Ukrainerin schreibt Kriegstagebuch„Traurigerweise ist Lwiw nicht sicher“

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Russland zerstört mit Raketen ein Treibstofflager in der ukrainischen Metropole Lwiw, nahe der polnischen Grenze (Archivbild).

Lwiw/Köln – Die Ukrainerin Solomia K. erlebt den Krieg jeden Tag. Sie lebt in der mehr als 700.000 Einwohner fassenden Stadt Lwiw (Deutsch: Lemberg) im Westen der Ukraine. Sie erlebt russische Raketenangriffe, sucht Schutz in Bunkern, begleitet flüchtende Menschen, knüpft Tarnnetze für die Armee. Trotz des Kriegs hat sie ihren Freund Michael geheiratet. Seit Wochen harrt sie aus und dokumentiert ihre Erlebnisse im Kriegstagebuch – ungefiltert und subjektiv.

  • Montag, 18. April

Raketenangriffe auf Lwiw

„Putin will Angst und Schrecken verbreiten, traurigerweise ist Lwiw nicht sicher", berichtet Solomia von der aktuellen Situation in der westukrainichen Stadt am Ostermontag. Bei russischen Raketenangriffen sind nach Angaben des Gouverneurs der Region Lwiw, Maxym Kosyzky, mindestens sechs Menschen gestorben und elf weitere verwundet worden, darunter ein Kind.

  • Sonntag, 10. April

Es liegt mal kein Krieg in der Luft

Heute war ich eingeladen, Melissa Lwiw zu zeigen. Sie ist die Leiterin einer amerikanischen NGO und lebt derzeit in Katar, wo ihr Mann Professor ist. Sie und ihre Organisation haben medizinische Geräte für die Krebsbehandlung mitgebracht. Eine reservierte Frau, sehr ungewöhnlich für Amerikaner.

Alles zum Thema römisch-katholische Kirche

Wir spazierten durch die Stadt. Es liegt kein Krieg in der Luft: die Innenstadt ist überfüllt, Tausende von jungen Menschen aus anderen Regionen der Ukraine, Warteschlangen in Cafés und Coffee Shops, herausgeputzte Gemeindemitglieder (alte und neue), strömten aus der / in die zentrale römisch-katholische Kirche, die mit Weidenzweigen für Palmsonntag geschmückt war.

Am Nachmittag traf ich Dylan und seine neuen Freunde aus Kiew. Einer ist 20, ein ukrainischer Verwaltungsstudent in Estland. Er kehrte am 23. Februar in die Ukraine zurück und ist seither dort geblieben, und arbeitet freiwillig als Fahrer. "Meine Großeltern leben in Tschernihiw, ich kann das Land nicht verlassen, ohne sie vorher zu sehen."

Bei unserem Spaziergang trafen wir zwei Dozenten der Nationalen Luftwaffenuniversität in Charkiw.

"Wir haben bei dem ersten Angriff am Morgen des 24. viele Studenten verloren", bedauerte einer von ihnen.

"Dann wurden wir neu eingeteilt und über das ganze Land verstreut."

Im Schießpulverturm stieß ich auf meinen Freundin, die gerade Stoffe für die Herstellung von Tarnnetzen zuschnitt. "Ich war heute unruhig", sagte sie, "ich musste hierher zur Arbeitstherapie kommen, wenigstens für ein paar Stunden." Später ging sie zum ukrainischen Volkstanz, ähnlich dem Scheunentanz, mit Live-Begleitung. Sie haben letzte Woche wieder angefangen. In mancher Hinsicht ist das Leben wieder normal. Seit ein paar Tagen keine Sirenen mehr. 152 Vögel gefallen. (Anmerkung: Angabe der ukrainischen Armee zu abgeschossenen russischen Jets, die Angabe ließ sich nicht überprüfen)

  • Samstag, 9. April

Ruhiger Tag

Vor vier Tagen verbot der Gebietsleiter von Lwiw den Besuch von Wäldern (aber nicht von Parks), angeblich, damit keine Feuer entzündet werden, die sich unkontrolliert ausbreiten würden. Aber als ich auf dem Weg zur Datscha kilometerlange, frisch ausgehobene Gräben sehe, bin ich mir nicht so sicher, dass der Brandschutz der Hauptgrund ist.

Anemonen haben den hügeligen Wald, der an unsere Datscha grenzt, mit einem Teppich überzogen, und ich blicke durstig in die in die Ferne und wünschte, ich könnte in dieses verbotene Paradies eintreten.

151 Vögel runter. (Anmerkung: Die Zahl der abgeschossenen russischen Flugzeuge beruht auf offiziellen ukrainischen Angaben und lässt sich nicht überprüfen.)

  • Freitag, 8. April

Einem ehemaligen US-Marine die Stadt gezeigt

Am Nachmittag wurde ich gebeten, Dylan, einem ehemaligen US-Marine, durch die Stadt zu führen. Er ist jetzt Dokumentarfilmer ist und filmt die Reise medizinischer Geräte (Ultraschallgeräte usw.) aus Amerika. Ich war ganz aufgeregt und war in mein Element, um die flüchtigen Momente einzufangen und mit den Leuten zu plaudern. Aus dem geplanten zweistündigen Stadtrundgang wurde eine 8-stündige Erkundung.

Wir besuchten die Bibliothek, die jetzt zu einem Hauptquartier für Freiwillige geworden ist. Jetzt war ich schon dreimal da: um mich nach Tarnnetzen zu erkundigen, mit der Hongkong-Gang und jetzt wieder. In einer Ecke sammeln sie Spenden, in einer anderen nähen Frauen ukrainische Flaggen, eine Initiative, organisiert von einem 15-jährigen Mädchen, das die erste Stoffrolle von ihrem Taschengeld gekauft hat. Die Fahnen werden mit Tarnnetzen an die Front geschickt, andere sind ein "Dankeschön" für Spenden.

Ihor ist ein Künstler aus Kiew. Das Gebäude, in dem sich früher sein Atelier befand, ist jetzt ein Sammelpunkt für Spenden. Er ist nach Lwiw gezogen und webt Bilder aus Bändern, die für Tarnnetze zerrissen wurden.

