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Generalvikar Hofmann zu Missbrauch„Es werden Namen genannt, da gibt es kein Tabu“

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Generalvikar Dr. Markus Hofmann

Köln – Im Erzbistum Köln soll es keine Tabus bei der Aufarbeitung von Missbrauchsdelikten geben. Der Kölner Generalvikar Markus Hofmann kündigte für den 12. März die Veröffentlichung einer unabhängigen Untersuchung an. „Und da werden auch Namen genannt, da gibt es kein Tabu“, sagte Hofmann. „Von den Erzbischöfen über die Generalvikare bis zu den Personalverantwortlichen.“ Hofmann ist als Generalvikar Stellvertreter von Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki und leitet die Verwaltung des Erzbistums. Auf die Frage, ob Rücktritte bevorstünden, sagte Hofmann: „Wenn sich persönliche Schuld herausstellt, dann kann ich die Forderung nach Rücktritt verstehen. Aber wir müssen jeden einzelnen Fall genau analysieren.“ Liege ein Fall vor, in dem zwar aus heutiger Sicht falsch gehandelt wurde, bei dem aber nach der damaligen Kenntnislage kein schuldhaftes Vorgehen vorliege, dann werde man das differenziert bewerten müssen. Ganz anders sei es, wenn jemand wissentlich Täter geschützt habe. Strafrechtlich relevante Fälle werde man an an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. Lesen Sie hier das Interview in voller Länge

Prälat Robert Kümpel hat kürzlich vom Umgang mit Missbrauchsfällen in der Zeit von 1984 bis 1996 berichtet, als er die Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Kölner Generalvikariat leitete. Es gab einen Giftschrank und Aktenvernichtung. Als Sie von diesen Äußerungen  Kenntnis bekamen, wie war ihre Reaktion?

Ich kenne Prälat Kümpel seit Jahren als einen sehr sachlichen, nüchternen Menschen. Ich gehe davon aus, er hat ehrlich gesagt, wie die Situation damals gewesen ist. Er hat eine Reihe von Defiziten benannt: Die Täter hätten strikter verfolgt werden müssen, es gab kein richtiges System, um mit Fällen von Beschuldigung umzugehen, die Aktenlage war unzureichend. All das sind Dinge, die wir angepackt haben, die heute besser laufen, ohne dass ich den Eindruck erwecken will, wir seien schon am Ziel. Wir müssen permanent fragen: Was ist noch besser zu machen? Wie müssen wir uns weiter entwickeln, um der Gefahr von sexualisierter Gewalt so wirksam wie möglich entgegenzutreten?

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Noch 2002 teilte das Erzbistum die mit, es  gebe einen strafrechtlich  geahndeten  Missbrauchsfall und drei  unklare Fälle. Wäre es nicht wichtig gewesen, wenn Prälat Kümpel oder andere Zuständige gesagt hätten, da ist  mehr?

Die MHG-Studie

Kriminologen und Mediziner der Universitäten Mannheim, Gießen und Heidelberg (daher MHG) haben 2014 bis 2018 Daten aus Personalakten von Geistlichen und männlichen Ordensleuten aus allen 27 deutschen Bistümern untersucht. Der Zeitraum reichte von 1946 bis 2014.

1670 Kleriker erschienen dabei als Beschuldigte in Fällen von sexuellem Missbrauch. Das entsprach 4,4 Prozent aller untersuchten Personalakten. Im Erzbistum Köln waren es 87 Kleriker. Bundesweit wurden 3677 (Erzbistum Köln 135) Opfer identifiziert. Laien im kirchlichen Dienst wurden nicht überprüft. In der vom Erzbistum Köln veranlassten Untersuchung der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl wird auch das geschehen. (EB)

Die MHG-Studie deckt einen Zeitraum von 70 Jahren ab. In dieser Zeit gab es in unserem Erzbistum 89 Beschuldigte. Durch die lange Zeit bestehende Tabuisierung dieses Themas in Kirche und Gesellschaft sind von diesen Fällen nur sehr wenige bekannt geworden. Vielleicht ist das auch zusätzlich erklärbar durch die oft Jahrzehnte dauernden Phasen, die zwischen den Taten und den Äußerungen der Betroffenen gelegen haben, auch wenn das keine Entschuldigung sein kann. Eine krasse Fehleinschätzung lag damals sicherlich bei der Beurteilung der Folgen für die Betroffenen vor. Im Erzbistum haben wir unser Vorgehen 2008 geändert: Im Fall eines Priesters im Rechtsrheinischen sind wir zum Beispiel aktiv in die Öffentlichkeit gegangen und haben darum gebeten, dass sich weitere Betroffene melden.

Dennoch, alle Fälle auch vor 2008 wurden besprochen, dem Erzbischof vorgelegt. Man wusste doch, da ist mehr. Hätte das Bistum nicht früher auf die Betroffenen zugehen können?

