Interview Frank Hoever und Sven SchneiderFall Bergisch Gladbach wohl größer als Lüdge

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Interview

Berichteten über die Ermittlungen: Kriminalrat Sven Schneider (l.)  und LKA-Direktor Frank Hoever.

  • Wie groß ist der Fall Bergisch Gladbach wirklich?
  • Wie ist der Ermittlungsstand?
  • Ein Interview mit LKA-Direktor Frank Hoever und Sven Schneider, Leiter des Cybercrime-Kompetenzzentrums.

Nordrhein-Westfalen – Der in Bergisch Gladbach aufgedeckte Missbrauchsfall ist vermutlich noch viel größer als der auf dem Campingplatz in Lügde. Beim Landeskriminalamt NRW wird das beschlagnahme Bild- und Videomaterial ausgewertet. Christian Schwerdtfeger sprach mit LKA-Direktor Frank Hoever und Kriminalrat Sven Schneider, Leiter des Cybercrime-Kompetenzzentrums.

Sven Schneider: Es ist unbegreiflich, dass es eine Chatgruppe mit etwa 1800 Mitgliedern gegeben haben soll, in der entsprechendes Material untereinander getauscht wurde. Man kann noch gar nicht abschätzen, wie groß der Fall noch werden wird. Die Zahl der Täter und Opfer steigt ständig. Deswegen kann man noch nicht sagen, ob es das war. Und ob nicht noch mehr kommt.

Frank Hoever: Wenn so viele Chatteilnehmer und Gruppen da sind, kann man davon ausgehen, dass das sichergestellte Datenmaterial größer ist als im Fall Lügde. Das sind immense Datenmengen. Lügde war mit dem Campingplatz räumlich begrenzt. In dem neuen Fall besteht die Verbindung der Täter vor allem übers Netz und es sind mehr Personen beteiligt, von denen sich womöglich einzelne Täter auch persönlich kennen und auch Beziehungen zueinander haben.

Müssen wir uns an solche Fälle gewöhnen?

Schneider: Ich befürchte schon. Die Kriminalstatistik zeigt für das Jahr 2018 in NRW 1412 Fälle in Bezug auf Herstellung, Verbreitung und Besitz von Kinderpornografie an. Man schätzt, dass das Dunkelfeld achtmal so hoch ist wie bei den bekannten Taten. Da kann man sich ausrechnen, dass da noch ziemlich viel schlummert. Ich denke auch nicht, dass der Fall „Bergisch Gladbach“ ein Einzelfall gewesen ist. Die Täter müssen sich ja austauschen, um an Bildmaterial zu kommen und Gleichgesinnte zu finden. Und das funktioniert in erster Linie über Foren im Internet und über Messengerdienste. Dort finden sich die Personen und können sich dann verabreden, die Fotos etwa in geschlossenen Gruppenchats zu verschicken.

Hoever: Es ist erschreckend, wie viele Menschen es gibt, die diese abartigen Neigungen haben.

Hätte der Polizei so ein Chat nicht schon früher auffallen müssen?

Hoever: Bei gravierenden Straftaten kommt immer die Frage: Was hat die Polizei falsch gemacht? Und das ärgert mich auch, weil es scheinbar immer reflexartig geäußert wird. Aber nur weil es schwerwiegende Straftaten gibt, bedeutet das nicht, dass es zwingend Defizite bei der Polizei gibt. Im Fall Lügde wurden Fehler gemacht und wir setzen alles daran aus den Fehlern zu lernen.

Schneider: Diese Leute sind Jäger und Sammler. Wir finden selten nur zehn Bilder bei einem, sondern meistens 10 000. Das ist eine Subkultur, eine sehr abgegrenzte Gruppe. Es ist ja verrückt, dass 1800 Leute in der Gruppe sind und keiner gibt einen Hinweis an die Polizei. Man kann sich auch fragen: Warum ist das so, warum gibt keiner einen Tipp bei solch grausamen Taten? Und andererseits kann ja auch niemand wollen, dass der Staat per se jeden Chat überwacht. Dafür sind eben im Einzelfall Hinweise an die Polizei erforderlich.