"Ich gehe nach Kiew und dann weiter nach Osten", sagte Dylan.

"Geh nicht nach Osten", warnt Ihor, "das wird wie im Zweiten Weltkrieg."

"Du musst vorsichtig sein."

"Ich will, dass das hier", Dylan zeigt auf seine Kamera, "einen Unterschied macht."

"Journalisten sind jetzt Helden", fasste Ihor zusammen.

In der Bibliothek trafen wir eine zierliche, elegant gekleidete Dame, die schluchzte. Wir kamen ins Plaudern: "Sie müssen eine Künstlerin sein", sagte ich.

"Woher wissen Sie das?"

"Ich weiß es einfach." Ich dachte sofort, dass die Explosion auf dem Bahnhof von Kramatorsk sie zum Weinen gebracht hatte. An jenem Tag, als ich von den Explosionen hörte, wurde mir sofort übel.

"Ich weine jeden Tag, seit mein Sohn am 24. Februar in die Armee eingetreten ist. Er ging zu zwei Militärkommissariaten und wurde von beiden weggeschickt. Er war entschlossen, packte seine Sachen und ging zur Militärbasis. Ich konnte ihn nicht aufhalten." Sie zeigte mir ein Foto eines gut aussehenden, kräftigen, lächelnden jungen 23-jährigen Mannes in Uniform. Da ist ein Hochzeitsfoto zu sehen, auf dem er ein hübsches junges Mädchen in die Luft hebt.

"Er hat im Oktober geheiratet."

"Er ist ein Krieger", bestätigte ich. "Manche Menschen werden als Krieger geboren und sind unerfüllt, wenn sie ihre Mission nicht erfüllen. Es gibt nichts, was du hättest tun können."

"Das hat man mir auch gesagt", sagte sie und brach in Tränen aus, und wir umarmten uns.

Jetzt beherbergt sie eine 20-jährige Künstlerin aus Kiew, mit der sie gerade einen Workshop zum Verzieren von Ostereiern durchgeführt hat.

Manche Menschen sind eindeutig dafür geschaffen, in körperlichen oder alltäglichen Kämpfen zu bestehen, andere nicht. Ein Straßenkünstler, der mit Zahnrädern, Widerständen usw. gerahmte Bilder verkauft, lud uns in seine Werkstatt ein, die sich im Dachgeschoss eines alten Gebäudes am Marktplatz befindet. Dieses ehemalige sowjetische Künstleratelier war vollgestopft mit zerbrochenen und verstreuten Skulpturen, Reliefs und Glasmalereien.

Gegen 20 Uhr merkten wir, dass wir Hunger hatten und dringend einen Happen essen wollten. Alle Cafés und Imbissbuden waren entweder am Schließen oder hatten geschlossen. Stattdessen gingen wir in einen Supermarkt, holten uns fertiges kaltes Essen, aßen auf dem Boden, gegenüber dem Mickiewicz-Denkmal und grübelten über den Drang, aus der gemütlichen Routine auszubrechen. Manche Menschen haben ihn, andere nicht.

Können Gedanken sich materialisieren? Heute Morgen erinnerte ich mich nostalgisch daran, wie ich nach der Uni mit meinen Freunden eine Flasche Bier oder Wein schnappte, einen beliebigen Gedichtband und wir durch die Altstadt streiften und nach unverschlossenen Dachböden und Dächern Ausschau hielten. Wir fühlten uns wie Bohèmiens. So fühlte ich mich auch heute. Ich dachte flüchtig: wenn ich wieder anfangen würde, Musik zu hören, dann Pink Floyd. Und jetzt nehmen sie ein ukrainisches Lied auf, das erste nach 28 Jahren Stille.

  • Donnerstag, 7. April

Eine religiöse Figur gibt Kraft

Verkündigung. Eine Nachbildung der berühmten Statue der „Muttergottes von Fatima“ ist in Lwiw angekommen. Die Ukrainer verehren religiöse Statuen, Reliquien und Ikonen. Pflichtbewusst strömen sie zu ihnen. Jetzt stehen die Menschen vor der Kirche in meinem Stadtteil Lwiw Schlange, um 'unsere liebe Frau"' zu sehen. Anstehen gehört zum Erlebnis, aber zu meiner und aller anderen großen Enttäuschung fand ich es fast unmöglich, mich anzupassen.

Ich schlich mich durch die Seitentür in die Kirche, die Liturgie war vorbei und es war Zeit für die Segnung mit heiligem Öl. Als die Leute sich der Statue näherten, knieten sie nieder, machten ein Kreuzzeichen und verneigten sich dreimal. Andere filmten die Statue und machten Fotos.

Ich beschwor meinen verbliebenen Glauben und betete zur Jungfrau Maria und allen göttlichen Kräften, uns mehr Durchhaltevermögen und Mut zum Widerstand zu geben. Nach nur zehn Minuten in der Kirche fühlte ich mich erleichtert und inspiriert. Ich hatte nicht erwartet, etwas zu fühlen, aber ich tat es.

  • Mittwoch, 6. April

Ungewöhnliche Begegnungen

Irgendwie treffe ich immer auf ungewöhnliche Gestalten. Als ich in meiner Mittagspause spazieren ging, hörte ich einen Mann von einem Balkon zu mir herunterrufen.

- Lady, haben Sie zufällig 15 UAH? (Anmerkung: Die ukrainische Währung, 1 Hrywnja entspricht 3 Cent)

Könnten Sie mir bitte helfen? Würden Sie Kefir für mich kaufen? Ich bin hier am Verhungern und sitze in meiner Wohnung fest. - Aber wie kann ich ihn Ihnen nach oben liefern? - Ich habe ein System: eine Tasche, die an ein Seil gebunden ist. Ich lasse sie hinunter und ziehe sie dann hoch.

Das ist definitiv etwas, was ich noch nie gesehen habe, aber ich willigte ein und ging zu einem nahe gelegenen Kiosk, um den Kefir zu holen. Wie er sagte: Molokia, 2,5 % Fett. Das war eine amüsante Vorstellung, und am Ende bekam ich einen glücklichen 69-jährigen Vasyl, der behauptete, 40 Jahre seines Lebens ohne einen einzigen Unfall geschafft zu haben. In meiner einjährigen Autofahrerkarriere hatte ich bereits ein paar.

