Interview mit Bischof Kohlgraf„Es wurde zerstört, was Menschen hätte tragen können“

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Bischof Kohlgraf

Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf 

Köln – Reformdruck in der katholischen Kirche: Am Donnerstag beginnt in Frankfurt wieder eine Plenarsetzung des Synodalen Weges. Raimund Neuß fragte den Mainzer Bischof Peter Kohlgraf nach den Perspektiven.

„Liebet einander, wie ich Euch geliebt habe“, heißt es in der Bibel – aber bei zurückliegenden Sitzungsperioden des Synodalen Weges ging es oft deftig zu, Kirchenspaltung war noch einer der milderen Vorwürfe. Heute geht es wieder los – wird der Stil sich ändern?

Der Diskussionsstil ist zugespitzt. Damit wird auch Politik gemacht – auch von denen, die anderen vorwerfen, ihnen gehe es nur um Kirchenpolitik. Ich erlebe aggressive Äußerungen. Aber es gibt auch sehr differenzierte, ausgewogene Debatten gerade in den Foren zwischen den großen Treffen in Frankfurt. Deshalb werbe ich für den Synodalen Weg trotz aller Schwierigkeiten. Auch in der Apostelgeschichte gibt es das vierte Kapitel, wo alle ein Herz und eine Seele sind, und ein Kapitel weiter geht die Hackerei schon wieder los. Das ist also nichts Neues.

Die Reformdebatte ist eng verschränkt mit der um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. In Köln, in München sehen wir, wie das Bistümer förmlich zerreißt. In Mainz haben Sie die Veröffentlichung einer Studie noch vor sich …

Auch für die Öffentlichkeit ist schwierig nachzuvollziehen, dass die Studien unterschiedliche Ansätze haben. Die Kölner Studie stammt von Juristen und ist ganz anders als die in Münster, die Historiker gemacht haben. In Mainz haben wir einen Rechtsanwalt beauftragt, der aber nicht rein juristisch arbeitet, sondern von Gesprächen ausgeht und daraufhin dann in die Akten schaut. Es war vielleicht ein Fehler, dass wir uns in den deutschen Bistümern nicht auf einen einheitlichen Weg geeinigt haben – und ja, das wird sehr schmerzhaft. Wir müssen aber auch ein Wort des Luxemburger Kardinals Jean-Claude Hollerich ernst nehmen: „In dieser Frage hat die ganze Kirche versagt.“ Mich interessieren nicht nur die prominenten Namen, sondern: Welches System hat hier geherrscht, dass das passieren konnte.

Dagegen hört man doch oft, Missbrauch gebe es eben auch in anderen Zusammenhängen. Aber wenn Sie von System sprechen, fragt man sich schon: Was muss in der katholischen Kirche grundsätzlich geändert werden?

Ich tue mich als Bischof schwer, auf Vorgänge etwa in Sportvereinen zu verweisen. Ich bin für meinen Betrieb, wenn ich mal so sagen darf, zuständig: Bei einer Kirche ist die moralische Fallhöhe besonders hoch. Wir sind mit einem enormen moralischen Anspruch aufgetreten und haben Normen bis in den sexuellen Bereich hinein aufgestellt. Das fällt uns jetzt auf die Füße. Das ist besonders schmerzlich, wo wir doch mit der guten Botschaft von der Würde des Menschen und der Liebe Gottes unterwegs sind. Bei vielen Betroffenen wurde ein Grundvertrauen zerstört, bis hin zum Glauben an Gott. Da wurde zerstört, was Menschen hätte tragen können.

Liegt es am Priesterbild?

Sicher auch. Wir reden in der Regel über charismatische Figuren, die ihr Charisma ausgenutzt haben, ihre Machtposition. Sie sind geweiht, galten als etwas Höheres. Ihr Status wurde in den Gemeinden nicht in Frage gestellt. Mag sein, dass es das auch auf evangelischer Seite gab – aber diese sakralisierte Erhöhung des Priesters ist spezifisch katholisch. Der Priester ist nicht angreifbar, dem Opfer wird nicht geglaubt.

Was kann sich denn ändern? Alle sagen etwa, wir müssen über Homosexualität anders reden – aber ist eine Änderung der kirchlichen Lehre überhaupt denkbar?

Der leider verstorbene Tübinger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff hat zu Homosexualität vieles gesagt, was uns auch auf dem Synodalen Weg beschäftigt. Etwa, dass sich die bisherige kirchliche Diskussion viel zu sehr auf den Sexualakt konzentriert. Schockenhoff macht deutlich, dass Sexualität viel mehr Dimensionen hat: Vertrauen, Treue, Identitätsfindung, Sinnfindung, Partnerschaft. Ich hoffe, dass auch das kirchliche Lehramt diese Dimensionen entdeckt. Es geht ja nicht um Theorien, sondern um konkrete Menschen, ihr Schicksal, ihre Verletzungen. Ich habe als Bischof viel mit diesen Menschen gesprochen und werde anders über diese Themen reden müssen.