Ermittlungsstand

Im „Fall Bergisch Gladbach“ sollen Täter unter anderem Fotos und Videos vom Missbrauch ihrer eigenen oder fremden Kindern  in Chat-Gruppen mit bis zu 1800 Mitgliedern verbreitet haben.  Bundesweit haben die Behörden bislang 20 Opfer im Alter von knapp ein bis 14 Jahren  sowie 14 Beschuldigte identifiziert.  Tatvorwurf : (schwerer) sexueller Missbrauch und Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Schriften.

Wie hat sich der Blickwinkel bei Ermittlungen zu Kindesmissbrauch bei der Polizei nach den Erfahrungen in Lügde verändert?

Hoever: Durch Lügde wurde der Polizei bewusst, dass die Bekämpfung von sexuellem Missbrauch von Kindern und von Kinderpornografie nicht nur eine strafverfolgende Komponente hat, sondern auch eine noch viel Wichtigere: Nämlich die der Gefahrenabwehr. Wir müssen anhand der Bilder erkennen können, ob ein Missbrauch noch stattfindet. Darum müssen wir alle Daten umfänglich auswerten, auch wenn der Staatsanwaltschaft vielleicht 30 Prozent schon reichen würden für eine Anklage.

Wie werden die sichergestellten Daten von Ihnen ausgewertet?

Schneider: Zuerst werden die Daten gesichert, dann aufbereitet und dann ausgewertet. Früher war es so, dass alle drei Schritte in den Kreispolizeibehörden gemacht wurden. Zukünftig soll es so sein, dass nur noch der erste Schritt in den Behörden passiert. Dann kommen die Daten komplett zum LKA und werden hier aufbereitet. Danach können die Behörden auf die Daten zugreifen – und gleichzeitig natürlich auch wir. Wir schauen uns Bilder und Videos an und die Behörden werten zum Beispiel die Chatverläufe aus.

Gibt es also noch viele unbearbeitete Missbrauchsfälle in NRW?

Hoever: Leider ist das so. Der Punkt ist der, dass die Kreispolizeibehörden in der Vergangenheit personell und organisatorisch nicht so aufgestellt waren, um diesen Datenmengen Herr werden zu können; wohl wissend, dass die Datenmengen immer weiter angestiegen sind. Dadurch entstanden und entstehen Datenberge, die noch unbearbeitet sind. Darunter können sich viele unvorstellbare Tathandlungen befinden, auf denen andauernder Missbrauch zu sehen ist. Und das ist auch der Vorwurf, der der Polizei gemacht wird.

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Wie kommt man als Polizei in abgeschottete Chats rein?

Schneider: Man muss in bestimmten Chats zunächst etwas anbieten, also eigenes Material einbringen. Es gibt Überlegungen, Fakebilder von Seiten der Polizei einbringen zu dürfen. Wir dürfen und wollen natürlich keine echten Bilder dafür verwenden. Computergenerierte Bilder erfüllen derzeit aber auch den Straftatbestand. Rechtlich dürfen wir das aktuell noch nicht. Das Gesetz sollte dahin geändert werden, dass wir computergenerierte, täuschend echt aussehende Bilder, etwa von nackten Kindern, einbringen und damit verbreiten dürfen, um in die Chats zu kommen und dadurch dann am Ende die echten Opfer zu schützen.

Hoever: Ich würde das sehr begrüßen. Das wäre die Eintrittskarte in Straftäterkreise. Eine entsprechende Ermächtigung wäre enorm wichtig für die Ermittlungen. Wenn wir selber Material einbringen könnten in die Chats, würden deutlich mehr Fälle ans Licht kommen. Darum brauchen wir die rechtlichen Möglichkeiten, um Fakebilder generieren und verwenden zu dürfen.

In den USA gibt es eine zentrale Behörde, an die alle Provider entsprechende Bilder und Videos schicken müssen. Brauchen wir so etwas in Deutschland nicht auch?

Schneider: Sicher wäre es sehr hilfreich, wenn auch deutsche Provider verpflichtet würden, solche Inhalte zu melden. Besser wäre es aber, so etwas gleich auf europäischer Ebene anzugehen. Das wäre sehr sinnvoll. 

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