75 Jahre nach HiroshimaDer Tod eines Mädchens rührte die ganze Welt

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Japan, Hiroshima: Das Handout des Hiroshima Peace Memorial Museums zeigt die Atombombenkuppel von Hiroshima, die vom US-Militär nach dem Atombombenabwurf fotografiert wurde.

  • Vor 75 Jahren, am 6. August 1945, explodiert die erste Atombombe der Kriegsgeschichte in 600 Metern Höhe über der japanischen Großstadt Hiroshima.
  • 350 000 Menschen werden verstrahlt, 140 000 sterben bis Jahresende, überproportional viele Kinder.
  • Der Tod eines tapferen Mädchens rührt die Welt zehn Jahre später zu Tränen.

Es kann heiß werden in Hiroshima. Die Hafenstadt liegt weit im Süden des japanischen Archipels, auf derselben Breite wie Los Angeles, Kreta oder Marokkos Hauptstadt Rabat. Im August klettert die Quecksilbersäule leicht auf 32 Grad und mehr.

Nobuko Oshita hat sich deshalb eine luftige Schuluniform für die Sommermonate geschneidert. Der Unterricht in der Ersten Mädchen-High-School der Präfektur Hiroshima ist Anfang August 1945 allerdings ausgesetzt. Zusammen mit ihren Klassenkameradinnen ist die 13-Jährige an diesem Montag schon in den frühen Morgenstunden in die Innenstadt gegangen. Bis auf wenige Ausnahmen sind dort fast alle Häuser noch traditionell aus Holz gebaut – und wie durch ein Wunder bislang von US-amerikanischen Luftangriffen praktisch vollständig verschont geblieben. Nun sollen die Schülerinnen dabei helfen,  Häuser abzubrechen und Feuerschneisen zu legen, um bei einem Angriff das Schlimmste zu verhindern.

Mit dem Dreirad unterwegs

Auch Tetsuo Kitabayashi ist zu dieser Arbeit eingeteilt. Der Zwölfjährige hat sich eine Wasserflasche an seinen Einsatzort mitgebracht. Selbst der kleine Shininchi Tetsutami ist schon am frühen Morgen vor dem Haus der Familie mit seinem Dreirad unterwegs. Schließlich ist es ein sonniger Morgen – und die Eltern des Zweijährigen halten die drei B29-Bomber der US-Luftwaffe für harmlose Aufklärungsflugzeuge.

Denn  die staatliche Radarüberwachung hat den Luftalarm für Hiroshima wieder aufgehoben. Und um Treibstoff zu sparen, sind – anders als bislang im Zweiten Weltkrieg – keine Abfangjäger der angezählten japanischen Streitkräfte mehr aufgestiegen.

Mehr als eine Million Grad heiß

Als „Little Boy“, wie die US-Piloten die vier Tonnen schwere Uranbombe mit der Sprengkraft von 12 500 Tonnen TNT nennen, am 6. August 1945 um 8.16 Uhr und zwei Sekunden in 600 Metern Höhe und 250 Meter von ihrem geplanten Zielpunkt entfernt explodiert, wird das Dreirad samt seinem kleinen Besitzer von einem Lichtblitz getroffent. Der Lichtball in der Luft mit einem Durchmesser von 250 Metern ist im Kern mehr als eine Million Grad heiß. Temperaturen von 3000 bis 4000 Grad, die Druckwelle und die radioaktive Strahlung verdampfen an der Erdoberfläche 70 000 bis 80 000 Menschen im Umkreis von 500 Metern.

Der folgende Feuersturm zerstört 70 000 Häuser. Und der als Hitzewolke aufsteigende Atompilz kontaminiert mit seinem nachfolgenden Fallout noch größere Gebiete. Bis zum Jahresende sterben insgesamt 140 000 Menschen. Die Verantwortlichen des US-amerikanischen Atomwaffenprogramms namens „Manhattan Project“ haben Ähnliches erwartet: „Little Boy“ ist derart heikel, dass der Chef des Abwurfteams, Captain William S. Parsons, die Sprengladungen und Zünder erst während des Flugs nach Japan angebracht hat.

Rettung ins Elternhaus

Tetsuo Kitabayashi ist 600 Meter von der Detonation entfernt. Obgleich schwer verletzt, kann er sich in den nächsten Stunden bis in die Nähe seines Elternhauses schleppen. Die Eltern verbinden notdürftig seine Wunden. Am nächsten Tag ist er tot. Nur seine Wasserflasche bleibt zurück und liegt heute hinter Glas im Friedensmuseum neben dem Ground Zero in Hiroshima. Dort hängt auch die Schuluniform von Nobuko Oshita. Das Mädchen traf der Licht- und Hitzeblitz 800 Meter entfernt von dort. Sie ist zu einer Fabrik geflohen.

Männer eines Rettungstrupps haben sie nach Hause gebracht. Dort ist sie gestorben. Ebenso wie der kleine Shininchi Tetsutami, auch wenn der in 1,5 Kilometer Entfernung von Ground Zero gespielt hatte und einen Spielzeughelm aus Metall trug, als er mit seinem Dreirad unterwegs war. Sein Vater bringt es nicht übers Herz, den Kleinen allein in das leere Grab eines Friedhofs zu legen. Shinichi wird deshalb im Garten der Familie beigesetzt – zusammen mit seinem Dreirad. Erst 40 Jahre später wird der Leichnam des Kindes exhumiert und ins Familiengrab umgebettet. Sein Dreirad kommt ins Museum.