Das hätte man auf jeden Fall tun müssen, da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Warum das nicht geschehen ist, das ist auch Teil der unabhängigen Untersuchung, mit der wir eine unabhängige Anwaltskanzlei beauftragt haben. Wo wurde gegen staatliches und kirchliches Recht verstoßen? Falls ja, von wem und warum? Wo liegen Fehleinschätzungen vor, die in der damaligen Zeit weit verbreitet waren? Wo sind persönliche Fehler und Versäumnisse von Verantwortlichen geschehen? Gab es, gibt es organisatorische, systemische Ursachen? Was sind die Lehren für die Zukunft? Das ist das klare Mandat, das die Kanzlei vom Kardinal erhalten hat.

Ein Priester wurde in der 70er und 80er Jahren zweimal straffällig und dennoch in mehrere Diözesen geschickt. Hätte das nicht auch nach damaligen Standards verhindert werden müssen?

Heute kann so etwas jedenfalls nicht mehr passieren. Damals wurde er nicht geschickt, er hat selbst um Versetzung gebeten. Die jeweiligen Bistümer sind über die Vorgeschichte informiert worden. In diesem Fall wurden damals Gutachten erstellt, die zu dem Schluss kamen, dieser Mensch stelle keine Gefährdung mehr da. Nach heutigen Standards waren diese Gutachten völlig unzulänglich. Damals jedoch wurde der zuständige Pfarrer an der neuen Einsatzstelle beauftragt, genau hinzuschauen. Es herrschte die Meinung: Besser er ist unter Beobachtung, als dass wir ihn ins Private abschieben, ohne jegliche Kontrollmöglichkeit. Heute wissen wir, dass das falsch war: Keiner kann so engmaschig begleitet und kontrolliert werden, wie es in einem solchen Fall nötig gewesen wäre.

Behindert Korpsgeist im Klerus die Aufklärung?

Sicherlich gibt es Fälle, bei denen die Zuständigen den Beschuldigten kannten. Da stellt sich natürlich die Frage der Befangenheit. In einem solchen Fall müsste sich der Befangene natürlich herausziehen. Ob das immer geschehen ist, ist auch Teil der Untersuchung.

Der Kölner Klerus ist eine überschaubare Gruppe. Sie werden nahezu jeden kennen.

Ein Fall wird ja nie von einem alleine bearbeitet. Es gibt einen Interventionsbeauftragten, es gibt einen externen Beraterstab, es gibt die Personalkonferenz. Wir sind natürlich sensibilisiert dafür, nach der entsprechenden Ordnung zu verfahren. Sie können sicher sein, das wir uns strikt daran halten.

Prälat Kümpel berichtete, es seien Akten vernichtet worden …

An die vernichteten Akten kommen wir nicht mehr heran. Aber wenn sich Betroffene melden, gehen wir den Hinweisen konsequent nach. Jeder Fall, der uns bekannt wird, wird gemeldet. Anders als früher sagen wir nicht mehr, der Fall ist doch sowieso verjährt. Nicht wir sind es, die über Verjährung entscheiden, sondern die Staatsanwaltschaft.

Es sei denn, dass Opfer möchte ausdrücklich nicht die weitere Verfolgung.

Wir verfahren strikt nach der Ordnung für den Umgang mit sexualisierter Gewalt, die seit dem 1. Januar 2020 in überarbeiteter Form vorliegt. Da ist ganz klar festgehalten, dass jeder Fall an die Staatsanwaltschaft gehen muss. Es sei denn, der Betroffene sagt ausdrücklich: Ich will das nicht. Falls aber Gefahr im Verzug ist, setzen wir uns über diese Bitte hinweg.

Prälat Kümpel sagt, er habe zweimal gefordert, Täter aus dem Amt zu entfernen. Nachsichtiges Lächeln sei die Reaktion gewesen. Haben Sie darüber mit ihren Vorgängern gesprochen?

Nein, ein großer Teil des in Frage kommenden Kreises lebt ja auch nicht mehr.

Aber einige ihrer Vorgänger im Amt des Generalvikars leben noch.

Alle wurden im Rahmen der unabhängigen Untersuchung befragt. Auch ich bin befragt worden, auch Unterlagen aus meiner Amtszeit sind an die Kanzlei gegangen.

Wie groß wird der Kreis der Verantwortlichen gezogen?

Der klare Auftrag beinhaltet das Benennen von Fehlern und Versäumnissen. Und da werden auch Namen genannt, da gibt es kein Tabu. Von den Erzbischöfen über die Generalvikare bis zu den Personalverantwortlichen.

Wann ist die Studie zu erwarten?

Am 12. März wird eine Pressekonferenz stattfinden und live im Internet übertragen. Und keiner von uns im Erzbistum weiß vorher auch nur irgendetwas von dem Inhalt dieses Berichtes, auch der Kardinal nicht. Das ist ganz strikt vereinbart, damit die Unabhängigkeit gewahrt und dokumentiert ist. Erst in der Pressekonferenz werden wir den Bericht kennenlernen, ihn sorgfältig studieren und dann die Schlüsse ziehen, die zu ziehen sind.

