Vorsicht vs. RisikoMarkus Gabriel und Karl Lauterbach debattieren über Pandemie

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Karl Lauterbach (r.) und Markus Gabriel diskutierten zum Auftakt der phil.Cologne über den Umgang mit der Pandemie.

Köln – Nein, die Fetzen fliegen nicht zwischen Karl Lauterbach und Markus Gabriel zum Auftakt der neunten phil.cologne. Man schätzt einander, so dass das Thema „Vorsicht vs. Risiko? Vom Umgang mit der Pandemie“ betont fair debattiert wird. Dabei fragt Moderatorin Svenja Flaßpöhler provokant: „Muss die individuelle Freiheit sterben, damit wir leben können?“ Die Antwort in den ausverkauften Balloni-Hallen kommt nach 90 geistreichen Minuten.

Zuvor kritisiert der Bonner Erkenntnistheoretiker und Moralphilosoph Gabriel: „Der Staat hat in der Pandemiebekämpfung viel zu sehr die Führung übernommen.“ Und leider säßen die „marginalisierten Geisteswissenschaften in den entscheidenden Beratungsgremien nicht mit am Tisch“. Insgesamt brauche es „mehr Eigenverantwortung auf allen Skalen der Gesellschaft“.

Statt mündiger Bürger sieht der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe eher gefährliches Halbwissen, gestreut von falschen Internet-Propheten. Dann lieber entschlossenes Handeln von oben. „Wir sind mit unserer Top-Down-Methode und dem harten Kurs gut gefahren.“ Gegenüber vergleichbaren EU-Ländern gebe es hier nur halb so viele Todesfälle – „wir haben 100 000 Menschen gerettet“.

Wochenend-Tipps

„Was macht uns resilient?“ fragt die Philosophin Svenja Flaßpöhler den Soziologen Andreas Reckwitz (Sa, 18 Uhr, Balloni-Hallen) und meint die Widerstandskraft gegen Krisen. Um 21 Uhr unterhält sich Jürgen Wiebicke am gleichen Ort mit Regina Schilling „Über das glückende Gespräch zwischen den Generationen“. Am Sonntag spannt KI-Experte Klaus Mainzer bei Gert Scobel den Bogen „Von der Quantenwelt zur Künstlichen Intelligenz“ (17.30 Uhr, Comedia), bevor Thea Dorn um 19 Uhr im WDR-Funkhaus anlässlich ihres Romans „Trost“ mit Wolfram Eilenberger „Vom Trost der Philosophie“ berichtet. (Wi.)

Lauterbach zeigt sich philosophisch durchaus kundig. Er vertraut dem amerikanischen Denker Tim Scanlon und dessen Version des Kategorischen Imperativs von Kant: „Es muss getan werden, was kein vernünftiger Mensch ablehnen kann.“ Wobei der Politiker zugibt, dass die Umsetzung dieser Maxime in der Corona-Krise „ein bisschen schmutzig“ sein könne.

Nur ein bisschen? Gabriel findet es „moralisch verwerflich“, Schulkinder in 14-tägige Quarantäne zu schicken. Die chaotischen Folgen der 2G-Regel in Hamburg hat er gerade mit seinen Kindern erfahren („es ist unmöglich herauszufinden, wo man mit ihnen hingehen darf“), so dass er überraschend eine Impfpflicht für das kleinere Übel gegenüber den Alternativszenarien für den Herbst hält.

Noch verblüffender: der Widerspruch des Dauermahners: „Ich begegne Menschen mit panischer Impfangst, die lieber sterben oder den Impfarzt umbringen würden. Man müsste so hart an die Psyche dieser Leute herangehen, dagegen ist das Eintreiben der GEZ-Gebühren gar nichts.“ Für 2G aber hat Lauterbach Sympathie. Da von zehn Schnelltests vier falsch negativ ausfielen, wären Getestete in Clubs eine große Gefahr. Der Philosoph hingegen sieht die Abgewiesenen so in häusliche Partys ohne Hygieneregeln zurückgedrängt.

Phasenweise duellieren sich die klugen Köpfe in fachchinesischem Namedropping. Das Virus der intellektuellen Eitelkeit grassiert, bis Flaßpöhler zur Einfachheit mahnt. Kann der Köln-Mülheimer Wahlkämpfer auch: Kollegen sagten manchmal über die Ungeimpften: „Lass die Idioten sich doch infizieren.“ Doch nein, er müsse auch die Unwissenden schützen. Da wittert die Moderatorin „Infantilisierung“.

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Markus Gabriel konstatiert, dass es „moralische Tatsachen“ gebe, fordert zugleich aber eine „Ethik des Nichtwissens“. Schließlich reiße der enorme wissenschaftliche Fortschritt immer größere Verständnislücken. Da zückt der Gesundheitspolitiker das aktuelle Beispiel eines vielversprechenden Covid-Medikaments, das über einen hochkomplexen Wirkstoffabgleich von einer Künstlichen Intelligenz entwickelt wurde. Nur: Wer haftet dann für eventuelle Nebenwirkungen?

Am Ende des anregenden Abends noch einmal die Frage, ob die Freiheit für unser Überleben sterben müsse. Nein, meint Lauterbach, denn das Leben sei ohne Freiheit nichts wert. Markus Gabriel: „Wir können ohne Freiheit kein Leben führen, in dem wir lernen zu sterben.“

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