für verantwortungslos. Eine breite Debatte aber gab es lange Zeit nicht. Die Regierung äußert sich kaum zur Gesundheitslage, das überlässt sie dem Staatsepidemiologen. Der sagt offen, die offiziell bestätigten seien nur die Spitze des Eisberges. Insgesamt könnten weit über 100 000 Schweden infiziert sein, sagte Tegnell bereits vor zwei Wochen. Wichtig sei aber nicht, wie viele Fälle es gebe – es gehe darum, Risikogruppen zu schützen und die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen.

Gesundheitssystem in der Krise

Schwedens Gesundheitssystem klagt stets über Kapazitätsengpässe, erst recht jetzt in der Krise. Gleichzeitig zählt es zu den besten der Welt. Doch wer keine wirklich lebensgefährlichen Symptome hat, durfte sich nicht testen lassen und wurde abgewiesen. Sogar Krankenhauspersonal sei oft nicht getestet worden, hieß es im schwedischen Fernsehen. Deshalb würden Krankenpfleger mancherorts inzwischen gebeten, auch dann zu arbeiten, wenn sie sich leicht erkältet fühlen. Inzwischen sind mehr Tests für das Gesundheitspersonal angekündigt. Die bürgerliche Opposition, ansonsten im Burgfrieden mit der rot-grünen Regierung und deren Kurs, fordert Massentests wie in Deutschland.

Praktisch der einzige Rat, den Staatsepidemiologe Tegnell ebenso wie Ministerpräsident Stefan Löfven ständig wiederholte, ist: Alle, die sich auch nur leicht erkältet fühlten, sollten zu Hause bleiben. Vielen Schweden reicht schon eine solche Empfehlung. Tatsächlich ist die Hauptstadt Stockholm derzeit leerer als sonst, viele Restaurants und Geschäfte schließen etwas früher, weil Kunden wegbleiben. Viele Schweden sind in ihre Sommerhäuschen gefahren.

Tausende Tote

Angesichts der anhaltenden Corona-Krise rechnet Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven mit Tausenden Todesfällen in seinem Land. Dass die Pandemie in Schweden langsamer verlaufe, bedeute nicht automatisch, dass es deshalb weniger Schwerkranke oder weniger Tote geben werde, sagte Löfven am Freitag in einem Interview der Zeitung „Dagens Nyheter“.

In Schweden gab es nach Angaben der Johns Hopkins Universität bis Sonntag 6830 Infizierte, 401 Menschen mit Covid-19-Erkrankung sind gestorben. Schweden ging bisher mit freizügigeren Maßnahmen als etwa Deutschland oder seine skandinavischen Nachbarn Dänemark und Norwegen gegen die Corona-Pandemie vor. Beobachter rechnen aber nun mit einem strikteren Vorgehen. (dpa)

Die schwedischen Behörden hofften, dass sich durch die zurückhaltende Politik viele Menschen, die nicht zur Risikogruppe gehören, anstecken und nach milden Symptomen immun gegen das Coronavirus werden. Herdenimmunität sei aber nicht das offizielle Hauptziel, sagte Tegnell. Altenheime und Schwerkranke versucht das Land, durch Abriegelung zu schützen – Besuche in Altenheimen wurden am Donnerstag verboten – und immer wieder durch die Bitte, daheim zu bleiben.

Keine Aussicht aus Erfolg

Derzeit biete eine Eindämmung durch die wirtschaftlich schädliche Schließung des ganzen Landes ohnehin keine Aussicht auf Erfolg, hält der Staatsepidemiologe an seiner Meinung fest. Alarmierende Studien, etwa aus Großbritannien, die gegen eine lockere Politik plädierten, lässt er nach wie vor nicht gelten. Die seien in kürzester Zeit entstanden und hätten wissenschaftliche Mängel, sagte Tegnell. Grenzschließungen nannte er „völlig sinnlose Maßnahmen“.

Im Angesicht der Pandemie haben die Schweden großes Vertrauen in den Staat und seine Gesundheitsversorgung bewiesen. Hamsterkäufe wie in Deutschland blieben in Stockholm aus. In den Supermärkten im Stadtteil Södermalm kann etwa von einem Mangel an Toilettenpapier derzeit keine Rede sein.

Ob sich die laxen Regeln jetzt rächen, werden die kommenden Wochen zeigen. Ministerpräsident Stefan Löfven warnte bereits: Härtere Maßnahmen könne er nicht mehr ausschließen.

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