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Joachim Gauck im Interview„Wegducken ist für Deutschland keine Option"

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Joachim Gauck

Köln – Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hat schon 2014 vor Russland gewarnt und eine Zeitenwende angemahnt. „Wir können die Ukraine noch sehr lange unterstützen“, sagt der inzwischen 82-Jährige im Gespräch mit Rena Lehmann.

Herr Bundespräsident, können Sie verstehen, dass viele Menschen in Deutschland gerade Ängste haben?

Ja, aber es ist nicht gut, sich zu ängstigen, weder für den Einzelnen noch für die Politik. Angst ist menschlich, aber sich von den Ängsten leiten zu lassen und unsere Fähigkeit zum Mut zu vernachlässigen, das ist ein Problem. Die Politik warnt vor einer Zeit der Entbehrungen.

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Sind die Sanktionen gegen Russland durchzuhalten?

Wenn die Politik nur die Ängste anspricht oder gar fördert, wird es schwierig werden. Dann wird es Proteste und Ablehnung geben, die von Populisten dann noch verstärkt werden. Wenn aber die Politik sich die Mühe macht, detailliert und wahrhaftig auch schwierige Sachverhalte mit der Bevölkerung zu besprechen, dann können wir die Sanktionen auch akzeptieren und lange durchhalten. Für diese Art der politischen Kommunikation gibt es gute Beispiele, wenn wir etwa an Minister Habeck denken. Man muss Menschen auch etwas zutrauen. Man muss ihnen in Erinnerung rufen, was sie alles schon geleistet haben. Die ältere Generation hat aus diesem bitterarmen Land nach dem Krieg ein Land des Wohlstands und der sicheren Demokratie gemacht. Wenn man den Menschen bewusst macht, dass in ihnen Kräfte des Zutrauens und des positiven Wandels stecken, dann können wir die Ukraine noch sehr lange unterstützen.

„Den sparsamen Umgang mit Energie können sich viele leisten"

Im Sinne von „Frieren für die Freiheit“, wie Sie es kürzlich formuliert haben?

Diese etwas saloppe Formulierung bedeutet nicht, dass wir alle frieren müssen. Aber wir sind in der Lage, empathisch mit der Ukraine und ihrer Bevölkerung zu sein, die unter dem Krieg leidet. Der sparsame Umgang mit Energie ist etwas, was viele Menschen leisten können. Und ich bin überzeugt, dass man das durchaus vermitteln kann. Auf Dauer wird die Bereitschaft, Entbehrungen zu akzeptieren, größer sein, wenn man denen, die finanzielle Sorgen haben, deutlich macht: Wir bleiben ein Sozialstaat. Man wird keine Wohltaten mit der Gießkanne unter die Leute bringen können, sondern zielgerichtet diejenigen unterstützen, die im zu erwartenden Wohlstandsrückgang die größten Schwierigkeiten haben.

Das betrifft aber nur einen Teil der Bevölkerung.

Wladimir Putin hält den Westen für verweichlicht und prinzipienlos… Hitler hielt die Engländer auch für prinzipienlos und viel zu schwach – und er hat sich sehr getäuscht. Die Briten hatten damals sicher kein heldisches Selbstverständnis, und trotzdem hat Winston Churchill es vermocht, aus einem wenig kriegsbereiten Volk eine verteidigungsbereite Nation zu schaffen. Wenn wir nur dicht genug an den Gefühlen der Überwältigten sind, wenn unser Herz und unsere Empathie aufseiten der Opfer sind, dann entstehen in uns Kräfte, die Einschränkungen akzeptieren werden. Olaf Scholz will ganz offensichtlich kein zweiter Winston Churchill werden. Aber er hat den Begriff der Zeitenwende verwendet.

Gauck: „Hier ist etwas passiert"

Empfinden Sie den neuen Krieg in Europa ebenfalls als solche?

