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Experte zum Ukraine-Krieg„Deutsche Politik ist geprägt durch Hasenfüßigkeit“

Lesezeit 5 Minuten
shoppingcenter Kiew

Ein zerstörtes Einkaufszentrum in Kiew 

  • Was wissen wir eigentlich über angebliche russische Wunderwaffen, über Gefallene und zivile Opfer?
  • Sicherheitexperte Joachim Krause klärt auf – und sagt, was er von der deutschen Ukraine-Politik hält.

Köln – Russland will zuletzt Hyperschallraketen und andere High-Tech-Waffen in der Ukraine eingesetzt haben. Was bedeutet das?

Das zeigt, dass die Russen im Westen der Ukraine mit normalen Luftangriffen nicht mehr durchkommen. Ob es wirklich Hyperschallraketen waren, ist noch nicht bewiesen, denn die von Russland verbreiteten Aufnahmen nach dem ersten angeblichen Hyperschallangriff waren gefälscht – sie zeigen nicht den angegebenen Ort. Wenn es wirklich Hyperschallraketen waren, dann haben die Russen nicht sehr viele davon und setzen sie primär ein, um zu demonstrieren, was sie können. Das ist noch keine neue, effektivere Strategie, um die Ukraine zu unterwerfen.

Was wissen wir überhaupt über das Kriegsgeschehen? Die Ukraine hat zum Beispiel gerade jetzt behauptet, Russland habe 15.000 Gefallene zu beklagen, Russland hat vor längerer Zeit einige Hundert gemeldet …

Die ukrainischen Zahlen sind zuverlässiger als die russischen, aber auch in Kiew dienen solche Zahlen der Anhebung der Moral. Amerikanische Geheimdienste gehen von 6000 bis 8000 gefallenen russischen Soldaten aus, aber das ist auch nur eine ganz grobe Schätzung.

Zur Person

Prof. Joachim Krause, Jahrgang 1951, leitet das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. Im Ukraine-Krieg wertet sein Institut systematisch die Nachrichten über den Kriegsverlauf und auch die Analysen anderer wissenschaftlicher Einrichtungen aus und erstellt daraus Lagebilder.

Foto: Waldmar Krause

Das wäre schon enorm viel, oder?

Das ist schon richtig. Zum Vergleich: In acht Jahren Afghanistan-Krieg hat die damalige Sowjetunion 15.000 Mann verloren. Aber wir sind noch weit entfernt von der Größenordnung des finnischen Winterkrieges 1940, in dem es auf sowjetischer Seite 150.000 Tote und Verletzte gab. Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber es zeigt, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine ähnlich ausgehen könnte wie der Angriff auf Finnland vor über 80 Jahren: Finnland verlor damals einige Gebiete, aber blieb als Staat erhalten.

Andererseits graben sich die Russen gerade vor Kiew ein und haben dann doch die Chance, ihre Nachschub- und Kommunikationslinien zu verbessern. Ist da die Hoffnung nicht trügerisch, es werde Putin ergehen wie damals Stalin in Finnland, er könne das nicht lange durchhalten?

Es ist nicht gesichert, dass der russische Vormarsch wirklich dauerhaft gestoppt ist, aber es ist ebenso wenig sicher, dass die Russen noch sehr viel weiter kommen können. Aber auch ein Einfrieren des gegenwärtigen Zustandes wäre für die Ukraine eine Katastrophe. Schätzungsweise 15 Prozent des Landes sind unter russischer Kontrolle, und wir haben ja seit 2015 gesehen, was die Russen damit machen: Sie richten kleine sogenannte Volksrepubliken ein und versuchen, die Ukraine zu destabilisieren.

Die UN haben Hunderte zivile Opfer dokumentiert. Aber wenn man sich die Bilder aus Mariupol ansieht, müssen es doch viel mehr sein!

Die UN dokumentieren nur von ihnen überprüfte Fälle. In der Regel erfährt man erst nach Ende eines Krieges die wirkliche Zahl der zivilen Opfer. Aber ich gehe davon aus, dass wir von Zehntausenden sprechen werden müssen.

Wie bedeutsam sind die westlichen Waffenlieferungen?

Die Lieferungen haben der Ukraine sehr dabei geholfen, die russischen Angriffe zurückzuschlagen. Aber sie dürften nicht ausreichen, um das Momentum zu drehen, also den Ukrainern die Möglichkeit zu geben, die russischen Kräfte zurückzudrängen. Dazu bräuchten sie gepanzerte Fahrzeuge und Kampfflugzeuge. So wichtig die Lieferungen also sind, so enttäuschend ist die Grenze, die der Westen hier zieht. Warum soll die Lieferung von Flugzeugen plötzlich den Dritten Weltkrieg auslösen? Ich kann das nicht nachvollziehen.

Naja, die Maschinen müssten aus Nato-Gebiet in die Ukraine fliegen, das könnte Russland als Eingriff in den Krieg interpretieren.

Aber das macht ja keinen grundsätzlichen Unterschied zur Lieferung einer Panzerfaust, die erfolgt ja auch aus Nato-Territorium. Die westlichen Staaten könnten mehr tun, um der Ukraine zu helfen, ohne gleich auf russisches Militär zu schießen.

Was sollten sie denn tun?

Von einer Flugverbotszone würde ich abraten. Um die durchzusetzen, müsste man auch russisches Territorium angreifen. Für durchsetzbar hielte ich aber Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage und zur Verteidigung. Ich denke zum Beispiel an den polnischen Vorschlag, dass westliche Soldaten in der Westukraine großflächig einen humanitären Korridor etablieren und sichern – ohne Kampfauftrag, aber sie können und dürfen sich wehren, wenn sie angegriffen werden. Das würde der Ukraine einen enormen moralischen Aufschwung geben und die russischen Truppen dazu zwingen, ihre Truppenaufstellung umzuorganisieren. Damit würden die Aussichten der Ukrainer auf einen passablen Friedensvertrag bedeutend steigen.

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Wladimir Putin hat gesagt, Russland werde alles tun, um seine Ziele zu erreichen. Wird er auch zu Massenvernichtungswaffen greifen?

Den Einsatz von Chemiewaffen schließe ich nicht aus. Die Masche kennen wir aus Syrien: Man setzt Chemiewaffen gegen die Bevölkerung ein und behauptet dann, man habe nur ein Lagerhaus getroffen, in dem der Gegner Chemiewaffen gehortet habe. Die russischen Lügen über ein angebliches amerikanisch-ukrainisches Biowaffenprogramm könnten so etwas vorbereiten. Den Einsatz von Atomwaffen kann ich mir nicht vorstellen, dazu hat Russland zu viele Soldaten dort.

Wie bewerten Sie das Agieren der Bundesregierung?

Wir machen uns mal wieder ganz klein, raten zur Vorsicht vor dem Weltkrieg und treiben sinnlose Telefondiplomatie. Und ich höre schon wieder den unseligen Spruch „ohne Russland sei Sicherheit in Europa nicht machbar“. In Wirklichkeit ist Sicherheit in Europa nur gegen Russland erreichbar, solange Putin und seine Kamarilla regieren. Alles geht zudem so langsam: Von den in Aussicht gestellten 2500 Strela-Raketen sind nur 500 geliefert worden. Die deutsche Politik ist geprägt durch eine gewisse Hasenfüßigkeit.

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