Interview mit Kinder-Infektiologe„Wir sollten keine ganzen Klassen heimschicken“

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Grundschulen KR

Schülerinnen und Schüler sitzen mit Abstand in ihrem Klassenraum.

  • Deutschlands oberster Kinder-Infektiologe appelliert an Kitas und Schulen, bei Corona-Fällen die Betroffenen nicht nach Hause zu schicken.
  • Auch in der Omikron-Welle gebe es bei Kindern „so gut wie keine schweren Verläufe“, sagt Tobias Tenenbaum im Interview mit Tobias Schmidt.

Professor Tenenbaum, es heißt, die Omikron-Variante sei für Kinder nicht gefährlich. Stimmt das?

Es bestätigt sich, was international schon beobachtet wurde, dass bei Omikron-Infektionen häufig nur die oberen Atemwege betroffen sind. Es kommt dann zu Halsschmerzen, manchmal zu Mandel- und Mittelohrentzündungen, zu Krupphusten-Anfällen oder einer leichten Bronchitis, aber eher selten zu Lungenentzündungen. Es ist allerdings auch davon auszugehen, dass es vereinzelt zu Fällen eines Entzündungssyndroms kommt, das wir PIMS nennen. Seit Beginn der Corona-Pandemie wurde dies bei 569 Kindern diagnostiziert. Derzeit ist noch nicht sicher einzuschätzen, ob es bei Omikron anteilig noch weniger PIMS-Fälle geben könnte als bei Delta oder Alpha.

Zur Person

Prof. Tobias Tenenbaum ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI). Sie befasst sich mit Infektionserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Der 48-Jährige leitet seit dem vorigen Sommer als Chefarzt eine große Berliner Kinderklinik. Zuvor arbeitete Tenenbaum unter anderem an den Unikliniken Mannheim und Düsseldorf. (EB)

Werden seit der Ausbreitung der Omikron-Mutante mehr Corona-infizierte Kinder stationär behandelt?

Da sich die Infektionszahlen insgesamt deutlich erhöhen, erwarten wir auch mehr Krankenhausaufenthalte von Covid-positiven Kindern. Allerdings beobachten wir bisher, dass zwar mehr Kinder mit einer Infektion kommen, aber nicht wegen einer Infektion, das ist ein zentraler Unterschied. Auch Kinder mit gebrochenem Arm können bei positivem Testergebnis in der Corona-Statistik auftauchen, weil alle Neupatienten getestet werden. Von den Kindern, die wegen Corona-Symptomen aufgenommen werden, sehen wir zurzeit so gut wie keine schweren Verläufe. Es handelt sich um Einzelfälle und immer mit besonderen Risikofaktoren wie starkem Übergewicht. Daher ist es wichtig, dass auch Kinder und Jugendliche geimpft und geboostert werden, wie es die Ständige Impfkommission empfiehlt.

Was ist mit Long Covid?

Dabei handelt es sich um mögliche Langzeitfolgen einer Coronavirus-Infektion. Im klinischen Alltag fällt Long Covid nicht ins Gewicht. Die Erfassung und Diagnosesicherung von Long Covid war allerdings bislang auch noch nicht systematisiert. Es gibt beispielsweise Fälle von Ermüdung und Antriebslosigkeit, die auch durch die Lockdowns verursacht worden sein können und nicht durch Corona. Das ist dann sehr schwer zu unterscheiden. Bei fortdauernder Luftnot oder Brustschmerzen anderseits liegt es dann eher am Virus. Um hier Klarheit zu schaffen, werden wir in Kürze gemeinsam mit 20 Fachgesellschaften ein Konsensusdokument vorlegen und den Kinder- und Jugendärzten Kriterien an die Hand geben, um Long Covid besser diagnostizieren zu können.

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Aber wie relevant ist das Problem?

Wir gehen davon aus, dass höchstens ein Prozent der Corona-infizierten Kinder Long-Covid-Symptome aufweisen. Für Kinder und Jugendliche ist das Risiko, nach allem, was wir bislang aus der Praxis und aus Studien wissen, extrem gering. Etwas häufiger problematisch scheint PIMS aufzutauchen, was aber gut behandelt werden kann. Und wie gesagt: Bisher gab es in Deutschland nicht mehr als 569 bestätigte PIMS-Fälle.

Wenn auch Omikron für Kinder so gut wie nie gesundheitsbedrohend ist, warum braucht es dann für sie noch Eindämmungsmaßnahmen?

Auch wenn schwere Verläufe oder Folgeerkrankungen rar sind, so kommen sie doch ab und an vor. Allerdings werden auch Kinder und Jugendliche durch Impfungen genau davor geschützt, deswegen sollten alle Kinder geimpft werden, vordringlich natürlich diejenigen mit Risikofaktoren. Noch wichtiger ist, dass das erwachsene Umfeld der Kinder, also Eltern, Großeltern, Erzieher, Lehrer oder Betreuer, geboostert ist. Die Virusverbreitung durch Kita- oder Schulschließungen zu verhindern, das ist jetzt nicht mehr der richtige Weg.

Die Quarantäneregeln führen de facto dazu, dass zahllose Kinder daheim bleiben müssen, wenn jemand in der Kitagruppe oder Schulklasse positiv getestet wurde…

Ja, und das ist nicht gut für die Kinder. Wer sich angesteckt hat, der gehört nach Hause. Wenn man lediglich Kontakt zu einem Infizierten hatte, braucht es aber nicht zwingend eine Quarantäne. Studien haben schon vor Monaten belegt, dass Bildungs- und Erziehungseinrichtungen offen bleiben können, wenn die Kontaktperson dann weiter durch tägliche Testung überwacht wird.

Was heißt das konkret?

Kontaktpersonen gehören bei regelmäßiger Testung und negativem Ergebnis in die Kita oder in die Schule, für sie sollte die Quarantänepflicht aufgehoben werden, wo sie noch besteht. Das empfehlen wir nicht nur als DGPI. Dass das ein gangbarer Weg ist, ist durch Studien gestützt.

Was sagen Sie Erziehern und Lehrern, die Eltern drängen, ihre Kinder zu Hause zu behalten, weil es positive Fälle in der Einrichtung gab?

Da kommt ein großes emotionales Problem auf uns zu. Mit Blick auf die Massenansteckungen appellieren wir hier dringend an den Pragmatismus. Es dürfen keine ganzen Klassen oder Kitagruppen heimgeschickt werden, nur, weil ein Kind positiv getestet worden ist. Denn das wird in den kommenden Wochen dauernd passieren. Eine Quarantäne nach der anderen, das käme für unzählige Familien einem Lockdown gleich. Und welche verheerenden Folgen das hat, ist hinlänglich belegt. Es gibt mit Masken, Lüftungen, Tests und Impfungen jetzt ausreichend Instrumente, um die Einrichtungen zum Wohle der Kinder offen zu halten.

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