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Katholiken aus dem Ausland, auch Bischofskonferenzen, halten uns Deutschen vor, solche Diskussionen führten am Ende aus der Einheit der katholischen Kirche hinaus, in die Kirchenspaltung.

Ich bin froh, dass Mario Kardinal Grech, der Organisator der Bischofssynode, sich über die Wertigkeit derartiger offener Briefe geäußert hat: Das ist nicht der Kommunikationsstil unter Bischofskonferenzen. Schon  in Sachen Schwangerenkonfliktberatung gab es gegen uns Deutsche den Verdacht, wir seien nicht wirklich katholisch. Aber gerade bei Homosexualität geht es auch um das Ernstnehmen wissenschaftlicher Erkenntnisse – und um die Kultur, in der ich lebe. Ich kann die kulturelle Haltung auf manchen anderen Kontinenten nicht zum Maßstab nehmen.

Ist denn so etwa wie versöhnte Verschiedenheit denkbar? Wir sehen das unterschiedlich, man akzeptiert einander aber als katholisch?

Papst Franziskus hat dazu ja zumindest theoretische Aussagen gemacht, und ich hoffe, es hat auch praktische Konsequenzen. Wir erleben Weltkirche bisher immer als die, die uns etwas verbieten, aber wir sollten sie als Reichtum erfassen. Weltkirche ist nie uniform.

Glauben Sie denn, es könnte eine Öffnung von Weiheämtern für Frauen geben?

Ich engagiere mich im Forum über Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche. Und es wäre ein Fortschritt, wenn der Grundlagentext, der den Blick auch auf andere Begründungen für Ämter öffnet, nicht einfach in der Schublade verschwindet. Es wird keine kurzfristigen Änderungen geben, aber wir machen sehr differenzierte Angebote in die Weltkirche hinein. Die Themen sind auf dem Tisch und sie bleiben dort.

Aber hat Johannes Paul II.. nicht die Tür zugemacht?

Das wollte er, und ich akzeptiere auch, dass ein Papst, der das für notwendig hält, so handelt. Aber die Begründungen für diese Entscheidung sind theologisch, vorsichtig gesagt, zumindest zu erweitern, und dann kann ich auch noch einmal über die Entscheidung sprechen.

Ein weiteres großes Thema sind Autoritäts- und Machtstrukturen, etwa die Rolle der Laien.

In 2000 Jahren Kirchengeschichte haben sich Dinge mit dem Priester- und Bischofsbild verbunden, die gar nicht notwendig sind. Das muss man hinterfragen. Aber die Kirche ist keine Männerkirche, bloß weil ein Mann am Altar steht. Ein Bistum ist ja keine Monarchie, und ich erlebe hier ein sehr gemischtes Bild, Frauen spielen eine große Rolle. Und wir werden Laien als Gemeindeleiter haben. Ich habe im Urlaub eine katholische Gemeinde erlebt, die von einem Ehepaar geleitet wurde. Das geht. Das ist ein Miteinander, keine Konkurrenz zum sakramental geweihten Priester. Den brauchen wir.

Sollten Bischöfe von der Basis gewählt werden?

Ich wäre nicht Bischof geworden, wenn ich einen Wahlkampf hätte führen müssen. Es erleichtert übrigens auch meine Arbeit, dass ich sagen kann: Ich habe mich hier nicht beworben, ich bin gefragt worden. Ich wüsste auch ohne Bischofsamt etwas mit meinem Leben anzufangen. Ich bin auch dagegen, Namen in Wahlkämpfen zu verbrennen. Sinnvoll wäre es aber, dass man gemeinsam Profile erstellt: Was brauchen wir für jemanden. Der synodale Weg geht noch einen Schritt weiter, bis hin zur strukturellen Beteiligung, bis hin zur Selbstverpflichtung von Domkapiteln. In Paderborn läuft das jetzt schon an, da gibt es die Beteiligung der Gläubigen. In Mainz hoffentlich erst in 20 Jahren. Bis dahin haben wir uns sortiert.

Geht das denn kirchenrechtlich?

Entscheidend ist, dass die Beteiligten auf das päpstliche Geheimnis verpflichtet werden. Klar, je mehr Leute ein Geheimnis kennen, desto größer ist die Gefahr einer Indiskretion.

Ich habe Sie jetzt viel zu innerkirchlichen Themen befragt. Kommt die katholische Kirche aus dieser Selbstbefassung überhaupt noch raus?

