Corona-PandemieWie Deutschland in Sachen Impfungen aufholt

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Impfung Spritze Fläschchen

Symbolbild

  • Die ersten Experten sehen die deutsche Impfkampagne zur Bewältigung der Corona-Pandemie bereits auf der Zielgeraden.
  • Doch noch gibt es einige Stolpersteine, die den Lauf in die weltweite Spitzengruppe bremsen könnten.

Nach dem vermasselten Start liegt Deutschland beim Impftempo plötzlich in der Spitzengruppe. Doch kaum geht die Kampagne richtig los, tauchen neue Sorgen auf: Sinkt mit den fallenden Corona-Zahlen schon bald auch die Impfbereitschaft? Schaffen wir es nicht bis zur Herdenimmunität? Was ist mit den Kindern? Die Politik sucht händeringend nach Lösungen. Eine Analyse:

Erst Impfdesaster, jetzt Spitzengruppe – wie kommt das?

Als zu Ostern in den USA, in Großbritannien und Israel schon breite Bevölkerungsteile durchgeimpft waren und das Lockdown-Ende in Sicht kam, waren Frust und Wut über das „Impfdesaster“ hierzulande noch riesengroß. Doch in nur einem Monat hat sich Deutschland vom Nachzügler in die Gruppe der Vorreiter hochgeimpft: Vergangenen Mittwoch wurde die Marke von einer Million Spritzen pro Tag geknackt. Bei Pro-Kopf-Impfungen wurde unter allen größeren Industrienationen plötzlich der Bestwert erzielt. Binnen vier Wochen stieg die Zahl der verabreichten Impfdosen um 82 Prozent.

Zwar schafften Impfzentren, mobile Teams und Hausärzte an diesem Montag „nur“ 424777 Immunisierungen, im Durchschnitt sind es aber immerhin noch mehr als 660000 pro Tag. Im rollierenden Sieben-Tage-Schnitt pro 100000 Einwohner hat Deutschland praktisch zu den USA und Großbritannien aufgeschlossen, während China oder Serbien abrutschen und Russland und die Türkei den Anschluss verloren haben. Dabei hat die EU insgesamt mächtig aufgeholt und ist inzwischen die am schnellsten impfende Region der Welt.

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Ein Nachlassen des Impftempos ist (noch) nicht in Sicht: Nach einer Modellierung des Zentralinstituts der kassenärztlichen Versorgung (ZI) könnte Ende Mai mehr als die Hälfte der Impfberechtigten mindestens eine Corona-Erstimpfung erhalten haben. Mitte Juni – also in gut fünf Wochen – könnten „drei Viertel erstgeimpft sein“, schreibt das ZI auf Twitter. Bis spätestens Ende Juli könnten demnach gar alle Impfberechtigten versorgt werden.

Ist der Zenit schon bald überschritten?

Die Impfmittelknappheit könnte vor allem dank Biontech/Pfizer schon bald überwunden sein. Der Konzern will im Juni allein an Arztpraxen und Betriebsärzte mehr als drei Millionen Dosen pro Woche liefern. „Bereits in ein paar Wochen werden wir voraussichtlich mehr Impfstoff haben als Terminanfragen“, sagt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Da schwingt eine gewisse Unsicherheit mit. Womöglich kommt schon bald der Punkt, an dem nicht jeder, der ein Recht auf eine Impfung hat, die Möglichkeit auch sofort nutzt.

Die Physikerin und Kanzlerinnen-Beraterin Viola Priesemann formuliert es so: „Wir stehen vor einem Dilemma: Nehmen die Fallzahlen über den Sommer ab, dann wird die Impfbereitschaft relativ niedrig sein.“ Der Effekt ist bereits in den USA und in Israel zu beobachten. In den USA gibt es erste Regionen, in denen nicht alle verfügbaren Dosen an den Mann oder die Frau gebracht werden können. Auch in Israel sanken die täglichen Immunisierungen deutlich, nachdem 55 Prozent der Bevölkerung durchgeimpft wurden. Es dürfte daher auch bei uns schwierig werden, das gegenwärtige Impftempo den Sommer über durchzuhalten.