Wird es Rücktritte geben?

Wenn sich persönliche Schuld herausstellt, dann kann ich die Forderung nach Rücktritt verstehen. Aber wir müssen jeden einzelnen Fall genau analysieren. Liegt beispielsweise ein Fall vor, bei dem wir zwar aus heutiger Sicht sagen können, da wurde falsch gehandelt, aber aus der damaligen Kenntnislage war das Vorgehen nicht schuldhaft, dann wird man das differenziert bewerten müssen. Oder hat jemand wissentlich Täter geschützt? Das wäre ein ganz anderer Fall. Ganz klar ist aber, dass, wenn strafrechtliche Konsequenzen folgen müssen, die Fälle an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden.

Welche Konsequenzen haben Sie bereits aus der MHG-Studie gezogen?

2011 gab es neue Leitlinie der Bischofskonferenz. 2012 haben wir eine Präventionsstelle eingerichtet. Im Erzbistum Köln haben wir über 100 000 Personen präventiv geschult. Im Jahr 2015 haben wir Prävention und Intervention auf zwei eigenständige Stellen aufgeteilt. Im vergangenen Jahr haben wir den Betroffenenbeirat eingerichtet. Die Perspektive der Betroffenen, die fatalerweise früher überhaupt nicht in den Blick genommen wurde, die ist für uns jetzt maßgeblich. Ich war bei der jüngsten Sitzung im Januar wieder selbst dabei. Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Betroffenen uns ihre Erfahrung zur Verfügung stellen, damit nicht mehr geschieht, was sie haben erleiden müssen.

Nach dem 12. März wird es auch um Entschädigung gehen.

Ich bin der Ansicht, dass das bisherige Verfahren unzulänglich ist. Da sind alle Bistümer in der Verantwortung. Daher halte ich einen Alleingang einzelner Bistümer für schwierig, weil es dann sehr leicht zu weiteren Ungerechtigkeiten kommen kann. Wir müssen das weiterentwickeln, die Bischofskonferenz ist da dran.

Was würden Sie sich wünschen?

Es muss klare Kriterien geben, wie die Glaubwürdigkeit eines einzelnen Falles zu bewerten ist, wie die Schwere eines Falles eingestuft werden kann. Wir haben viele Erfahrungen in den letzten Jahren gemacht und müssen weiter lernen, die bestehenden Abläufe zu verbessern. Bei allem individuellen Leid: Es muss ein Unterschied gemacht werden, ob eine verbale Grenze überschritten oder einem Menschen physische Gewalt angetan wurde. Es darf hier nicht zu neuen Ungerechtigkeiten kommen.

 Sie selbst waren unter anderem Regens am Erzbischöflichen Priesterseminar des Bistums in Köln. Was hat sich vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals an der Ausbildung des Priesternachwuchses geändert?

Natürlich machen auch die Priesteramtskandidaten eine Präventionsschulung und müssen das erweiterte Führungszeugnis vorlegen. Zusätzlich gehört ein psychologischer Test am Anfang der Ausbildung inzwischen zum Standard, der ihnen bei der Selbsteinschätzung und Reflexion hilft. Sie müssen sich im Rahmen der Ausbildung mit der eigenen Sexualität auseinandersetzen. Ihre psychologische und soziale Reife wird geprüft. Aber auch hier gilt: Jedes Konzept muss kritisch befragt und weiterentwickelt werden.

Es gibt das Argument, der Zölibat ziehe gerade Menschen an, die sexuelle Neigungen unterdrücken wollen, die sozusagen in die Priesterweihe flüchten und gerade dadurch die Gefahr in sich tragen, Täter zu werden.

Nach meiner Kenntnis gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass die zölibatäre Lebensform Ursache für Missbrauch ist. Das Ausmaß von sexualisierter Gewalt auch in anderen Bereichen wird immer klarer: im Sport, in den Familien. Beim Blick auf die Statistiken ist eindeutig zu erkennen, dass diese Verbrechen auch in erschreckend großer Zahl von Menschen begangen werden, die nicht zölibatär leben. Es ist ein Kurzschluss zu sagen: “Weil es den Zölibat gibt, gibt es Missbrauch.” Gerade weil es auch Missbrauch durch andere Personen gibt, haben wir der Anwaltskanzlei nicht nur Akten von beschuldigten Klerikern, sondern auch von beschuldigten Laien für die Untersuchung übergeben.

In welchem Verhältnis?

Etwa zwei Drittel Kleriker, ein Drittel Laien.

Am Donnerstag, den 12. März 2020 werden im Rahmen einer Pressekonferenz die Ergebnisse der unabhängigen Untersuchung durch die Kanzlei „Westphahl Spilker Wastl“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Veröffentlichung wird zudem live auf der Website des Erzbistums übertragen (www.erzbistum-koeln.de).

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