Das ganze Leben verändert

Mit klinischer Präzision haben die Kuratoren des Friedensmuseums recherchiert, wie der Abwurf der ersten Atombombe das Leben der Menschen in Hiroshima für immer veränderte. Es ist die Nüchternheit, die Besuchern auch ein Dreivierteljahrhundert später noch kalte Schauer über den Rücken und nicht wenigen Tränen in die Augen treibt. An verschiedenen Stellen liegen Taschentücher aus für diejenigen, die es übermannt.

Dies ist kein Ort für Schuldzuweisungen. Die aggressive japanische Expansionspolitik jener Zeit und der Angriff auf Pearl Harbour kommen ebenso wenig zur Sprache wie Vorwürfe gegenüber den Amerikanern.

Ausführlich wird vielmehr die spätere zivile Hilfe durch das Internationale Rote Kreuz und US-Hilfsorganisationen thematisiert. Es ist ein Ort des Schweigens und des  Entsetzens darüber, dass noch immer Hunderte Atomsprengköpfe in den Arsenalen der Militärs – auch in Büchel in der Eifel – lagern.

Schwer zu ertragende Stille

Nur die große Friedensglocke draußen im Park durchbricht die Stille, die mancher Tourist nur schwer erträgt. Kaum zu glauben, dass Hiroshima außerhalb des Friedensparks heute eine beliebte Millionenstadt ist. Die Aioi-Brücke – das eigentliche Abwurfziel – hat man leicht reparieren können. Sie ist erst 35 Jahre später durch einen Neubau ersetzt worden. Daneben erinnert die Backstein-Ruine der Industrie- und Handelskammer an die Detonation. Man hat sie als Mahnmal stehen lassen. Vom Friedenspark rumpelt die Straßenbahn durch belebte überdachte Ladenstraßen mit Hunderten kleinen Läden und  zum Hauptbahnhof.

„In Hiroshima kann man wirklich gut leben“, sagt unterwegs der Gesundheitsökonom Andreas Scheller. Der Professor für Public Health & Welfare ist auf dem Weg zur Arbeit an der Hiroshima International University, wo er Japanern die Vorzüge des deutschen Gesundheitswesens vermittelt. Seit Jahren wohnt er hier mit seiner Familie. Es sind die mentalen Spätfolgen, die manche Opfer – in Japan nennt man sie Hibakusha – bis heute quälen. Viele können nach der Detonation nicht die Leichen ihrer Angehörigen bergen. Tausende Opfer sind komplett verdampft. Oft ist nur ein Schatten der Körper an Hauswänden erhalten geblieben.

Die Folgen der Atombombe

Schuldgefühle und Lethargie sind weit verbreitet. Viele Überlebende entwickelten Jahre später Grauen Star, Haarausfall, innere Blutungen. Die Betroffenen – und selbst ihre Kinder, denen man fälschlicherweise Gendefekte unterstellt – werden in der japanischen Gesellschaft jahrzehntelang stark diskriminiert. Erst seit 1968 erhalten sie kostenlose medizinische Versorgung. Manche geben sich den Behörden aus Scham erst jetzt zu erkennen.

Sadako Sasaki übersteht die Detonation unbeschadet. Als der Feuerball über der Stadt explodiert, spielt die Zweijährige in ihrem Elternhaus in 1600 Metern Entfernung. Während sie in den Armen ihrer Mutter aus dem Feuerinferno entkommt, geht der tückische schwarze Regen über beiden nieder. Trotzdem wächst Sadako zu einem athletischen Mädchen heran. Sie gehört zu den sportlich leistungsstärksten Kindern in ihrer Klasse. Als Sadako sich im November 1954 eine leichte Erkältung einfängt, denken sich ihre Eltern und Geschwister deshalb zunächst wenig dabei.

Symptome verschwinden nicht

Aber die Symptome wollen nicht weggehen. Am Nacken bilden sich Beulen. Erst eine gründliche Untersuchung im Februar 1955 bringt Gewissheit: „Leukämie, längstens ein Jahr zu leben, Hospitalisierung dringend empfohlen“. Sadako Sasaki hat schon viel mitgemacht, als am 3. August ein dicker Briefumschlag mit gefalteten Papierkranichen im Krankenhaus des Roten Kreuzes in Hiroshima eintrifft. Die gelten in Japan seit alters her als Glücksbringer. Wer tausend dieser eleganten Flieger falte, der dürfe sich etwas wünschen, erzählt jemand der inzwischen Zwölfjährigen, um sie zu trösten. Sadako Sasaki beginnt mit der Arbeit.

1600 Kraniche faltet sie in den nächsten 10 Wochen. Und hofft bis zum Schluss. Mitte Oktober steigt ihr Fieber auf über 40 Grad. Sie verliert allen Appetit. Am 24. Oktober schwillt ihr linkes Bein zu einem riesigen schweren Klumpen an. Am nächsten Morgen ist es vorbei. Die örtliche Zeitung vermerkt lapidar „Tod eines Patienten mit A-Bomben-Schäden“. Aber Sadako Sasaki wird nicht vergessen. Ihre Freundinnen falten weiter Origami-Kraniche und ihre Geschichte rührt bald nicht nur Japaner, sondern Menschen auf der ganzen Welt. Mehr als 3000 Schulen spenden in den Folgejahren 5,4 Millionen Yen für ein Friedensdenkmal der Kinder.

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Am 5. Mai 1958 entfaltet Sadako unweit von Ground Zero als Skulptur ihre Flügel: als Standbild. In den Schaukästen rundherum werden seither regelmäßig die Papierkraniche ausgestellt, die zahllose Kinder in Erinnerung an sie und in der Hoffnung auf Frieden gefaltet haben. Auch Exemplare aus Bonn und Ahrweiler waren hier schon zu bewundern. Drei Tage nach dem Abwurf über Hiroshima zerstörte eine zweite Bombe am 9. August 1945 die Stadt Nagasaki. Etwa 22 000 Menschen starben sofort.

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