In der Nähe war ein älterer Mann, der einem Passanten ein Gedicht vorlas. Ich zeigte Interesse und der Mann war froh, sein Publikum zu vergrößern.

Hordiy, ein 82-jähriger pensionierter Musiklehrer, ist immer noch voller Tatendrang. - Ich habe 8157 Gedichte geschrieben, erzählte er. In der Tat ist jedes einzelne nummeriert.

- Darf ich Ihnen mein Gedicht vorlesen?

- Aber sicher doch.

Und er fuhr fort, seine jüngsten Gedichte über den gegenwärtigen Krieg vorzulesen und ermutigte mich, seine Gedichte zu fotografieren. Dann sang er ein paar humorvolle Lieder, die er für seine Frau geschrieben hatte, die sein Hobby nie mochte.

Danach unterhielten sich die beiden Männer ein wenig und Hordiy trug zur großen Freude von Vasyl ein weiteres Gedicht vor. Er wurde während des Zweiten Weltkriegs geboren. Ich hoffe, dass sein Leben nicht während dieses Krieges endet... Zum Abschied gab er mir seine Telefonnummer und sagte, er würde gerne weitere Gedichte vortragen, da er jeden zweiten Tag zur Krebsbehandlung nach Lwiw kommt. Er hat mich heute Abend gegen Mitternacht dreimal angerufen. Ich nehme an, alle alten Dichter sind Schlaflose.

Auf dem Rückweg traf ich Vasyl, der eine weitere Bitte hatte: Er wollte seine Schwester Maria anrufen. Er diktierte mir die Nummer, ich wählte sie. Maria brach fast in Tränen aus. Der Lautsprecher war nicht laut genug und ich übersetzte das Gespräch.

- Liebe Schwester, ich vermisse Dich so sehr! Bitte, rette mich von hier. Meine Tochter hat mich eingesperrt und ich kann nicht rauskommen. Sie gibt mir drei Mahlzeiten am Tag, aber ich brauche mehr Freiheit.

- Oh Bruder, ich habe Dich schon lange nicht mehr gehört. Ich würde Dich gerne hierher bringen, aber jetzt ist Krieg, das ist gefährlich.

Dann fragte mich Vasyl, ob er die Stimme seiner Schwester hören könne und ob ich das Telefon durch den üblichen Taschenaufzug nach oben bringen könne. Ich zögerte, da das Hochbringen des Telefons das letzte Abenteuer für mein Telefon sein könnte.

Ich entschuldigte mich und sagte, ich hätte es eilig. Jetzt habe ich natürlich ein schlechtes Gewissen, weil ich die armen Geschwister nicht reden lasse., aber ich komme ein anderes Mal mit einem alten Telefon wieder.

Menschen sammeln alle möglichen Gegenstände. Ich sammle Menschen und ihre Erinnerungen. Und Dinge. Viele Dinge.

150 Vögel weniger, keine Veränderung. (Anmerkung: Angabe der ukrainischen Regierung zu abgeschossenen russischen Jets. Die Angabe ist nicht unabhängig überprüfbar)

  • Dienstag, 5. April

Ich fühl mich schuldig

Michael sieht in letzter Zeit ziemlich unruhig aus.

„Wir tun nicht genug, lasst uns mehr spenden.“

„Ich habe heute schon gespendet, außerdem beschaffen wir Dinge aus dem Ausland und beherbergen eine Person, und eine weitere kommt bald. Und vergiss nicht, dass wir immer noch für die Datscha bezahlen“

„Jeden Monat überweise ich mein ganzes Gehalt an die Vorbesitzer, und Dein Einkommen war während des Krieges unregelmäßig.“

Wenn ich das sage, fühle ich mich auch innerlich schuldig. Tatsächlich habe ich mich fast mein ganzes Leben lang schuldig gefühlt, weil ich nicht gut genug war, nicht genug geleistet habe. Alle um mich herum schienen so viel besser zu sein: besser erzogen, reicher, fleißiger, besser aussehend, erfolgreicher, besser organisiert.

Oft war diese Angst erstickend, dann habe ich mich einfach zusammengerollt, in die Ecke gesetzt und geweint oder einfach ins Leere gestarrt. Jetzt kümmert mich das sehr wenig, oder ich versuche, mir das einzureden. Doch die Selbstgeißelung ist in gewisser Weise erforderlich. Natürlich denke ich, wie Michael, dass ich nicht genug zu den Kriegsanstrengungen beitrage. Besonders, wenn ich erfahre, dass ein weiterer Marschflugkörper in der Nähe von Lwiw von unserer Flugabwehr abgeschossen wurde.

Wir fühlen uns sicher, aber wissen, dass wir es nicht sind. Trotz all ihres Getöses haben die Russen nicht aufgegeben, die gesamte Ukraine zu erobern. Die Ukraine hat die erste Phase des Krieges gewonnen, aber die bevorstehende Schlacht um den Donbas wird über unsere Zukunft entscheiden, und vielleicht auch die Russlands (und mit ziemlicher Sicherheit Putins). Wir müssen siegen.

Heute habe ich etwas über blutstillende Mittel gelernt und darüber, wie schädlich billige Mittel sein können. Ich habe einen amerikanischen Freiwilligen, der nach Lwiw kommt, gebeten, wenigstens etwas Celox Rapid, die am schnellsten wirkende Mullbinde, mitzubringen. 66 Dollar sind viel, aber nichts im Vergleich zum Preis eines Lebens. Die Ukraine braucht dringend medizinische Hilfsmittel.

Heute ist das Bett meiner Mutter eingetroffen, das sie kurz vor dem Krieg bestellt hatte. Ein kleiner Hersteller in Iwano-Frankiwsk hat die Arbeit wieder aufgenommen. Zufälligerweise erhielt ich gestern auch einen Anruf von der Matratzenfabrik aus Mykolajiw.