Ist die „Herdenimmunität“ gar nicht zu schaffen?

Ab wann eine mangelnde Impfbereitschaft zum ernsten Handicap werden könnte, darüber streiten sich die Gelehrten. Präventionsexperte Stefan Scholz vom Robert-Koch-Institut hat folgende Prognose: Von den Älteren lassen sich 80 bis 90 Prozent impfen, vor allem aus Sorge vor schwerer Erkrankung. Bei den Jugendlichen ab 16 und den jungen Erwachsenen sind es wohl „nur“ 50 Prozent.

Unterm Strich wären das trotzdem 55 bis 60 Millionen Impfwillige. Hinzu kämen 3,43 Millionen Genesene, zusammen also Dreiviertel der Bevölkerung. Das könnte reichen. Die meisten Pandemie-Experten gehen davon aus, dass 75 bis 80 Prozent immunisiert sein müssen, um auch die ansteckendere Mutante B.1.1.7 auszumerzen.

Laut Umfragen sind allerdings „nur“ rund 65 Prozent der Erwachsenen impfbereit. Hinzu kommt: Für Kinder unter zwölf Jahren – immerhin rund elf Prozent der Gesellschaft – wird vermutlich vor Ende des Sommers kein Impfstoff zugelassen. Und ob die meisten Eltern ihre Kinder ab zwölf Jahren sofort impfen lassen würden, wenn Biontech die Freigabe erhält, ist ebenso fraglich. In diesem Szenario könnte die Herdenimmunität nicht zu schaffen sein, und neue Corona-Wellen im Herbst wären nicht auszuschließen.

Worauf setzt die Bundesregierung jetzt?

Jens Spahn hofft auf einen „Peergroup-Effekt“, wenn ab dem 7. Juni die Betriebsärzte impfen dürfen. Kolleginnen und Kollegen könnten sich dann gegenseitig motivieren, sich die Spritze setzen zu lassen, und Impfmuffel umstimmen.

500.000 Impfungen pro Woche sollen in Betrieben möglich werden. Das Impfen am Arbeitsplatz, aber auch in Universitäten und – perspektivisch – in Schulen, werde „sehr relevant“, schätzt Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation am Science Media Center (SMC).

Neben der Einbeziehung der Betriebsärzte sollen Impfkampagnen in Brennpunktvierteln für eine hohe Quote sorgen. Armut erhöht das Corona-Risiko, unter anderem durch beengte Wohnverhältnisse. Bei Menschen mit Migrationshintergrund kommen häufig Sprachbarrieren hinzu. Die Politik hat das Problem lange ausgeklammert, um Stigmatisierungen zu vermeiden. „Wir müssen endlich begreifen, dass wir einen Teil der aus der früheren Sowjetunion und der Türkei Stammenden hier kaum über unsere klassischen Kanäle erreichen“, sagte Ex-Grünen-Chef Cem Özdemir kürzlich im Gespräch mit unserer Redaktion.

Inzwischen spricht auch Spahn von „einer großen Herausforderung, bei Migranten für die Impfung zu werben“. So verbreite sich etwa in manchen Gemeinschaften unter jungen Frauen Angst, Impfungen könnten unfruchtbar machen, heißt es von Integrationsbeauftragten. Vielerorts wird inzwischen entschlossen gegengesteuert, mit mehrsprachigen Informationsblättern, mit internationalen Ärzteteams, die Freitags vor Moscheen über Test- und Impfmöglichkeiten informieren.

Zum Vorbild wird Köln: Im Stadtteil Chorweiler, wo die Inzidenz dramatisch hochgeschossen war, steht seit Montag ein Impfbus. Kurz nach der Öffnung reichte die Schlange der Impfbereiten einmal um den Platz. Berlin will folgen, Zehntausende Dosen sollen ab kommender Woche in Stadtteilzentren in Problemvierteln verimpft werden. „Da ist etwas zu tun“, sagte Berlins Bürgermeister Michael Müller am Dienstag.

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