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Jahrestag der Auschwitz-BefreiungHolocaust-Überlebende hält bewegende Rede

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Inge Auerbacher

Inge Auerbacher bei ihrer Ansprache im Bundestag 

Berlin – Inge Auerbacher ist heute 87 Jahre alt und lebt seit 75 Jahren in New York. Bei der Gedenkstunde im Bundestag, zu der die alte Dame eigens die weite Reise auf sich genommen hat, erzählt sie, wie sie den Holocaust knapp überlebte. Beim Gang zum Rednerpult wird sie gestützt, ihre Stimme jedoch ist klar und kraftvoll.

„Wer bin ich?“, fragt sie. „Ich bin ein jüdisches Mädle aus dem badischen Dorf Kippenheim.“ Der Dialekt ihrer alten Heimat ist nach all den Jahren unverkennbar. Inge Auerbacher wurde 1934 als letztes jüdisches Kind in der Gemeinde nahe Freiburg geboren. „Papa“, wie sie sagt, hatte für seinen Einsatz als Soldat im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz erhalten, genau wie zwei Brüder ihrer Großmutter, die später nach Estland deportiert und ermordet wurde. Ihre Enkelin Inge Auerbacher spricht nun vor dem versammelten deutschen Parlament und sagt: „Ich wohne seit 75 Jahren in New York, habe aber noch die grauenhafte Zeit des Menschenhasses in Erinnerung“.

Ihre Kindheit in der „glücklichen Gemeinde Kippenheim“ findet mit der Reichspogromnacht, die dort am 10. November 1938 stattfand, ein plötzliches Ende. Fensterscheiben von jüdischen Geschäften und Häusern wurden eingeschlagen. „Ein Stein hätte mich beinahe getroffen.“ Inge Auerbacher ist damals drei Jahre alt. „Mein Opa starb kurz darauf an Verzweiflung.“

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Judenstern symbolisiert die Gefahr

Als die Familie ihr Haus verkauft und ihr Heimatdorf verlässt, sich entschließt, Deutschland zu verlassen, haben sich bereits „alle Türen geschlossen“. Inge Auerbacher erinnert sich daran, dass die meisten Kinder in Jebenhausen, dem Dorf ihrer Großeltern, wo die Familie Unterschlupf findet, „weiter mit mir spielten“. Als Sechsjährige muss sie jeden Tag erst drei Kilometer zu Fuß zum Bahnhof laufen, dann eine Stunde mit dem Zug nach Stuttgart fahren, um die einzige jüdische Schule der Umgebung zu besuchen. „Es wurde gefährlicher, weil Kinder ab 6 Jahren einen Judenstern tragen mussten.“ 1942 wird die Familie in eine Turnhalle in Göppingen gebracht, um sie wie alle anderen Juden in diesen Tagen nach Osten zu deportieren. Ein Soldat nahm der Siebenjährigen ihre Holzbrosche weg: „Die brauchsch net, dort wu Du hingesch.“ So habe er das auf Schwäbisch zu ihr gesagt.

Zusammen mit ihren Eltern kommt sie nach zwei Tagen Reise im Konzentrationslager Theresienstadt an, dem damaligen „Durchgangslager“ für den Weitertransport nach Auschwitz. Zuerst schlafen sie auf nackten Steinböden, später auf Strohsäcken in mehrstöckigen „Betten“. „Wir Kinder wurden schnell selbstständig. Das ganze Leben drehte sich um Essen.“ Inge Auerbacher erzählt, wie ein Abfallhaufen zu ihrem Spielplatz wird. Dort schaben die Kinder Kartoffelreste von Schalen. Viele sterben an Krankheiten.

1944 entgeht ihre Familie „wie durch ein Wunder“ dem Transport und sicheren Tod in Auschwitz. Ihre Freundin Ruth, deren Familie aus Berlin stammt, sieht sie nicht wieder. Ruth und ihre Eltern werden später in Auschwitz ermordet. Sie hatten sich versprochen, sich später zu besuchen, in Berlin und in Kippenheim. „Liebe Ruth, ich bin hier in Berlin, um Dich zu besuchen!“, ruft Inge Auerbacher jetzt im Bundestag. Die 87-Jährige weist auf eine Brosche in Form eines Schmetterlings, die sie zum Anlass ihrer Rede angelegt hat. „Er ist das Symbol für die 1,5 Millionen getöteten Kinder.“ Erst mit 15 Jahren besucht sie selbst regelmäßig die Schule, studiert Chemie und arbeitet später 38 Jahre als promovierte Chemikerin.

