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„Sofagate“Michel gibt sich bußfertig – Machtkampf mit von der Leyen

Lesezeit 3 Minuten
„Ähm...“ : Die Sekunde, in der Charles Michel (Mitte) sein diplomatischer Fauxpas bewusst wird, festgehalten  in einem Video-Standbild: Ursula von der Leyen (links) ist erst perplex, dann verärgert – und das offenbar nicht zum ersten Mal.

„Ähm...“ : Die Sekunde, in der Charles Michel (Mitte) sein diplomatischer Fauxpas bewusst wird, festgehalten  in einem Video-Standbild: Ursula von der Leyen (links) ist erst perplex, dann verärgert – und das offenbar nicht zum ersten Mal.

Brüssel – So zerknirscht hat die Europäische Union schon lange keinen ihrer Spitzenvertreter mehr erlebt. Glaubt man Charles Michel, dem Ratspräsidenten der EU, dann plagen ihn seit dem „Sofagate“ von Ankara heute vor einer Woche Gewissensbisse der übelsten Art. Er könne „nicht mehr schlafen“, gestand er am Wochenende in mehreren Interviews ein, würde am liebsten „die Zeit zurückdrehen“, nach Ankara „zurückreisen und alles anders machen“. Schließlich sei er kein „Frauenfeind“.

Die Frau und Kollegin, der dieser Kotau galt, war derweil ein paar Tage zur Familie nach Deutschland gereist: Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission und in Ankara vor den beiden Präsidenten Michel und Gastgeber Recep Tayyip Erdogan abgelegen auf einem Sofa platziert. In einer ersten Reaktion hatten die meisten Beobachter die Schuld für die erkennbare Brüskierung von der Leyens bei den türkischen Gastgebern gesucht. Doch inzwischen schält sich heraus, dass im Hintergrund offenbar andere Kräfte am Werk waren – und dass die Deplatzierung der Kommissionspräsidentin Teil eines seit längerem laufenden Machtkampfes ist, den vor allem Michel und sein Umfeld pflegen.

Michels Protokoll-Abteilung übernahm Planung

Es waren die Protokollexperten des Ratspräsidenten, die die Vorbereitung der Visite übernommen hatten. Mit Blick auf die Coronavirus-Beschränkungen verzichtete die EU-Kommission darauf, ihre eigenen Zeremonienmeister mitzuschicken. In Ankara stellten Michels Leute also die Weichen. Selbst der vor Ort residierende EU-Botschafter, Nikolaus Meyer-Landrut, beklagte hinterher, Michels Protokoll-Abteilung habe alles an sich gezogen.

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Damit nicht genug. Scheibchenweise stellte sich am Wochenende heraus, dass eine weitere Demütigung von der Leyens von ihrem persönlichen Stab verhindert werden konnte. Ein Mitarbeiter hatte nämlich einen Blick in den Saal geworfen, in dem Erdogan die beiden Gäste anschließend bewirten wollte. Am Tisch standen zwei Stühle mit hohen Rückenlehnen – erkennbar für das türkische Staatsoberhaupt und den EU-Ratspräsidenten. Die Kommissionschefin sollte etwas seitlich auf einem Möbel Platz nehmen, das dem der übrigen Entourage aus Brüssel entsprach. In Windeseile wurde ein dritter „Präsidenten-Sitz“ herbeigeschafft und von der Leyen zu den anderen beiden gesetzt.

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Spätestens mit dieser Enthüllung schien klar, dass die Michel-Leute keineswegs einen unbeabsichtigten Fehler begingen, sondern vollzogen, was das Sekretariat des Europäischen Rates in Brüssel auch sonst vertritt: Der Ratspräsident genießt in ihren Augen den Status eines Staatsoberhauptes, die Kommissionspräsidentin dagegen nur den einer Premierministerin. Einige sagen sogar, von der Leyen sei „lediglich“ eine Behördenleiterin. So ließ sich jedenfalls Michels Protokollchef am Wochenende zitieren. In der Kommission bezeichnet man das als Unsinn: Es gebe keine protokollarische Hierarchie, beide seien gleichwertig. Das entspricht den EU-Verträgen. Also doch ein Machtkampf?

Das würde ins Bild passen, denn das Miteinander der beiden in Brüssel ist bekanntermaßen von inniger Konkurrenz geprägt. Vor allem Michel bemüht sich seit seiner Amtsübernahme im Dezember 2019, mehr als nur der Grüßaugust der EU-Gipfeltreffen zu sein. Der liberale Belgier, der vor seinem Wechsel vier Jahre lang glücklos sein Heimatland regiert hatte, strebt nach mehr. Er versteht sich nicht als bloßer Geschäftsführer des Kreises der Staats- und Regierungschefs. EU-Präsident möchte Michel sein. Und mit diesem Anspruch kommt er sich mit von der Leyen absehbar ins Gehege.

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