Interview mit Nahost-Expertin„Beide wollen jetzt ein Zeichen setzen“

Lesezeit 4 Minuten
Palästina

Gaza: Palästinenser inspizieren das Umfeld des schwer beschädigten Al-Jawhara-Turm, nachdem der Turm von israelischen Luftangriffen getroffen worden war. 

  • Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist wieder gefährlich eskaliert.
  • Nahost-Expertin Muriel Asseburg glaubt, dass Israel Interesse hat, Vergeltung zu üben, und die Hamas demonstrieren will, dass sie für die Heiligen Stätten kämpft

Frau Asseburg, wie gefährlich ist die Lage nach den schnell eskalierenden Gewalttätigkeiten rund um Jerusalem und im Gazastreifen? Kann daraus ein regelrechter Krieg entstehen?

Die Lage könnte durchaus in eine kriegerische Auseinandersetzung eskalieren. Denn Israel hat Interesse, starke Vergeltung zu üben und die Abschreckungskraft wiederherzustellen. Hamas und andere militante Gruppierungen wollen zeigen, dass sie bereit sind, für Jerusalem und die Aqsa-Moschee zu kämpfen – und sich damit von der Palästinensischen Autonomiebehörde abheben, die ja vor Kurzem die Wahlen mit der Begründung abgesagt hat, dass Israel diese in Ost-Jerusalem nicht genehmigt habe.

Wie konnte es zu dieser Eskalation kommen?

Der Hintergrund ist ein blockierter Friedensprozess seit 2014; ernsthafte Verhandlungen haben zum letzten Mal 2008 stattgefunden. Seither wird die Besatzung immer stärker zementiert, die De-facto-Annexion im Westjordanland schreitet fort. Zudem sind die palästinensischen Gebiete seit 2007 gespalten; durch die Absage der Wahlen ist eine Chance auf eine innerpalästinensische Wiederannäherung vertan worden und die Autonomiebehörde hat enorm an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Zu Person

Dr. Muriel Asseburg  ist Mitglied der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, die vor allem den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung berät. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Israel und die Palästinensischen Gebiete.

Sie studierte Politikwissenschaft, Internationales Recht und Economics an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte dort 2000. Seit 2001 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Institutes für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik. Von Oktober 2006 bis Juni 2012 leitete sie dort die Forschungsgruppe „Naher/Mittlerer Osten und Afrika“. Anschließend war sie bis 2015 Leiterin des Projekts „Elitenwandel und neue soziale Mobilisierung in der arabischen Welt“ sowie des Projekts „Die Fragmentierung Syriens“. Seit April 2019 ist sie Mitglied des Wissenschaftlichen Komitees des Middle East Directions Programme des European University Institute in Florenz. (EB)

Was war der konkrete Auslöser?

Konkret gab es drei Auslöser, die zur Eskalation beigetragen haben: die bevorstehende Zwangsräumung von Häusern im Ost-Jerusalemer Stadtviertel Scheich Jarrah, die einschränkenden Maßnahmen am Damaskustor während des Ramadan und der Jerusalem-Tag, an dem Israel die Wiedereroberung des Ostteils der Stadt unter anderem mit einem Marsch feiert.

Woher hat die Hamas diese Vielzahl an Raketen?

Als Hauptwaffenlieferant der Hamas gilt der Iran, ein Teil der Raketen wird im Gazastreifen hergestellt.

Haben die Hamas-Führung und Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, der möglicherweise wieder auf Neuwahlen zusteuert, Interesse an weiterer Eskalation?

Beide Seiten haben in erster Linie ein Interesse daran, Zeichen zu setzen, nicht daran, in eine kriegerische Auseinandersetzung einzusteigen. Auch wenn Netanjahu in der Vergangenheit eher risikoscheu war: In der aktuellen Situation könnte eine Eskalation der Gewalt ihm entgegenkommen, um sich – vor möglichen Neuwahlen – wieder als „Mr. Security“ zu profilieren. Aber auch schon jetzt erschwert die Gewalt eine Koalitionsbildung des Anti-Netanjahu-Blocks, insbesondere zwischen den rechtsreligiös-jüdischen Parteien und der islamistisch-arabischen Partei.

Das könnte Sie auch interessieren:

Kann die neue US-Regierung Einfluss nehmen auf die Entwicklung?

Natürlich kann sie Einfluss nehmen und das wird sie nun auch versuchen. Es zeigt sich, dass der Konflikt die US-Amerikaner immer wieder hineinzieht. Eine Position wie die, mit der die Biden-Administration gestartet ist, nämlich dass sie eine Konfliktregelung nicht zur Priorität machen will, lässt sich kaum durchhalten.

Was müsste geschehen, um den Konflikt einzudämmen?

Kurzfristig lässt sich sicherlich eine Waffenruhe erzielen, indem die Gewalt eingestellt wird, die Zwangsräumungen in Scheich Jarrah verschoben werden und Israel sich wieder zum Status quo auf dem Tempelberg/Haram al-Scharif bekennt. Tragen wird das allerdings nur, wenn ein langfristiger Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas vereinbart werden kann, der auch die Blockade des Küstengebiets erleichtert, und wenn eine Aussicht auf eine Beendigung der Besatzung und eine Konfliktregelung geschaffen werden können.

Wichtig ist in dem Zusammenhang auch das Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof über die Situation in Palästina, das zu einem Ende von Straflosigkeit bei denjenigen führen sollte, die Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben. Das könnte dann eine mäßigende Wirkung haben.

2020 hat noch die alte US-Regierung unter Donald Trump einen Nahost-Plan vorgestellt, der den Palästinensern unter erheblichen Zugeständnissen einen eigenen Staat in Aussicht stellte. Kann diese Initiative noch eine Rolle spielen?

Der sogenannte Jahrhundert-Deal von US-Präsident Trump stellte den Palästinensern zwar etwas mit der Bezeichnung Staat in Aussicht, dieser sollte aber keine Souveränität und kein zusammenhängendes Territorium haben – also nicht wirklich ein Staat sein. US-Präsident Biden verfolgt diesen Ansatz nicht weiter, er ist zum traditionellen Ansatz der Demokraten zurückgekehrt: einer Zweistaatenregelung. Allerdings hat er auch betont, dass eine Konfliktregelung in Nahost für ihn keine Priorität hat.

Rundschau abonnieren