Ich saß am 27. Februar im Deutschen Bundestag und hörte die Rede meines Bundeskanzlers und ich traute meine Ohren nicht. Plötzlich waren dort Themen Staatspolitik, die ich 2014 bei der Münchner Sicherheitskonferenz als Bundespräsident in einer Rede angemahnt hatte und die mir in Teilen des linksliberalen Milieus auch Tadel eingebracht hatten. Als ich jetzt den Begriff von der Zeitenwende hörte, untermauert von politischen Entscheidungen, von denen ich nicht weiß, ob eine andere Regierung sie getroffen hätte, erkannte ich: Hier ist etwas passiert. Ein Erkenntnisgewinn, den ich nur befürworten kann. Es war die Verabschiedung von einem Russlandbild, das überwiegend von Wunschdenken geprägt war und das in weiten Teilen Deutschlands verbreitet war.

Aber folgt dem nun eine tatsächliche Veränderung der deutschen Politik?

Zeitenwende klingt abrupt, und die schrittweise Politik der Bundesregierung der letzten Monate passt nicht zu diesem starken Begriff. Aber bei den internationalen Gipfeln dieser Woche haben wir doch gesehen, dass es ein gemeinsames, abgestimmtes Handeln gibt. Offenbar wird auch in Milieus, die einer stärkeren Führungsrolle Deutschlands kritisch gegenüber stehen, erkannt, dass Wegducken keine Option ist, wenn man es mit der Zeitenwende ernst meint. Bundeskanzler Scholz handelt vielleicht langsam, aber er handelt.

Das klingt, als wären Sie noch nicht überzeugt…

Deutschland hat nach wie vor ein Defizit an strategischem Wissen und strategischer Entschlossenheit. Wir haben über viele Jahre Bedrohungsszenarien nicht angemessen mitgedacht und vorbereitet. Wir haben insgesamt zu wenig über unsere strategischen Ziele nachgedacht und waren zum Teil zu sorglos. Wenn die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit von Mächten wie China und Russland nicht anerkannt wird, sodass Vertrauen wachsen könnte, dann ist Misstrauen angezeigt und nicht die Anerkennung einer anderen Normalität. Es ist keine Normalität, es ist die Missachtung von Rechtsgütern. Aus diesem Grund ist Misstrauen geboten gegenüber den Mächten, die die universellen Rechte und eine regelbasierte Ordnung nicht akzeptieren.

Wo wird die Zeitenwende erkennbar?

Wir geben nicht nur mehr Geld für unsere Sicherheit aus, sondern machen konkrete militärische Zusagen. Wenn wir zum Beispiel in Litauen die Nato-Kräfte unter deutscher Führung verstärken, dann ist es nicht nur ein Symbol, sondern sehr konkret die Stärkung der Verteidigungsbereitschaft. Auch die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine ist ein deutliches Signal dafür, dass der Wandel ernst gemeint ist und wir nicht wieder zurückfallen in eine Phase des Wunschdenkens. Gleichzeitig nehme ich wahr, dass die Ukrainer glauben, dass wir mehr tun könnten. Und ich kann das auch verstehen. Gäbe es nicht auch Alternativen zur militärischen Aufrüstung des Westens? In einer Welt, in der das negative Prinzip ganz konkret von Wladimir Putin mit aggressiven Handlungen umgesetzt wird, sind wir zum Handeln genötigt. Deshalb ist eine Modernisierung und angemessene Ausrüstung der Bundeswehr zu begrüßen. Was man achtet und liebt, eine Ordnung des Rechts, muss man auch verteidigen. Das unterscheidet mich vielleicht von Menschen, die aus Prinzip Pazifisten sind, komme, was da wolle. Ich halte das für eine romantische und gefährliche Weltsicht.

Sollte Deutschland auch eine Führungsmacht werden, wie es SPD-Chef Lars Klingbeil kürzlich gefordert hat?