"Sie haben bei uns eine Matratze bestellt." "Ja, aber... Arbeiten Sie jetzt? Mykolajiw ist unter Beschuss." "Wir versuchen, mit der Arbeit zu beginnen", sagte das Mädchen unsicher mit schwacher Stimme. "Das ist fantastisch, danke, dass Sie nicht aufgeben und die Wirtschaft am Laufen halten."

Ich habe das Gefühl, dass jeder Ukrainer versteht, dass es nötig ist, weiterzumachen. Als ich vor einigen Jahren in England war, gab es einen beliebten Slogan für Tassen und T-Shirts (ich glaube, er stammt aus dem Zweiten Weltkrieg): "Keep calm and carry on". (Bleib ruhig und mach' weiter, die Redaktion). Meine Kameraden haben sich das zu Herzen genommen. Wir sind ruhig, entschlossen und unerschütterlich in unserem Einsatz für den Sieg (den wirklichen Sieg, nicht irgendeinen aufgezwungenen russischen Vertrag). Wir machen weiter.

150 Flugzeuge abgeschossen (Anmerkung: Die Zahl der abgeschossenen russischen Flugzeuge basiert auf offiziellen Angaben der ukrainischen Regierung und lässt sich nicht überprüfen).

  • Montag, 4. April

Tarnnetze geliefert

Vor einem Monat bat ich meinen Freund, der seit der russischen Invasion vor acht Jahren die Armee und die Zivilbevölkerung bei der Beschaffung von medizinischen Hilfsgütern und Schutzkleidung unterstützt, um Hilfe bei der Beschaffung von (Fisch-)Netzen, zur Herstellung von Tarnnetzen. Und jetzt kommt's: Der Kunde seiner IT-Firma hat sich mit mit zwei Herstellern in Deutschland zusammengetan und lieferte 350 x 20 Meter-Netze von Berlin direkt nach Lwiw. Einfach erstaunlich. Sie werden schnell an Freiwillige weitergegeben, die dann ihre Arbeit tun!

Die Dinge beginnen sich zu beruhigen. Große und kleine Geschäfte werden wieder eröffnet - heute war ich bei einem Osteopathen, denn die Rückenschmerzen haben mich buchstäblich umgebracht: Klick-Klick soll helfen. Je besser ich mich fühle, desto produktiver bin ich, desto mehr kann ich im Laufe des Tages erreichen.

Auf dem Kirchhof einer der größten Kirchen in Lwiw gibt es jetzt ein Team von türkischen Köchen, die kostenloses Essen anbieten. Christen, Muslime, Atheisten, Religiöse, Säkulare - die ganze Welt ist vereint im Kampf für die Freiheit.

Es gibt wieder Wein und Bier in Lwiw

Heute habe ich endlich mein normales Katzenfutter bekommen, das nicht von Nestlé hergestellt wurde. Es war eine Frage des Prinzips, nichts von den Unternehmen zu kaufen, die weiterhin in Russland tätig sind. Seltsamerweise scheinen Nestlé-Waffeln und -Katzenfutter usw. seit Kriegsbeginn die Regale der örtlichen Supermärkte überschwemmt zu haben (Felix und Friskies).

Nach einer hitzigen Debatte hat die Stadt Lwiw den Verkauf von durch Gärung hergestellten alkoholischen Getränken ohne Zusatz von Ethylalkohol erlaubt: im wesentlichen Bier und trockener Wein. Das Land gewöhnt sich an das Leben in Kriegszeiten. [Der Alkoholverkauf war zu Kriegsbeginn verboten worden, die Red.]

Abendgespräch mit Michael:

„Deine Eltern halten dich für einen Ausgestoßenen: Du hast deine akademische Karriere aufgegeben, bist mit mir in die Ukraine gegangen.“

„Wahrscheinlich tun sie das. Aber sie haben ja Emma [Michaels Schwester]. Sie ist der Star der Familie.“

„Aber du schreibst doch Geschichte.“

„Lol, ich habe keine Geschichte geschrieben, ich lebe nur in ihr.“

147 Vögel runter. [Die Zahl der abgeschossenen russischen Flugzeuge basiert auf offiziellen ukrainischen Angaben und kann nicht überprüft werden, d. Red.]

  • Sonntag, 3. April

Bußgeld in der Straßenbahn

Am Nachmittag brachten Michael und ich reichlich medizinisches Material zur örtlichen Sammelstelle. Nach dem Tod meines Vaters hat Michael mich davon überzeugt, die Kisten mit Wundauflagen, Kathetern, Verbänden usw. zu spenden, die mir einst nach dem Tod eines älteren österreichischen Bekannten gebracht worden waren . Ich habe gezögert, weil ich dachte, dass meine Mutter sie wegen ihres verschlechternden Gesundheitszustandes brauchen könnte. Michael knüpfte sogar Kontakte zu den örtlichen Freiwilligen, aber ich wehrte mich. Jetzt geht es meiner Mutter deutlich besser, und die medizinischen Hilfsgüter werden anderswo dringend benötigt. Sie warteten auf den richtigen Zeitpunkt.

Am Abend in die Stadt, um mit ein paar Freunden spazieren zu gehen, um ein gewisses Maß an Vernunft zu bewahren. Als wir in die Straßenbahn stiegen, wollte ich den QR-Code scannen, um online für das Ticket zu bezahlen - wir sahen uns um, aber überraschenderweise gab es keinen Code. Es gab eine Alternative: aus der Straßenbahn aussteigen und auf eine andere warten, da wir kein Bargeld hatten, um beim Fahrer zu bezahlen. Aber das war mir zu mühsam. Und dann das: Kontrolleure, ein junger Mann und eine junge Frau. Sie sind seit Kriegsbeginn besonders aktiv geworden und haben sich wie Kakerlaken ausgebreitet: Offensichtlich versucht die Regierung, den Haushalt mit Bußgeldern zu stopfen.

