Aktion zur US-WahlUS-Korrespondent Herrmann beantwortet Fragen unserer Leser

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Frank Herrmann

Frank Herrmann arbeitet seit 2007 als Korrespondent in Washington.

Noch eine Woche bis zu den Präsidentschafts- und Kongresswahlen in den USA. Das Interesse an den Abstimmungen jenseits des Atlantiks ist auch hier groß. Zahlreiche Leser des General-Anzeigers haben sich auf unseren Aufruf hin gemeldet und Fragen an unseren Korrespondenten in Washington, Frank Herrmann, geschickt. Hier sind nun die Fragen und die Antworten.

Otto Roever: Gibt es relevante Bestrebungen, das ziemlich unsägliche Wahlsystem in den USA zu reformieren? Evtl. auch in Richtung Verhältniswahlrecht?

Frank Herrmann: Die Forderung, das System zu ändern, wird immer dann laut, wenn ein Kandidat, der landesweit schlechter abschneidet als sein Kontrahent, das Votum dennoch gewinnt, weil er im Wahlmännergremium (Electoral College) auf eine Mehrheit kommt. Donald Trump konnte ins Weiße Haus einziehen, obwohl er 2,868 Millionen Stimmen weniger erhielt als Hillary Clinton. Es war nicht das erste Mal, dass die Diskrepanz zwischen „popular vote“ und dem Resultat nach dem Electoral-College-Schlüssel den Ruf nach Reformen laut werden ließ. Im Jahr 2000 hatte Al Gore gegen George W. Bush verloren, obwohl er rund eine halbe Million Stimmen mehr bekam.

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Zur Person

Frank Herrmann arbeitet seit dem Jahre 2007 als Korrespondent in Washington, unter anderem für die Rheinische Post. Seit 2019 berichtet er auch für die Kölnische Rundschau aus den Vereinigten Staaten. Davor schrieb Herrmann, 61, für Zeitungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus dem Nahen Osten und später auch aus London. Der gebürtige Leipziger hat Arabistik und Islamwissenschaften studiert. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Foto: Privat

Zu erklären ist der Widerspruch mit einem Wahlsystem, das ländlich geprägten Regionen, und damit den Hochburgen der Republikaner, Vorteile verschafft. Ein Staat stellt so viele Elektoren (Wahlmänner), wie es der Anzahl seiner Sitze im Abgeordnetenhaus und im Senat der USA entspricht. Der Proporz im Abgeordnetenhaus richtet sich zwar nach der Einwohnerzahl, in den Senat jedoch entsendet jeder Staat zwei Vertreter, das Bevölkerungsschwergewicht Kalifornien ebenso wie das dünn besiedelte Wyoming. Die Folge: In Kalifornien kommt auf 718 000 Wähler ein „elector“, in Wyoming einer auf 193 000.

Auch das Prinzip „Winner takes all“ trägt zur Verzerrung bei. Wer in einem Bundesstaat als Erster durchs Ziel geht, räumt dort alles ab, auch wenn sein Vorsprung denkbar knapp ist. Bemühungen, zum Verhältniswahlrecht zu wechseln, scheiterten bislang am Widerstand der Republikaner, die vom Status quo profitieren. Ich glaube nicht, dass sich daran so bald etwas ändert.

Günter Reiner: Ich würde gern verstehen, was Menschen in den USA dazu bringt, einen Typen wie Donald Trump zu wählen. Dabei bin ich mir durchaus bewusst, dass die allgemeine Berichterstattung in Deutschland von Abneigung gegen Trump geprägt ist. Was aber bringt auch Leute mit Verstand dazu, solch eine Figur zu wählen. Ist es nur die Abneigung gegen das, was die Demokraten dort vertreten? Oder gibt es wirklich etwas oder gar vieles, das für den Narzissten/Ignoranten Trump spricht?

