Interview mit Grimmas Bürgermeister„Vor dem Hochwasser 2002 waren wir genauso arglos“

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Grimma_2002

14. August 2002: Die Schulstraße in Grimma ist  zerstört. 

  • Bei der Flutkatastrophe 2002 zerstörte das Hochwasser die sächsische Stadt Grimma.
  • Matthias Berger war damals Oberbürgermeister und ist es heute immer noch.
  • Im Interview spricht er über den Wiederaufbau und darüber, wie das Wasser die Stadt veränderte

Köln – Herr Berger, die Bilder aus NRW und Rheinland-Pfalz ähneln nach der Flutkatastrophe den Bildern, die 2002 in Grimma entstanden sind. Was denken Sie und Ihre Mitbürger, wenn Sie diese Bilder sehen?

Es herrscht tiefe Betroffenheit. Auch weil wir wissen, was jetzt auf die Leute zukommt. Das Ganze ist nicht so schnell geregelt, das dauert seine Zeit. Wir drücken die Daumen, dass alles gut wird. Es gibt ganz viele Grimmaer, die spontan rüber gefahren sind. Man hilft so gut es geht. Der Schlamm muss raus, das ist das Wichtigste.

Macht es aus Ihrer Erfahrung überhaupt Sinn, die Häuser wieder aufzubauen?

Es gibt einen Unterschied zur Situation damals in Grimma. Die Topographie ist ein bisschen anders. Bei Ihnen in der Region gibt es teilweise enge Tallagen. Wenn das Wasser dort runter schießt, dann ist das was ganz anderes. Und die Frage ist ja nicht, ob sowas wieder passieren wird, sondern wann. Es muss nun schnell die Frage beantwortet werden, ob man zumindest einzelstehende Häuser nicht einfach besser abreißt und den Platz nutzt für ein Stauwerk oder für eine Überflutungsfläche.

Bad_Muenstereifel_2021

16. Juli 2021: In Bad Münstereifel im Kreis Euskirchen ähneln die Bilder denen von 2002. 

Wenn man wieder aufbauen will, was gilt es da zu beachten?

Erstmal muss man Geld generieren. Bei denjenigen, die versichert sind, wird die Versicherung ein Gutachten veranlassen. Für alle anderen wäre es klug, so haben wir es damals gemacht, möglichst schnell Gutachten zu finanzieren. Sachverständige müssen die Häuser begutachten, damit der Schaden feststeht. Dann wird es staatliche Förderprogramme geben. Die basieren in der Regel darauf, was der Sachverständige sagt.

Was muss baulich beachtet werden?

Im Erdgeschoss sollte kein Fachwerk, kein Gipskarton und keine Glaswolle als Dämmung verwendet werden. Alles, was mit Gas und Elektrik zu tun hat, sollte möglichst ins Ober- oder Dachgeschoss verlegt werden.

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Matthias Berger (parteilos), Oberbürgermeister von Grimma 

In Grimma gibt es jetzt eine Flutschutzmauer. Wofür schützt sie und wovor nicht?

Sie würde uns gegen ein Hochwasser wie 2013 schützen, das statistisch gesehen alle 100 Jahre auftritt. Bei einem Hochwasser wie 2002 würde das Wasser ungefähr 90 Zentimeter drüber laufen. Aber selbst dann hätte die Mauer eine gewisse Schutzfunktion, da die Strömung eine andere wäre.

Wie lange hat es damals gedauert, bis für die Menschen wieder ein halbwegs normales Leben möglich war?

Wenn die Gebäude geräumt sind und man überlässt sie dem Trocknungsprozess, dann dauert es erfahrungsgemäß zwei Jahre, bis die Häuser ausgetrocknet sind. Wer glaubt, in einem halben Jahr wieder dort zu wohnen, liegt aus meiner Sicht falsch. Bis Normalität einkehrt, dauert es drei, vier, fünf Jahre. Nach zehn Jahren, so war es bei uns, gehen dann alle durch die Stadt und sagen: Das ist ja alles schön und neu hier. Dann kann man sagen, dass das Ding durch ist und hoffen, dass es nicht nochmal passiert.

Hier gibt es Diskussionen darüber, wo es möglicherweise Lücken in der Warnkette gab. Gab es diese Diskussionen bei Ihnen auch?