„Wo sind Ihre Fahrkarten?“

„Keine Fahrkarten, diese Straßenbahn hat keine QR-Codes!“

„Dann hättest Du sie beim Fahrer kaufen müssen.“

„Ich habe kein Bargeld, denn es gibt immer QR-Codes.“

Ich bin kein Fan von Trittbrettfahrern, aber ich habe mich geärgert und gesagt: „Ist es Ihnen nicht peinlich, in einer so turbulenten Zeit öffentliche Verkehrsmittel zu überfallen? Die meisten Menschen haben ihre Arbeit verloren.“

„Aber wir nicht.“

„Ihr habt Glück. Die meisten aber schon.“

Es gibt auch viele, die vor dem Krieg aus anderen Regionen geflohen sind, und wenn sie sich bei den örtlichen Behörden registrieren lassen, können sie eine Bescheinigung erhalten, die ihren Status belegt, und dann zahlen sie nicht für die Straßenbahn. Ich kenne viele Leute, die entweder in Kiew gelebt oder die fünf Arbeitstage der Woche dort verbracht haben, bevor sie über das Wochenende nach Lwiw zurückkehrten, aber eine offizielle Lwiw-Registrierung hatten. Natürlich werden sie sich hier nicht bei der örtlichen Verwaltung anmelden. Andere sind einfach zu gestresst, um sich durch die Bürokratie zu kämpfen, wie ein Mädchen, das mir sagte: „Alle drängen mich, hierhin und dorthin zu gehen, Papiere zu sammeln, hier und da Hilfe zu beantragen, aber ich will mich einfach nur zusammenrollen und irgendwo in Ruhe gelassen werden."

Ich musste zum ersten Mal ein Bußgeld für die Straßenbahn bezahlen.

Süßigkeiten für Soldaten

Der Bekannte eines Freundes ist jetzt an der Front. Er bat nur um Süßigkeiten und Zigaretten. Also schauten wir in die Konditorei unseres ehemaligen Präsidenten rein [gemeint ist der „Schokoladenkönig“ Petro Poroschenko, Präsident der Ukraine von 2014 bis 2019, d. Red.] - der übrigens so viel für den Wiederaufbau unsere Streitkräfte nach 2014 getan und uns auf diesen Krieg vorbereitet hat - um Kekse, Waffeln, Schokolade und andere Leckereien zu kaufen.

„Jemand anderes kann ihnen Zigaretten besorgen, aber ich weiß, dass es ihnen zu peinlich wäre, jemanden um Süßigkeiten zu bitten, denn das ist nicht das, was wir mit standhaften Soldaten verbinden.“

„Wie werden Sie das alles abliefern?“

„Mit dem Zug, das habe ich schon gemacht. Ich habe nur die Details des Zugverbindung angegeben.“

„Ist es angekommen? Kostenlos?“

„Ja!“

Irgendwie kamen wir auf das Thema Eis zu sprechen und Michael berichtete, dass einer seiner Studenten scharfsinnig bemerkt hatte, dass Eiscreme ein Friedensnahrungsmittel ist. Haben Sie jemals einen Soldaten im Kampf gesehen, der ein Eis isst? Ich sehne mich danach, dass die Eiscreme-Tage bald in die Ukraine zurückkehren.

147 Vögel sind runter. [Die Zahl der abgeschossenen russischen Flugzeuge basiert auf offiziellen ukrainischen Angaben und kann nicht überprüft werden, d. Red.]

  • Samstag, 2. April

Freude über Befreiung der Region Kiew – Horror angesichts des Massakers in Butscha

Heute sind wir zurück in unsere Wohnung gefahren, wieder. Es war ein ungewohntes Gefühl, wie nach einem langen Urlaub zurückzukommen. Ich weiß, dass Mama sich jetzt einsam fühlen wird, vor allem während der Fliegeralarmwarnungen. (Anmerkung: Solomias war übergangsweise bei ihrer Mutter.  Aber wir brauchen mehr Platz und vernünftiges Internet, und ich muss nicht mehr vom Büro aus arbeiten und jedes Mal, wenn der Alarm aufheult, die Treppe zur Tiefgarage hinuntergehen. In Sicherheit.

Nachrichten über weitere befreite Gebiete rund um Kiew. Mein Freund hat endlich Kontakt zu seiner Schwester aufgenommen, die sich im Keller in Butscha versteckt hatte: „Sie lebt, obwohl sie sich offensichtlich zurückhält. Ihre Worte sind völlig zusammenhanglos. Sie wirkte wie eine fremde Person. Sie ist völlig desorientiert und hat Angst zu sprechen. Bisher kann ich nur für sie sprechen, da ich keine Informationen über die anderen habe... Alles ist vermint in der Stadt. Sie ist in einem schrecklichen Zustand, auch wenn sie es nicht zugibt. Sie hat noch nicht begriffen, was dort passiert ist. Aber das Wichtigste ist, dass sie am Leben ist. Ich möchte sie treffen, umarmen, und ihr viel Essen kaufen. So viel wie immer. Etwas, das sie noch nie gegessen hat – Kaviar."

Ihre Familie war eine der ärmsten in der Gegend, und ich verstehe seinen Schmerz, als mit Beginn des Krieges ihre reicheren Nachbarn sofort nach Polen wegfuhren – und sie festsaß. Vor ein paar Wochen ist mein Freund geflohen, hat sich versteckt und ist trotz seiner Behinderung 15 Kilometer unter Beschuss gelaufen. Er überlebte und fühlte sich dennoch schuldig, weil er nicht mit dem Rest der Familie dort geblieben war. Schuldgefühle der Überlebenden, nennt man das.

Am Nachmittag unterhielten Michael (Anmerkung: Solomias Ehemann) und ich uns ein wenig. Wir besuchten Ihor, einen Freund, dessen Frau und Kinder die Stadt nach dem Angriff auf die Flugzeugreparaturfabrik verlassen hatten. Ich fragte mich: „Deine Frau muss Lwiw schrecklich vermissen, denn sie ist eine der leidenschaftlichsten Lwiwer Reiseführerinnen.“ Ich habe sie gefragt, und sie hat tatsächlich geantwortet, dass sie mich vermisst, aber sonst nichts. Und das machte mich sehr traurig“, antwortete er.

Ihor ist ein Demografie-Forscher. Alle seine bisherigen Schätzungen haben sich als falsch erwiesen, denn er hat den Krieg nicht vorhergesagt. „Zum Glück hatte ich meinen Doktortitel vor dem Krieg verteidigt“, scherzt er sarkastisch.