Ich bin als Bischof viel unterwegs und predige gewiss nicht nur über solche Themen. Aber ich nehme natürlich wahr, wie sehr die strukturellen Themen Menschen erhitzen – so dass das Durchdringen zu Fragen, die für den Glauben zentral sind, fast blockiert ist.

Was kann denn da geschehen?

Das eine tun, und das andere nicht lassen. Ja, wir müssen die Missbrauchsaufarbeitung konsequent vorantreiben. Aber wir müssen auch darüber sprechen, wie wir mit Menschen umgehen, die aus der Kirche ausgetreten sind. Da helfen ja keine kirchenrechtlichen Belehrungen. Oder wir gehen auf Priester zu, die ihr Amt niedergelegt haben. Queere Pastoral – oder Segensfeiern für Ehejubilare: Wir gehen auf die Leute zu, und ich hoffe, die Leute bekommen das auch mit. Und die Mainzer behandeln mich als Bischof auch anständig.

Aber es wird auch politisch immer weniger Rücksicht auf die Kirchen genommen, Thema Abtreibung etwa.

Es hilft uns aber nichts, einer alten Zeit hinterherzutrauern, sondern wir müssen als Kirche fragen, was wir anzubieten haben, etwa unsere vielen Beratungsstellen. Ich glaube aber in der Tat, dass die Politik sich keinen Gefallen tut, wenn etwa eine Regierungsstelle Religion und Außenpolitik in Frage gestellt wird. Da geht es gar nicht um die Institution Kirche, sondern Religion hat einen enormen Einfluss auf Vorgänge in der Außenpolitik. Denken Sie an den Ukrainekrieg oder den drohenden Bürgerkrieg im Irak. Wir wären gut beraten, den friedensstiftenden Beitrag von Religion ernst zu nehmen, aber auch ihr Gewaltpotenzial.

Häufig kritisiert wird die Höhe der Zahlungen an MIssbrauchbetroffene, sie seien zu gering.

Es mag ein Missverhältnis sein. Aber es sind unabhängige Kommissionen, die sie festlegen. Wir haben an sie appelliert, sie sollten großzügig verfahren. Aber wir haben den Grundsatz, dies unabhängig von den Bischöfen festzulegen – und jetzt sollen die Bischöfe doch eingreifen. Wir haben aber auch über die Kirchen hinaus keine vernünftigen Lösungen. Denken Sie an die Entschädigung der Opfer des Münchner Attentats. Sie ist sehr gering, aber der Staat hat Angst, da Fässer aufzumachen. Und ja, dann spricht man über die Ausgaben für Studien – aber die müssen ja sein, die kosten Geld. In Köln ist auch viel für Beratungsleistungen geflossen, das habe ich nicht zu bewerten. Da kann es ein Missverhältnis geben. Aber wichtig ist, dass wir in Deutschland für beide Kirchen ein einheitliches Verfahren haben. Im Bistum Görlitz wird man nicht anders behandelt als in einer evangelischen Landeskirche.

Sie stammen aus Köln, sind Kölner Ehrendomherr. Der Papst hat das Rücktrittsangebot von Kardinal Woelki in der Hand – ist das ein angemessenes Verfahren?

Ich halte das nicht für angemessen. Der Papst muss sein Vorgehen vor seinem eigenen Gewissen verantworten. Aber welche neuen Erkenntnisse sollen noch dazukommen? Bei meinen Weiheexerzitien in der Schweiz habe ich in dem Kloster, in dem ich war, das Bild einer Brennnessel gesehen mit der Unterzeile: Wenn Du fest anpackst, sticht sie nicht. Dazu sagte mein Exerzitienleiter damals: Entscheidungen werden nicht besser, wenn Du sie aufschiebst. Der Papst muss entscheiden, so oder so. Das habe ich nicht zu bewerten. Es ist wahrnehmbar, wie sehr das Kölner Erzbistum in dieser Frage gespalten ist. Aber es wird weder dem Bistum noch dem Kardinal gerecht, da weiter zu warten.

Zu Ihrem Kölner Weihejahrgang gehören auch Weihbischof Schwaderlapp oder Domdechant Kleine. Sprechen Sie miteinander über die Situation?

Natürlich.

Und wie?

In brüderlicher Eintracht. Im Ernst: Wir sind nicht überall einer Meinung, aber das verhindert keine persönliche Freundschaft. Ähnlich ist es in der Bischofskonferenz. Wir können auch ein offenes Wort unter vier Augen sprechen und kollegial miteinander umgehen.

Befürchten Sie, dass die Missbrauchsstudie in Mainz ähnlich tiefe Gräben aufreißt wie in Köln?