Herrmann: Erstens hat Trump die Steuern gesenkt, sowohl die Einkommen- als auch die Unternehmensteuer. In der Folge, und natürlich auch wegen der Sonderausgaben der Corona-Krise, wuchs das Haushaltsdefizit noch weiter an. Letzteres wird unter den Anhängern des Präsidenten allerdings kaum thematisiert; für sie zählt allein die kurzfristige Entlastung.

Zweitens stößt Trumps „America first“ im eigenen Land auf durchaus breiten Zuspruch, zumal sich vieles in die Parole hineinlesen lässt. Die weiße Arbeiterschaft im Rust Belt erhofft sich von einem harten, protektionistischen Kurs gegenüber ausländischer Konkurrenz eine industrielle Renaissance. Andere halten dem Amtsinhaber eine im Kern defensive Außenpolitik zugute. In Europa mag sie Ängste vor dem Rückfall in den Isolationismus der 1920er und 1930er Jahre nähren, von vielen Amerikanern wird sie dagegen – mit Abstrichen, wenn es um den Umgang mit Nato-Verbündeten geht – für richtig befunden. Die Kriege im Irak und in Afghanistan haben für anhaltende Ernüchterung gesorgt, dem Land ist vorerst der Appetit auf Militäreinsätze in der Ferne vergangen.

Drittens empfiehlt sich Trump religiös motivierten Wählern durch die Ernennung der Verfassungsrichterin Amy Coney Barrett. Damit kippt die Kräftebalance am ideologisch gespaltenen Supreme Court für lange Zeit zu Gunsten der Konservativen. Womöglich wird demnächst ein 1973 gesprochenes Urteil angefochten, das Schwangerschaftsabbrüche legalisiert. Für evangelikale Christen ist es – ebenso wie die Berufung einer Rekordzahl konservativer Bundesrichter – Grund genug, den in dritter Ehe verheirateten Tycoon aus New York, mit dem sie ansonsten wenig gemein haben, ein zweites Mal zu wählen. 

Leo Kreuz: Was passiert, wenn der abgewählte Präsident nicht von sich das Weiße Haus rechtzeitig verlässt, um dem Nachfolger Platz zu machen und damit der nach dem Eid dort seine Amtsgeschäfte aufnehmen kann? Wer hätte in solchen Fällen die Regie bzw. das Sagen? Würde der Secret Service dann „von sich aus“ in Aktion treten, um den Abgewählten aus dem Amtssitz zu entfernen, ggf. mit der notwendigen bzw. angemessenen Gewaltanwendung?

Herrmann: Ja, dann müsste der Secret Service in Aktion treten, um den Abgewählten zum Verlassen des Weißen Hauses zu zwingen – spätestens am 20. Januar um 12 Uhr mittags. Joe Biden betont schon jetzt, dass die Bodyguards dieser Aufgabe ganz sicher gewachsen wären. Allerdings zeichnen Journalisten, etwa Barton Gellman im Magazin „The Atlantic“, Szenarien, nach denen am 20. Januar noch immer kein Sieger feststeht – und Trump wie Biden Anspruch auf das Amt erheben. Was dann passieren würde, weiß heute im Grunde keiner. 

Manfred Zepperitz:  Wie werden die Soldaten der US-Armee abstimmen? Sie und ihre Angehörigen gehören nach meiner Kenntnis zum Lager der Republikaner. Zugleich gibt es dort sehr viele Farbige jeglicher Herkunft, die die Ereignisse rund um das Wort Rassismus im Kopf haben werden. Ist Trump für Entgleisungen gegenüber seinem Rivalen, zum Beispiel dass die Familie Biden eine Familie des organisierten Verbrechens sei, nach einer verlorenen Wahl rechtlich belangbar?