Je länger der Krieg andauert, desto weniger Menschen werden zurückkehren wollen: Ihre Kinder werden die Schule im neuen Ort besuchen, sie werden eine Arbeit finden. Viele Männer, die in der Ukraine sind, werden nach dem Krieg nicht ins Ausland ziehen wollen, und die Frauen werden nicht zurückkehren wollen. Einige glauben jetzt, dass sie zurückkommen werden, aber in Wirklichkeit werden sie es nicht - der Mythos der Rückkehr.

Während wir am Kaffee nippten, gingen die Sirenen los. Von der Dachgeschosswohnung aus sahen wir, wie Menschen in den Schutzraum eilten, andere schlenderten lässig mit ihren Hunden die Straße entlang, eine alte Dame saß vor dem Hauseingang. Ich beobachtete weiterhin den Himmel: diesmal keine Raketen oder Rauch.

Mit einem anderen Freund, dem Sohn meines Patenonkels Vitalik, spazierten wir durch den örtlichen Wald, um zu den Ruinen der Panzerreparaturfabrik zu gelangen, aber das Gelände war zu schlammig.

Ihor, der uns bei diesem Spaziergang ebenfalls begleitete, wuchs direkt neben der Panzerreparaturfabrik auf. Die Gegend wurde hauptsächlich von pensionierten sowjetischen Militärs und ihren Familien bewohnt. Als er in den 1990er Jahren mit den Kindern in der Gegend spielte, war er schockiert, wie sehr sie von der sowjetischen Militärgeschichte indoktriniert waren. Stalin war ihr größter Held.

Es würde mich nicht wundern, wenn einer von ihnen jetzt ein Informant für die Luftangriffe wäre. Wenn das stimmt, können die Söhne und Töchter derjenigen, die jetzt in diesen Wohnungen leben, dem modernen Stalin für die Neugestaltung ihrer Häuser danken - überall auf dem Boden liegen Glasmosaiksplitter von der Druckwelle nach der Explosion.

Gegen Ende des Tages wurden wir fröhlicher: Der Mensch ist ein soziales Wesen und die Anwesenheit anderer Menschen ist beruhigend.

Wir machten alberne Witze, etwa über die Notwendigkeit, den Buchstaben "z" aus dem Alphabet zu streichen, weil er mit der Invasion assoziiert wird - Präsident Elensky. Wir haben sogar Supermärkte nach Sonnenblumenkernen „durchsucht“. Dieser „billige und fröhliche“ Snack begann aus den Regalen zu verschwinden, zusammen mit anderen Grundnahrungsmitteln. Stattdessen fiel mir in den letzten Tagen eine ungewöhnliche Fülle an importierten Lebensmitteln auf, jede Menge teurer Panettone, aber kein einfacher Zucker, Aloe-Vera-Blätter (wozu sind die eigentlich gut?), aber kein gewöhnliches Maisöl.

Bei meinem Patenonkel feierten wir mit Tee und Sonnenblumenkernen den Geburtstag von Vitalik, und dann kam mein Patenonkel herein und sagte, dass die Kiewer Region befreit sei. Natürlich glaubten wir nicht daran, stießen aber sicherheitshalber auf den Erfolg unserer großen Truppen an.

Als wir nach Hause zurückkehrten, machten uns die Bilder von Massengräbern und ermordeten Zivilisten auf der Straße fassungslos, obwohl wir geahnt hatten, dass dort etwas Schreckliches passiert war. Merken Sie sich meine Worte, es wird noch viel schlimmer kommen. Die Kriegshunde wurden auf die Ukraine losgelassen.

Freude und Trauer...

143 abgeschossene Flugzeuge, keine Veränderung seit gestern. (Anmerkung: Angabe des ukrainischen Militärs zu zerstörten russischen Flugzeugen. Die Information lässt sich nicht unabhängig prüfen.)

  • Freitag, 1. April

Wie erklärt man Kindern den Krieg?

Kaffee hält Millionen von uns trotz chronischer Müdigkeit bei Laune. Die Ukraine muss derzeit eine Rekordmenge Kaffee konsumieren. Baldrian zur Beruhigung, nach den Nachrichten über weitere Gräueltaten, und Kaffee, um wach zu bleiben nach ständigem Sirenenalarm in der Nacht. Zum Glück funktioniert die Kaffeemaschine im Büro wieder. Beim Blick aus dem Bürofenster auf die neblige Eisenbahn und beim Schlürfen des Kaffees erzählte ein Freund, wie er seinem fünfjährigen Sohn erklärte, was am 24. Februar passiert war.

„Böse Menschen aus Russland haben unser Land angegriffen und versuchen, es zu zerstören. Aber mach‘ Dir keine Sorgen, wir werden uns schützen und sie abwehren.“

„Und was machen wir genau?“

„Wenn sie kommen, steigen wir ins Auto und fahren sie über den Haufen.“

Am nächsten Tag nahm der Sohn die Autoschlüssel seines Vaters, ging zu ihm und fragte ihn, ob die Russen schon da seien, er sei bereit, sie zu überfahren. Sicherlich war das ein schlechter Scherz des Vaters, der ernst genommen wurde. Aber wie können wir unsere Kinder und sogar uns selbst auf einen Krieg vorbereiten? In den kommenden Tagen müssen wir alle, alle, die die Freiheit über die Tyrannei stellen - ob in der Ukraine, in Europa und in der ganzen Welt - dem Mut dieses kleinen Jungen folgen.

135 Vögel von insgesamt 1585 sind runter. (Anmerkung: Angabe des ukrainischen Militärs zu zerstörten russischen Flugzeugen. Die Information lässt sich nicht unabhängig prüfen.)

  • Donnerstag, 31. März

Bei Tschernobyl gab es nur eine Mahlzeit und bewaffnete Männer waren immer in der Nähe

Ein kleines Treffen im Büro: ein paar Mitglieder des Kollegiums aus Lwiw und ein paar Evakuierte. Ich sehnte mich danach, wieder Leute zu sehen.