Es wiederholt sich das, was wir 2002 erlebt haben. Da will ich die Kollegen auch mal in Schutz nehmen, die jetzt gescholten werden. 2002 waren wir genauso arglos. Wir hatten zwar ab und zu Hochwasser in den letzten Jahrhunderten, aber da stand das Wasser dann vielleicht fünf Zentimeter in der Altstadt auf der Straße. Dass das Wasser dort plötzlich fünf Meter hochstehen könnte, das hat keiner geglaubt. Hätte ich es gewusst und wäre durch die Stadt gerannt und hätte gerufen, dass das Wasser demnächst im Obergeschoss stehen wird, dann hätte jeder über mich gelacht, denke ich.

Chronik

2002 ist die Stadt Grimma einer der am stärksten vom Augusthochwasser betroffenen Gemeinden. Die Schadenshöhe beträgt laut Stadt rund 250 Millionen Euro.

2013 trifft das Hochwasser Grimma erneut. Das Wasser steigt zwar nicht so hoch wie 2002, steht aber drei Tage lang. Vieles, was nach 2002 neu aufgebaut wurde, zestört die Flut wieder.

2019 ist die Flutschutzmauer nach elf Jahren Bau fertig. Bund, Land und EU investierten rund 57 Millionen Euro in die 2,2 Kilometer lange Schutzanlage, die sich harmonisch in das historische Stadtbild einfügt. Die Mauer beinhaltet 78 Tore, die im Hochwasserfall geschlossen werden können.

Am Montag ist die Hochwasserschutzanlage in Grimma von unbekannten Tätern beschädigt worden. Wie die Stadtverwaltung mitteilte, ist unter anderem ein größeres Fluttor betroffen. Eisenteile, die für die Bedienung nötig seien, seien verbogen worden. Nun lasse sich das Tor nicht mehr schließen. Käme ein Hochwasser, wäre die Stadt „völlig schutzlos“, sagte Oberbürgermeister Matthias Berger. (sim, mit dpa)

Haben die Erfahrungswerte das geändert?

Als die Erfahrungswerte von 2002 da waren, hat sich das fundamental geändert. 2013 konnten wir per SMS sagen: Raus, Leute! Zack, dann waren die auch alle raus. Wenn jetzt eine dunkle Wolke am Himmel steht, dann nehmen wir das schon sehr ernst. Das Regengebiet, das jetzt im Westen die Probleme verursacht hat, das hatten wir seit 14 Tagen beobachtet. Wir haben gesehen, wie es sich nach Westen gedreht hat. Da waren wir heilfroh. Dass es natürlich zu solchen Folgen kommen würde, hätte niemand gedacht.

Haben die Menschen in Grimma Angst, dass so etwas auch dort noch einmal passiert?

Auf jeden Fall. Die ersten Monate nach dem Hochwasser war es besonders schlimm. Als da Regen angesagt wurde, da haben die Leute teilweise geheult und gedacht: Es passiert wieder. Je länger sowas zurückliegt, desto weniger wird die Angst aber.

Gibt es bei Ihnen Sirenen?

Ja, wir haben 2003, 2004 ganz moderne Sirenen angeschafft. Sie sind 14 Tage lang netzunabhängig über Funk zu betreiben. 2013 kamen sie dann auch zum Einsatz.

Wie wichtig ist Aufklärung, damit die Menschen wissen, was bei einer Warnung zu tun ist?

Die Sensibilität für solche Situationen muss da sein. Aber die erreichst du wahrscheinlich nur, wenn du mal so ein Trauma erlebt hast.

Die Leute stehen an vielen Stellen nun vor dem Nichts. Können Sie ihnen Hoffnung geben, dass es mit dem Wiederaufbau klappen kann?

Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen werden. Die Menschen sollten darauf vertrauen, dass die Politik sie nicht im Stich lassen und ihr Wort halten wird. Andererseits ist es ein bürokratischer Prozess, das Geld zu bekommen. Da wird manch einer stöhnen. Aber das Geld kann ja auch nicht einfach mit dem Helikopter runtergeworfen werden.

Wir sehen aktuell, dass die Menschen in der Krise zusammenrücken und sich unterstützen. Bleibt davon aus Ihrer Erfahrung etwas?

Uns in Grimma hat das als Gemeinschaft zusammengepresst. Die Grimmaer schauen mit Stolz darauf zurück, was da zweimal geleistet worden ist. Es sind in der Katastrophe viele Freundschaften entstanden, auch zwischen Ost und West.

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