Herrmann: Eines vorweg: US-Soldaten sind latente Wahl-Muffel. 2016 gaben nur 46 Prozent der aktiven Soldaten ihre Stimme ab, was deutlich unter der Wahlbeteiligung der Zivilbevölkerung lag. Diesmal rechnen Pentagon-Insider mit höheren Zahlen. Laut einer Umfrage der „Military Times“ sieht es nicht gut aus für den Präsidenten. Demnach wollen 41 Prozent der Militärs Biden den Zuschlag geben. Der Commander-in-Chief, der sich rühmt, mehr für die Armee getan zu haben als jeder seiner Vorgänger, kommt gerade mal auf 37 Prozent. Was die strafrechtliche Verfolgung Trumps für verleumderische Aussagen gegen Joe Biden nach einer etwaigen Niederlage angeht, ist die Antwort klar: Ja, falls jemand Anklage erhebt.

Cornelia Parisius: Ich weiß, dass es pro US-Bundesstaat je nach Einwohnerzahl eine bestimmte Anzahl von Wahl-Männern oder Wahl-Frauen gibt, die zum Schluss ihre Stimme abgeben und das Endergebnis bestimmen. Wie wird man zum „Wahl-Mann“ oder zur „Wahl-Frau“ und wem gegenüber ist man mit seiner Stimme verpflichtet?  Welche Stimme muss ich also als Wahl-Mann oder -Frau abgeben? Kann ich hierbei meine eigene Überzeugung ausdrücken oder bin ich denen gegenüber verpflichtet, die mich als Wahl-Mann aufgestellt habe?  Ist die Stimme des Wahl-Manns offen oder geheim? Kann seine Stimme kontrolliert werden?

Herrmann: Es beginnt mit einer Bewerbung in dem Bundesstaat, in dem man seinen Wohnsitz hat. Dort entscheiden beide große Parteien auf Kongressen, wen sie als Wahlmann oder Wahlfrau aufstellen. Zumeist sind es Lokalgrößen, die ein öffentliches Amt ausüben. Nach alter Tradition sind sie verpflichtet, für den Kandidaten der eigenen Partei zu stimmen – immer vorausgesetzt, der eigene Kandidat hat gewonnen. Formell müssen die Staaten am 8. Dezember, dem Safe Harbor Day, die Wahlmänner und -frauen benennen, die am 14. Dezember im Electoral College den Präsidenten wählen.

Das Problem ist: Nirgendwo in der Verfassung steht geschrieben, wie genau die Staaten ihre Wahlleute bestellen. Ist also bis zum 8. Dezember ein Ergebnis umstritten, zieht sich ein Rechtsstreit hin, etwa, weil Anwälte Trumps wegen angeblichen Betrugsverdachts aufgrund der pandemiebedingt außergewöhnlich hohen Zahl von Briefwahlstimmen klagen, kann ein bisher allenfalls theoretisch denkbares Szenario eintreten. Dann kann das Parlament des jeweiligen Bundesstaats dessen Elektoren bestimmen. In den meisten hart umkämpften Swing States, in Arizona, Florida, Michigan, North Carolina und Wisconsin, stellen derzeit Republikaner die Mehrheit in den Lokalparlamenten.

Lorenz Dierschke: Warum beginnt der Wahlvorgang so unterschiedlich und so früh vor dem eigentlichen Termin? Welche Wahlbehinderungen können Sie beobachten? Hat die Präsidentenwahl Auswirkungen auf Kongress und Senat?

Herrmann: Wahlen in Amerika sind in jeder Hinsicht sehr „föderale” Vorgänge. Über Zeitpläne, Kriterien für vorgezogene Stimmabgabe und das Procedere der Briefwahl entscheiden allein die Bundesstaaten. Diesmal haben etliche ihre Termine wegen der Pandemie nach vorn verlegt. Über Wahlbehinderungen gibt es bisher keine belastbaren Berichte. Dokumentiert sind allerdings Versuche, bestimmte Wählergruppen, schwarze Amerikaner oder auch Latinos, in sozialen Medien einzuschüchtern. In mehreren Staaten, zum Beispiel in Georgia, wird über ein ausgedünntes Netz von Wahllokalen für das „early voting” geklagt, was zu langen Wartezeiten führt. Verliert Trump, wackelt möglicherweise auch die republikanische Mehrheit im Senat. Die Demokraten benötigen vier zusätzliche Mandate, um dort die Majorität zu übernehmen. Im Repräsentantenhaus dürften sie allen Umfragen zufolge die Kontrolle behalten.