Einer der Jungs kommt aus Odessa. Er ist zum Sanitäter ausgebildet, hat aber nie als einer gearbeitet. In den frühen Tagen des Krieges hat er Material an die Territorialverteidigung geliefert, aber dann ist er nach Lwiw gezogen.

Eine junge Frau kommt aus Slawutytsch, der Trabantenstadt von Tschernobyl. Ihre beiden Eltern haben im Atomkraftwerk gearbeitet, jetzt ist die Mutter in Rente. Ihr Vater hatte das Glück, nicht in der Schicht eingeteilt gewesen zu sein, die dort für 26 Tage festgesteckt hat: die Leute mussten auf dem Boden schlafen, hatten nur eine karge Mahlzeit am Tag und standen die ganze Zeit unter der Beobachtung bewaffneter Männer.

Trotzdem gab es selbst von dort eine lustige Geschichte: Russische Soldaten haben „humanitäre Hilfsgüter“ gebracht (die natürlich niemand von der Belegschaft annehmen wollte) und wollten ein Propaganda-Video drehen, das glückliche Arbeiter zeigt, die dankbar für ihre „Befreiung“ sind.

Anscheinend hat sich kein Angestellter bereit erklärt, dabei mitzumachen. Dann haben die Russen sich entschieden, sich selbst als Arbeiter zu verkleiden und so zu tun, als wären sie es. Doch es gab keine Ersatzkleidung, also haben die Soldaten sich umgeschaut und irgendwo eine abgelegte Uniform von NOVARKA gefunden, einer französischen Firma, die vor ein paar Jahren die neue Schutzhülle des Atomkraftwerks gemacht hat. Vielleicht haben die russischen Behörden die Uniformen mit deren Logos nicht zeigen wollen, denn das Video wurde nicht weiter in Umlauf gebracht.

  • Mittwoch, 30. März

Zwei Minuten vor der Präsentation gehen die Sirenen los

Ein ruhiger Tag, keine Sirenen tagsüber. Auf der Arbeit war ein wichtiger Tag, denn ich musste einer größeren Gruppe von Interessensvertretern einen Lösungsansatz für ein Projekt präsentieren. Und zwei Minuten vor der Präsentation sind die Sirenen losgegangen. Verdammt, das hatte ich schon befürchtet. Aber jetzt habe ich einen Trick gelernt: anstatt zum Parkplatz zu gehen, laufe ich zum Notausgang und setze mich dort auf einen Stuhl. Da gibt es akzeptables mobiles Internet und komplette Privatsphäre.

Die „gute“ Neuigkeit zu dieser beunruhigenden vorläufigen Übereinkunft mit Russland ist, dass die sich sowieso nicht an ihre Zusagen halten werden – alles heiße Luft. Keine Dauerlösung in Sicht. Wir müssen bis zum Sieg weiterkämpfen.

Was auch immer wir tun – wir haben das schrille Echo der Sirenen in den Ohren. Wird das für immer so bleiben? Jetzt gerade bin ich einfach nur erschöpft, obwohl es ein guter Tag war.

131 Vögel abgeschossen.  (Anmerkung: Angabe des ukrainischen Militärs zu zerstörten russischen Flugzeugen. Die Information lässt sich nicht unabhängig prüfen.)

  • Dienstag, 29. März

Ich fühle mich betäubt, wütend, frustriert, kämpferisch – und entschlossen zu gewinnen

Am Morgen hab ich im Verlag 1000 Flugblätter für die in Lwiw ankommenden Evakuierten abgeholt, sprach kurz mit Freiwilligen am Bahnhof und gab ihnen Flugblätter mit. Jetzt fahren vom Bahnsteig keine kostenlosen Züge mehr nach Polen, sondern nur noch planmäßige Linien zum regulären Preis. Aber in meiner Broschüre ist von diesen kostenlosen Zügen die Rede. Verdammt, bin ich frustriert. (Anmerkung: Solomia hat selbst die Flugblätter geschrieben und auf eigene Kosten drucken lassen)

Heute haben „Friedensgespräche“ stattgefunden, und die Ergebnisse dieser „Gespräche“ sind ziemlich beunruhigend. Vorausgesetzt natürlich, Putin stimmt zu. Ich hoffe, es ist alles nur ein Bluff. Es wird behauptet, die Ukraine könne mit Unterstützung anderer Länder einen Vertrag akzeptieren. Die Einbeziehung Russlands ist insofern problematisch, als die Ukraine die Zustimmung Russlands einholen müsste, bevor sie ausländisches Militär auf ihrem Boden aufnimmt, und sei es nur zu Übungszwecken. Dies scheint mir ein Verzicht auf Souveränität zu sein.

Kurz nach 20 Uhr schaltete der Sicherheitsdienst am Arbeitsplatz wie üblich alle Lichter in der Etage aus. In der Vergangenheit war das Licht normalerweise rund um die Uhr an, um flexible Arbeitszeiten zu ermöglichen, und so fragte ich mich:

„Warum macht ihr das? Die Leute arbeiten doch noch.“ „Wegen des Kriegs“

„Um Strom zu sparen?“

„Nein, um unauffälliger zu sein und nicht zum Ziel von russischen Raketen zu sein“

Ich bemerkte, dass Lichter keinen Unterschied für moderne Raketen machen (vor allem nicht zu solchen, die aus Hunderten von Kilometern Entfernung abgefeuert werden), vor allem, wenn alle umliegenden Straßenlaternen ebenfalls eingeschaltet sind. Er behauptete, dies sei ein Befehl des Sicherheitschefs. Ich vermute, dass unsere Vorstellung vom Krieg, insbesondere von Bombenangriffen, stark von Filmen über den Zweiten Weltkrieg beeinflusst ist. Wie auch immer, ein bisschen Geld für Strom wurde gespart.

Dann ertönte die vierte von insgesamt fünf Fliegeralarmwarnungen, und ich ging zu Fuß nach Hause. Nun gibt es nichts Beruhigenderes als diesen abendlichen Spaziergang nach Hause, wenn auch auf einer verschmutzten Straße. Sobald der Alarm ertönt, fahren die Autofahrer schneller, als ob sie hoffen, das Rennen mit den Raketen zu gewinnen.