Auch sie wird Menschen tief erschüttern. Aber ich glaube nicht, dass wir erleben werden, dass noch einmal so ein Keil in eine Diözese getrieben wird. Wir müssen uns der Realität stellen. Bischöfe hatten die Opfer nicht im Blick. Aber das ist nicht alles, was über das Lebenswerk eines Kardinal Höffner oder Meisner in Köln zu sagen ist. Oder über die 33 Amtsjahre von Karl Kardinal Lehmann in Mainz.

Bei der  Theologenausbildung setzen viele Bistümer auf Kooperation und auf große starke staatliche Fakultäten, Köln entwickelt eine kirchliche Hochschule. Was ist besser?

Mainz soll ja im Konzept der Bischöfe zu den zentralen Standorten der Priesterausbildung gehören. Ich setze auf das gute traditionelle Miteinander mit der staatlichen Fakultät – und dazu bekennt sich hier auch der Universitätspräsident. Es wäre verantwortungslos, so eine Zusammenarbeit zu beenden.

Aber in einer kirchlichen Hochschule hat die Kirche selbst das Sagen.

An der Kölner Hochschule wird sicher keine schlechte Theologie betrieben, da gibt es auch sehr vernünftige Professoren. Aber sie hat noch keine Vernetzung mit den Universitäten in Köln und Bonn geschafft. Diese Vernetzung ist der große Vorteil von Fakultäten an Universitäten. Als großen Gewinn empfinde ich in Mainz die enge Zusammenarbeit katholischer und evangelischer Theologen, aber auch mit ganz anderen Fachbereichen – von der Kirchenmusik bis zu den Biowissenschaften, hochrelevant in ethischen Fragen. Darauf sollen wir als Theologen nicht verzichten, darauf will aber jedenfalls hier auch die Universität nicht verzichten, denn davon profitieren alle Fachbereiche.

Herr Bischof, Sie sind Präsident der Friedensbewegung Pax Christi Deutschland. Wir erleben den größten europäischen Krieg seit 1945 – wie antworten Christen darauf?

Es ist das Recht eines angegriffenen Landes, sich auch mit Gewalt zu verteidigen. Das ist Konsens unter den Bischöfen. Pax Christi ist eine Basisbewegung, da gibt es kein Lehramt. Der Krieg erschüttert die Friedensbewegung in ihren Grundfesten. Es gibt radikalpazifistische Positionen – allenfalls gewaltfreier Widerstand wäre danach erlaubt –, andere halten Waffenlieferungen für legitim. Als Pax-Christi-Präsident sage ich aber, wir dürfen hier nicht stehenbleiben. Wir müssen auch an die friedlichen Dimensionen denken. Es ist eine große Aufgabe, über die Jahre die Solidarität mit den Geflüchteten zu erhalten. Auch der Wiederaufbau wird eine große Aufgabe. Wir brauchen eine Friedensvision für die Zeit danach.

Wie soll die aussehen? Der Krieg, die Kriegsverbrechen sorgen für ungeheuren Hass. Was soll jemand sagen, der alle Angehörigen verloren hat oder dessen Kinder deportiert wurden?

Ich rede darüber sehr theoretisch, denn ich selbst war Gott sei Dank nie in so einer Situation. Aber ich denke an Erfahrungen etwa aus der Aufarbeitung der Apartheid in Südafrika, wo Menschen gesagt haben: Ich lasse mir durch den Hass nicht mein ganzes Leben zerstören. Es geht nicht um billige Versöhnung, sondern um Aufarbeitung, aber gerade da kann der christliche Glaube helfen. Ein besonders Problem ist hier natürlich die Spaltung auch zwischen den Kirchen in der Ukraine.

Geht die katholische Kirche deutlich genug auf Distanz zum russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill?

Sein Agieren ist ein gutes Beispiel für das Gewaltpotenzial von Religion. Da sieht man, was passiert, wenn Religion herhält, um machtpolitische Positionen zu untermauern. Wir kennen das auch aus der westlichen europäischen Geschichte.

Da müsste der Papst aber dann doch deutlicher werden.

Der Vatikan setzt seit 100 Jahren auf Diplomatie, will Gesprächspartner für beide Seiten bleiben und sich deshalb nicht zu eindeutig auf eine Seite stellen. Wir können das richtig oder falsch finden, so sieht die Friedenspolitik des Vatikan aus, und ich glaube auch, dass die diplomatischen Kanäle heißlaufen. In der Sache hat der Papst aber deutlich gemacht, was er von diesem Krieg hält, auch ohne Kirill herauszustellen. Sinnvoll wäre es, wenn er in beide Länder reist. Um der angegriffenen Ukraine beizustehen und in Russland ein deutliches Signal zu setzen: Theologisch geht das so nicht.

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