Debatte um RassismusAlte weiße Männer stehen unter Beschuss – zu Recht?

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Ayaan Hirsi Ali (1)

Leben in Freiheit im Westen: Ayaan Hirsi Ali floh vor einer Zwangsehe aus Somalia.

Köln – Die somalisch-niederländisch-amerikanische Intellektuelle Ayaan Hirsi Ali kennt die Verhältnisse an den Universitäten in den USA. Seit 2006 lebt sie in dem Land, seit 2013 ist sie amerikanische Staatsbürgerin. Gegenwärtig arbeitet Hirsi Ali als Research Fellow an der Hoover Institution in Stanford. Ein Thema, sagt sie, habe eine rasante Karriere im universitären Betrieb hingelegt: „Die akademischen Amerikaner sind geradezu besessen von den Themen Rasse und Sklaverei.“

Im Gespräch mit dem Feuilletonchef der „Neuen Zürcher Zeitung“, René Scheu, kritisiert die 1969 in Mogadischu geborene Politikwissenschaftlerin und Feministin, dass die Debatte bewusst einseitig geführt werde. „Wo ich herkomme, wissen das alle: Auch Afrikaner versklaven Afrikaner, das war im 18. Jahrhundert so, als afrikanische Helfershelfer den Sklavenhändlern zuarbeiteten, und es ist heute so. Rassismus und Sklaverei zählen zum Schlimmsten, was die Menschen tun, seit es sie gibt, aber sie sind keine westliche Spezialität. Eine westliche Spezialität ist allerdings ein Leben in Freiheit.“ Wenn sie diese Einsicht vorbringe, hörten die akademischen Amerikaner weg und wechselten das Thema.

Dämonisierung des weißen Mannes

Eine differenzierte Betrachtung, schlussfolgert Hirsi Ali, würde ein ideologisch begründetes Gedankengebäude zum Einsturz bringen, das sich die Linke in den USA gebaut habe: „Wir erleben durch einen Teil der Gesellschaft gerade die Dämonisierung des weißen Mannes. In jedem weißen Mann – so das hyperradikale linke Narrativ, das in den USA längst etabliert ist und in Europa auch immer weitere Kreise zieht – steckt ein Unterdrücker, ein Täter, ein Patriarch.“ Zu Recht fragt sich Hirsi Ali, „warum viele diesen Blödsinn einfach so hinnehmen. Wo bleibt der Widerstand?“

Die von ihr diagnostizierte Praxis von extremer Teilnahme an der Bewegung „Black Lives Matter“ (BLM) hat in der Tat Europa längst erreicht. Ein aktuelles Beispiel: Die British Library in London, die Nationalbibliothek des Vereinigten Königreichs, hat sich als Reaktion auf die BLM-Kampagne zum Kampf gegen Rassismus verpflichtet. Dazu hat sie relevante Fakten zu Sammlungen der Bibliothek und den dazugehörigen Autoren gesammelt.

Sklaven als Zeitungsboten?

Englische Zeitungen berichteten jetzt über ein Dossier der British Library mit mehr als 300 Individuen und Institutionen, die von Sklaverei und Kolonialismus profitiert hätten. Darunter sind bekannte Namen des literarischen Lebens: unter anderem der Dichter Ted Hughes (1930-1998). Hughes wurde als Sohn eines Schreiners und einer Schneiderin in Mytholmroyd in West-Yorkshire geboren und zog dann mit den Eltern nach Mexborough in Süd-Yorkshire um. Dort betrieben die Hughes einen kleinen Zeitungsladen. Mit Sklaven als Zeitungsboten?

Man muss die Sache wie die British Library aus historischer Perspektive betrachten. Ein Vorfahre der Familie Hughes, Nicholas Ferrar, war offenbar in Geschäfte mit der London Virginia Company verstrickt, die zu Zeiten von James I. die Kolonialisierung Nordamerikas vorantreiben sollte und in Jamestown die Vermittlung von Sklaven an Tabakplantagen organisierte

Ferrar wurde 1592 geboren, 338 Jahre vor Ted Hughes. Mit ein bisschen Glück hätte er William Shakespeare persönlich begegnen können. Ferrar starb 1637 unverheiratet und kinderlos: ein in jeder Hinsicht sehr entfernter Verwandter des Dichters.

„Black Lives Matter, but this is going too far“

Hughes’ Biograf Sir Jonathan Bate hat das Verfahren der British Library, Verfehlungen aus der Vergangenheit gleichsam zu vererben, kritisiert. „Black Lives Matter, but this is going too far“, urteilte er per Twitter. Die British Library eierte zunächst herum und erklärte, sie wolle lediglich zur Aufklärung beitragen, aber nicht etwa Hughes’ Ruf beschädigen. Dem hielten Vertreter der aufgeklärten Gesellschaft entgegen, dass der Erkenntnisgewinn im Fall Ferrar/Hughes gegen null tendiere, das Ansehen des Poeten aber sehr wohl leiden könne. Nicht unwahrscheinlich, dass seine Gedichte nun mit anderen Augen gelesen werden könnten. Zum Beispiel „Krähes Fall“ mit der Zeile „Wo weiß schwarz ist und schwarz weiß, da hab ich gesiegt“. Oder „Krähfarben“ („Er war um so viel schwärzer / Als jeder Neger / Wie eines Negers Pupille“). Oder „Krähe schwärzer denn je“. Und was ist mit „Die Schwarze Bestie“? Angesichts der Reaktionen absolvierte die British Library einen U-Turn, entschuldigte sich förmlich bei Hughes’ Witwe Carol Hughes, räumte den vorab auf der Website dokumentierten Hughes-Ferrar-Komplex ab und versprach, den Unsinn nicht zu wiederholen: „This reference will not be made again.“

Nach wie vor wolle die British Library aber den historischen Kontext von Sammlungen und den damit verbundenen Autoren untersuchen – unter besonderer Berücksichtigung von Sklaverei und Kolonialismus. Mit den Ergebnissen will die Institution jetzt aber erst dann an die Öffentlichkeit gehen, wenn das Dossier abgeschlossen ist.

Ted Hughes ist (nun muss man sagen: war) in guter Gesellschaft. Auch Lord Byron, Oscar Wilde und George Orwell stehen auf der Liste der British Library. Byrons Urgroßvater, ein Händler, hatte Besitz auf Grenada, einem Onkel gehörten Plantagen. In Wildes Stammbaum findet sich ein im Sklavenhandel aktiver Onkel. Orwells Urgroßvater hatte Sklaven auf Jamaika.

Grund genug, um diese Autoren aus dem Kanon der Weltliteratur herauszukegeln? Das könnte schnell passieren in Zeiten, in denen alte weiße Männer im Verdacht stehen, für alle Übel der Welt verantwortlich zu sein. Sorglos wie die British Library Jahrhunderte zu überbrücken und eine fragwürdige Ahnenforschung zu betreiben, beweist regelrecht alttestamentarische Härte: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, bis in die dritte und vierte Generation.“ Und, wir leben im 21. Jahrhundert, weit darüber hinaus.

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