„Die Kinder der Welt sind meine“

„Soviel ich weiß, bin ich das einzige Kind, das aus den Deportationen aus Stuttgart zurückkehrte.“ Inge Auerbacher erzählt, dass sie aufgrund ihrer Krankheit nie heiratete und keine Kinder bekommen konnte. Sie sagt: „Ich werde nie Mama oder Oma werden, aber ich bin glücklich – und die Kinder der Welt sind meine.“

Auerbacher sagt: „Die Vergangenheit darf nie vergessen werden. Menschenhass ist etwas Schreckliches.“ Als ihr Vortrag endet, erhebt sich der Bundestag und applaudiert lange. Der Präsident des israelischen Parlaments, Mickey Levy, ebenfalls Gastredner der Gedenkstunde im Bundestag, tritt zu ihr ans Rednerpult und umarmt sie lange und innig.

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Ihm selbst versagt kurz darauf in seiner Ansprache die Stimme, als er aus dem Gebetbuch eines ermordeten jüdischen Jungen das jüdische Totengebet vorträgt. Unter Tränen presst er die Verse hervor, vergräbt sein Gesicht schließlich in seinen Händen.

Vor wenigen Tagen, so erzählt er zuvor, hat er die Villa am Berliner Wannsee besucht, wo vor 80 Jahren, am 20. Januar 1942, Funktionäre des NS-Staats den Massenmord an elf Millionen Juden in Europa planten. „Ich war sprachlos, als ich vor der Villa stand.“ Die vergangenen 80 Jahre und sieben Tage seien historisch „ein Nichts“, eine kurze Zeit. Levys Appell ist eindringlich: „Wir müssen in unseren jungen Frauen und Männern heute das Gute stärken.“

Antisemitismus-Beauftragter Klein warnt vor „Zeiten der Verrohung“

Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein (Foto), fordert neue Ansätze, um die Erinnerung an die NS-Verbrechen wach zu halten. „Sie darf nicht in Formeln und Ritualen erstarren, und sie sollte nicht nur den Kopf ansprechen, sondern auch das Herz und die Emotionen“, sagte Klein. Empathie sei entscheidend in „Zeiten der Verrohung und der Shoah-Relativierungen“.

Klein verurteilte Antisemitismus bei Corona-Protesten scharf. Er nannte es „extrem und infam“, dass einige Teilnehmer von Corona-Demonstrationen sich gelbe Judensterne anheften und so die NS-Verbrechen relativieren. „Das ist die Lust an der Provokation und der Wunsch, damit Aufmerksamkeit zu erzeugen“, sagte Klein. Aber das könne man nicht ignorieren. „Es zeigt einen wachsenden Verrohungszustand in unserer Gesellschaft.“ Corona habe Antisemitismus beflügelt. So habe eine Studie nachgewiesen, dass sich die Zahl deutschsprachiger Internet-Posts mit judenfeindlichen Inhalten seit Beginn der Pandemie verdreizehnfacht habe. „Diese einfachen Muster, dass es einen Sündenbock geben muss, das hat leider eine gewisse Tradition in unserer Gesellschaft.“

Extremisten nutzten die Unzufriedenheit einiger Menschen mit der Corona-Politik aus. Antisemitismus sei „eine Art klebriger Kitt“ für die verschiedenen Protestgruppen, von vermeintlich unbedarften Bürgern, über Esoteriker, Verschwörungsanhänger, „Prepper“, Reichsbürger bis hin zu Rechtsextremisten. Klein begrüßte, dass Strafverfolgungsbehörden viel konsequenter ermitteln, wenn NS-Verbrechen verharmlost würden. Diese monströsen Verbrechen heute gedanklich zu fassen, sei fast unmöglich. „Aber wichtig ist, diese Geschichte anzunehmen, wie eine Art Erbschaft oder Vermächtnis, was aber nicht ausgeschlagen werden kann“, sagte Klein. Hilfreich sei, dass es im Lauf der Zeit leichter werde, die Rolle der eigenen Familie in der Shoa kritisch zu beleuchten. Menschen mit Migrationshintergrund müssten in die Erinnerungskultur einbezogen werden – es sei durchaus möglich, sie zu erreichen.

Jüdinnen und Juden wünschten sich nichts mehr, als in Normalität und Sicherheit zu leben, sagte Klein. Normalität sei aber weit entfernt, wenn vor jüdischen Einrichtungen Polizeischutz zum Alltag gehöre. „Das ist die traurige Botschaft auch zu diesem Gedenktag, dass wir das noch nicht geschafft haben zu zeigen und zu leben: Die jüdische Gemeinschaft ist ein ganz normaler Teil der Gesellschaft und bereichert sie.“(dpa) 

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