„Deutschland sucht den Superstar“Kann die Show ohne Bohlen noch funktionieren?

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Dieter Bohlen beim Finale der RTL-Castingshow "Deutschland sucht den Superstar 2019".

Köln – Die Show „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS) geht in eine neue Ära: Zum ersten Mal in zwei Jahrzehnten müssen sich die Kandidaten nicht von Dieter Bohlen demütigen lassen. Mit Florian Silbereisen hat die Show ein neues Gesicht bekommen. Aber –  funktioniert das Format, das Häme zum Entertainment gemacht hat, dann überhaupt noch?

Die DSDS-Castings sind aufgezeichnet. RTL kann also frei wählen, womit die Staffel beginnt. Bei Silbereisen wird es ein Auftakt im Zeichen der Brüderlichkeit: Die allerersten Sänger sind Geschwister aus einer Zirkusfamilie. Gianni singt Paul Anka, Harry „Higher and Higher“ von Jackie Wilson. Die Jury schwelgt im Las-Vegas-Sound der 60er, singt mit und verteilt Recall-Zettel. Dass der Auftritt so originell klingt wie in der „Mini Playback Show“ stört keinen. Hauptsache, gute Laune und keinem tut’s weh.

Manche Sachen ändern sich nie...

Danach kommt die selbst ernannte Influencerin Jessica. Das Erste was der Einspieler von ihr zeigt, ist der Po. So wäre es früher wohl auch gewesen. Was man danach hört, sind schiefe Töne. Vor dem Studiofenster fiebert Jessicas beste Freundin mit – und muss anhören, wie Silbereisen der Kandidatin bescheinigt: „Deine Freunde müssen ehrlicher zu dir sein.“ Als sexy Lachnummer hätte Jessica Bohlens niederste Instinkte geweckt. Beim neuen DSDS verabschiedet der Off-Ton sie jetzt mit den Worten: „Jessica hat sich getraut, es zu probieren. Und dafür: Respekt!“ Mitleid mit der heißen Lachnummer, das ist neu in der Show.

Salji Zivoli alias Sanil ist im Heim aufgewachsen und hat seinen Bruder bei einem Verkehrsunfall verloren – und diese bittere Geschichte erzählt er erst in einem Einspielfilm und dann noch einmal in seiner Rap-Nummer „Kinderheim“. DSDS soll offensichtlich empathischer werden. Und ein Kniff braucht dabei gar nicht angepasst werden: Bei seinen Gefühlen packen kann man den Zuschauer immer noch. Und das zieht sich durch.

Weniger Menschenzoo, mehr manipulative Emotion

Als Ilse DeLange später zum Song der Gospelsängerin Abby weint, erwähnt ihr Co-Juror Toby Gad die Tränen extra noch mal – obwohl RTL sie natürlich längst in einer Nahaufnahme hatte. Man merkt, dass Ilse TV-Erfahrung hat, sie weiß, wann man auf die Tränendrüse drückt. Es scheint fast so, als würde DSDS sich in Richtung der freundlichen Musik-Show wie „Sing meinen Song“ entwickeln –  weniger Menschenzoo, mehr manipulative Emotion.

Man kann das mit dem Talent aber auch zu ernst nehmen. Roberto Barka alias Dimelo Santiago zum Beispiel singt wahrscheinlich nicht so gut. In seiner Eigenkomposition „Tanz mit dem Beat“ ist das nicht so klar zu ergründen, denn er ruft immer wieder nur diese paar Worte: „Tanz mit dem Beat“. Und die Jury schickt ihn nicht in den Recall, wo er hingehört, sondern zurück nach Halle (Westfalen). Offensichtlich will RTL ganz weit weg von Kandidaten wie Shada Ali aus der letzten Staffel. Bei dem wusste man bis in den Auslandsrecall nicht, ob sein Geschrei ein Auftrag von Böhmermann ist oder ein echtes mentales Problem.

So befreiend ist die Abwesenheit von Dieter Bohlen

Aber das heißt noch nicht, dass jeder schlechte Sänger nicht in die Show passt. DSDS hat auch gute Kultkandidaten hervorgebracht. Kazim Akboga zum Beispiel wollte gar nicht gut singen, trotzdem war sein „Is mir egal“ ein Höhepunkt der Formatgeschichte. Roberto hätte alles gehabt: eine große Klappe, eine tolle Figur –  Der Mann ist dünner als sein eigener Vollbart! –  und Sendungsbewusstsein: Der Mann ist bereit, enthemmt von seiner Zukunft als Superstar zu fantasieren. Im Einspieler wirft er mit Geldscheinen um sich – und nicht mal das kriegt RTL richtig ins Bild. Natürlich will man danach auch sehen, wie der künftige Neureiche seine 70 Euro wieder aufsammelt.

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Wie befreiend die Abwesenheit von Dieter Bohlen ist, wird beim Auftritt von Melissa klar. Die 17-Jährige wird im Pressetext so beschrieben: „Die schüchterne Bank-Azubine mit georgischen und griechischen Wurzeln lebt in Ingolstadt und ist seit Kindesbeinen musikalisch.“ Biene, Beine, dunkelhaarig und jung: Wer nur eine der bislang 371 DSDS-Folgen gesehen hat, weiß, was diese Kombination bei Bohlen auslöst. Und es ist wirklich wohltuend, dass diesmal niemand eine Minderjährige angräbt.

Im Schnitt schalteten am Samstagabend 2,65 Millionen Menschen zum Silbereisen-Auftakt an, noch einmal deutlich weniger als im vergangenen Jahr. 2021 hatte die erste DSDS-Folge etwa 3,3 Millionen erreicht. (mit dpa)

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