Dieses Deutschland hat sich als so stabil herausgestellt, dass es sich mehr Führung zutrauen kann, aufgrund seiner Größe, seiner wirtschaftlichen Stabilität und der Stabilität der Rechtsordnung und der Rechtstreue seiner Bürger. Es gibt eine Reihe von Gründen, die uns erlauben, Vertrauen in das Land und seine demokratischen Regierungen zu setzen. Unterschwellig gibt es bei manchen die Angst, erneut übermütig zu werden, die sich in den aktuellen Bedenken gegen Waffenlieferungen äußert. Wir selbst haben uns gegenüber ein größeres Misstrauen als unsere Nachbarn. Ich sage den Deutschen: Ihr dürft selbst glauben, was gelungen ist. Sonst bringen wir uns selbst um die Kräfte, die in uns stecken. Ich halte es für angemessen, wenn sich Deutschland zu seiner Führungsrolle in Europa bekennt, denn diesem Deutschland geht es nicht um Dominanz, sondern Kooperation und Partnerschaft.

Der Ukraine-Krieg birgt viele Unsicherheiten für die westlichen Partner. Die G7 haben Unterstützung zugesagt, solange die Ukraine sie braucht. Wohin wird das führen?

Wir müssen uns klar machen, dass der Appetit des Aggressors nicht gestillt ist, wenn die Ukraine verliert. Wir sehen doch eine Eskalation der Bestrebungen Russlands, nicht nur Land zu gewinnen und ein neues Imperium zu errichten, sondern auch unsere Freiheit und Demokratien zu bekämpfen. Deshalb ist die Sorge der Menschen weit über Moldau und das Baltikum hinaus doch absolut berechtigt. Die Ukraine verteidigt mit ihrer Freiheit letztlich auch unsere Freiheit.

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, die Ukraine müsse diesen Krieg gewinnen?

Es muss sicher sein, dass die ukrainischen Bürger mit ihrer Identität in Souveränität in ihrem Land zuhause sein können. Und ob sie dies tun können, indem sie auf bestimmte Gebiete verzichten, da möchte ich mich nicht einmischen. Sie werden ihre optimistischsten Vorstellungen wahrscheinlich nicht durchsetzen können. Aber es wäre doch fatal, wenn Westeuropa ihnen sagen würde, wann es genug ist. Das Ja der Ukraine zu einer Lösung ist für mich das Entscheidende und nicht die Rücksichtnahme auf die Gefühle des Aggressors. Es ist mir wichtiger, den Ukrainern zu helfen zu gewinnen, als darauf zu achten, dass der russische Präsident sein Gesicht wahrt. Ein erhoffter russischer Widerstand gegen den Krieg, der Putin zum Einlenken bringen könnte, blieb aus. Ist ein Kurswechsel in Russland noch vorstellbar? Ich empfinde großes Mitgefühl gegenüber der russischen Bevölkerung, denn sie haben noch nie in der Geschichte auch nur ein einziges Jahr in einer funktionierenden Demokratie verbracht. Es setzt sich eine permanente Kultur der Ohnmacht der Vielen bis heute fort. Es ist so traurig, dass so viele Menschen, von denen Veränderung ausgehen könnte, das Land spätestens jetzt verlassen.

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Bundespräsident Steinmeier hat einen Pflichtdienst für junge Leute vorgeschlagen. Was halten Sie davon?

Damit unsere Gesellschaft nicht in der Vereinzelung endet, müssen wir erkennen, dass unser Gemeinwesen vielfältig aufeinander bezogen ist. Ich halte es für richtig, bei den Menschen das Gefühl zu stärken, dass sie nicht nur Individuen sind, sondern dass es sich in vielfacher Hinsicht lohnt, solidarisch mit anderen zu sein. Ob dieser gesellschaftliche Beitrag als allgemeine Pflicht oder in einer anderen Form ausgestaltet werden sollte, gilt es zu debattieren. Schon heute gestalten zahlreiche Ehrenamtliche und Freiwillige unser Land aktiv mit und tragen so zur funktionierenden Gemeinschaft bei. Ich sehe also einen Debattenbeitrag von Bundespräsident Steinmeier, der uns daran erinnert, dass unser Lebensprinzip nicht nur sein kann: Wie geht es mir persönlich besser, sondern sich zu fragen, wie geht es uns allen gemeinsam auch in der Zukunft noch gut. Mir ist diese Botschaft durchaus sympathisch.

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