Ein Leser, der anonym bleiben möchte: Für den Fall, dass Donald Trump die Wahl verliert, ist dann in den USA sogar mit einem Bürgerkrieg oder ähnlichen, schweren Krawallen zu rechnen?

Herrmann: Trump hat mehrmals erklärt, dass er das Resultat nur anerkennt, wenn er wiedergewählt wird – was manche seiner Berater als humorvolle Einlage abtun. Außerdem sät er massive Zweifel an der Briefwahl, indem er behauptet, Briefwahlstimmen seien millionenfach gefälscht. Belege dafür gibt es nicht, der harte Kern seiner Anhängerschaft nimmt jedoch grundsätzlich für bare Münze, was ihr Idol sagt. Schon deshalb ist im Fall seiner Niederlage mit Krawallen zu rechnen, provoziert durch rechte Milizen, von denen sich der Präsident nie distanziert hat. Dass sie über lokale Auseinandersetzungen hinaus zu einem Bürgerkrieg führen, kann ich mir aus heutiger Sicht nicht wirklich vorstellen.  

Volker Schlegel: Was ist aus Ihrer Sicht der Grund für die Feindschaft der USA gegen die Führung in Iran? Ist es die nach wie vor die tief sitzende Verletzung aus der Geiselkrise, die zu einer Art Trauma geführt hat? Gibt es keinen Think-Tank, der der US-Regierung mal erklärt, dass sie selbst zur Machtergreifung der Mullahs einen wichtigen Beitrag geleistet haben, für den sie eigentlich Verantwortung übernehmen müssten? Warum ist der US-Regierung nicht bewusst, dass sie mit den Sanktionen –- wie meist bei Sanktionen – den Falschen treffen? Die Bevölkerung leidet, nicht die Mullahs. Warum lernen die USA nicht, dass sie genau das Falsche tun? Denn die Iraner sind sehr patriotisch: wenn es Druck vom Ausland gibt, bedeutet dies für die Bevölkerung, dass sie alle zusammenhalten müssen und keinen internen Streit haben dürfen - auch nicht gegen die verhasste eigene Regierung?

Herrmann: Ja, ich denke, das Trauma der Geiselnahme, als Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre 52 US-Diplomaten in Teheran 444 Tage lang gefangen gehalten wurden, hat sich tief eingegraben ins kollektive Gedächtnis der amerikanischen Politik. Es trägt sicher bei zu einem latenten Misstrauen, vor allem bei den Konservativen.

Als sich die Europäer anfangs bemühten, die Regierung Trump vom Ausstieg aus dem Nuklearabkommen mit Iran abzuhalten, haben Diplomaten nach ihren Schilderungen genau das erlebt. Der Außenminister Rex Tillerson beispielsweise, einst Ölmanager und eigentlich ein Realpolitiker, von Trump 2018 geschasst, ließ demnach bei Verhandlungen deutlich erkennen, was die Geiselkrise an Verletzungen und Ressentiments hinterlassen hat.

Hinzu kommen die Erfahrungen der Amerikaner im Irakkrieg. Es waren nicht nur sunnitische, sondern auch schiitische, von Teheran unterstützte Milizen, die ihnen zu schaffen machten, als sie die Kontrolle über das Zweistromland verloren.

Generell glaube ich, dass die meisten Republikaner mit dem Konzept „Wandel durch Annäherung“, wie es ja auch in der Iranpolitik Erfolg haben könnte, eher fremdeln. Barack Obama hat im Grunde danach gehandelt, indem er eine Öffnung anstrebte. Republikaner setzen auf Druck, unüberlegt, wie ich finde.

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