Diesmal dachte ich über die Gefühle nach, die ich im letzten Monat erlebt hatte. Betäubt, wütend, frustriert, kämpferisch, aber seltsamerweise nie unglücklich. Entschlossen. Entschlossen, zu gewinnen.

  • Montag, 28. März

Acht Jahre Krieg haben eine starke Freiwilligenbewegung entstehen lassen

Ich habe erfahren, dass am Samstag fast 50 Raketen aus der Nähe von Sewastopol in Richtung Lwiw abgeschossen wurden, von denen nur sechs ihr Ziel trafen. Diese tapferen Männer und Frauen da draußen auf den Feldern mit der Flugabwehr haben sie abgeschossen. Solange sie kämpfen, fühle ich mich sicher. Sie werden immer besser darin, diese Raketen zu treffen. Ich habe vorhin gelesen, dass den Russen die modernen Raketen ausgehen, vielleicht können wir deshalb jetzt mehr abschießen. Schwer zu sagen, was wahr ist und was nicht.

Acht Jahre Krieg haben in der Ukraine eine starke Freiwilligenbewegung entstehen lassen. Ich bezweifle, dass wir ohne all diese Jahre der Kriegserfahrung und ein großes Freiwilligennetzwerk es schaffen würden. Jetzt scheint es, als ob jeder in der Umgebung etwas zu den Kriegsanstrengungen beiträgt: Einige beschaffen medizinische Hilfsgüter, Helme, kugelsichere Westen usw. aus dem Ausland, andere liefern Hilfsgüter in die „heißen Gebiete“ und bringen Evakuierte und ihre Haustiere zurück. Einige arbeiten freiwillig vor Ort, indem sie Unterkünfte betreiben und Aktivitäten für die Evakuierten organisieren, während andere Tarnnetze und Varenyky (Anmerkung: Eine Art Maultasche) für die Verteidiger herstellen.

Alles, was ich im Moment tun kann, ist, denjenigen zu spenden, denen ich vertraue. Wenn ich einen Beitrag leiste, fühle ich mich weniger schuldig, weil ich im Vergleich zu ihnen so wenig tue.

Heute ist es für die Verteidiger. Ein paar Klicks und ich habe für verschiedene Zwecke gespendet: Für ein Zielfernrohr – gespendet. Für Pick-up-Trucks und SUVs – gespendet. Für ein Nachtsichtgerät – gespendet. Ich habe meine Schuld für diesen Tag getilgt.

Früher habe ich es zu schätzen gewusst, dass mein Unternehmen mich kostenlos geschult hat. Aber ich habe nie eine besondere Loyalität zu ihm empfunden, da ich von Natur aus Misstrauen und Abneigung gegen jegliche Unternehmen hege. Und als sich der Vorstandsvorsitzende zu Beginn des Krieges weigerte, den Krieg als solchen zu bezeichnen und die Arbeit für einige der großen russischen Banken einzustellen, waren viele ukrainische Angestellte, darunter auch ich, kurz davor, zu kündigen. Doch sehr schnell änderte sich die Rhetorik – nicht zuletzt aufgrund des öffentlichen Drucks.

Und in den letzten Tagen spüre ich plötzlich ein großes, warmes Gefühl und immense Dankbarkeit. Selbst die ukrainischen Kollegen, die wegen Risikominderung von ihren Projekten abgezogen oder entlassen wurden, erhalten noch ihr Gehalt vom Unternehmen. Risikominderung heißt, dass einige Unternehmen nicht mit Ukrainern zusammenarbeiten wollen.

Auf diese Weise können wir weiterhin Steuern zahlen und denjenigen, die sich gegen die Tyrannei aus dem Osten wehren, etwas Gutes kaufen: die Demokratie der Welt auf ihren Schultern.

  • Sonntag, 27. März

In der Hungersnot können wir mit Selbstangebautem vielleicht zwei Familien ernähren

Gestern und heute wurden einige Öl-Depots angegriffen. Öl und Gas sind Russlands Hauptkontrollkräfte, die es ihm ermöglicht haben, seine krebsartigen Tentakel in der ganzen Welt auszubreiten und so den einen oder anderen Faden im höchsten Establishment zu ziehen.

Jede Epoche endet entweder mit einer Krise oder einer neuen Entwicklung. Die letzte Phase der gegenwärtigen Epoche war durch den Erfolg der Ölförderung gekennzeichnet. Ölraffinerien erfordern enorme Investitionen und werden häufig staatlich kontrolliert. Gegenwärtig sind die meisten ölfördernden Länder autoritär, wobei Norwegen eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt.

Dies ist offensichtlich das Ende der gegenwärtigen Epoche, und der Ausgang des Krieges wird entweder eine große Krise oder eine neue erfolgreiche Ära für die Menschheit definieren, einen Paradigmenwechsel - erneuerbare Energiequellen, eine neue Auffassung von Werten.

Für uns war heute ein weiterer Tag in Richtung Selbsterhaltung. Es ist uns gelungen, ein paar Tropfen Birkensaft zu gewinnen, nachdem wir die komplizierte Entsaftungsanlage unserer Nachbarn inspiziert hatten. Wenn die Datscha intakt bleibt, können wir in der Hungerkrise der Nachkriegszeit ein oder zwei Familien ernähren, auch wenn wir noch einiges über den Gemüseanbau lernen müssen. Den ganzen Tag über waren Explosionen von einem Übungsplatz zu hören. Jetzt sind wir lärmempfindlich geworden und zucken bei jedem seltsamen Geräusch zusammen.

Am Abend sind wir in einen Supermarkt gegangen, um zu sehen, ob es Katzenfutter gibt. Auch dieses Mal kein Glück. Hab‘ stattdessen ein paar Energieriegel geholt und wollte einen Kaugummi mitnehmen, der ein guter Ersatz für Stressessen ist. Es gab nur welche mit Bananengeschmack. Ich fragte die Kassiererin, ob sie den Grund dafür wüsste. „Kaugummis werden schon seit Ewigkeiten nicht mehr geliefert. Aus irgendeinem Grund haben sie die Lieferung gestoppt - es ist jetzt einer der meistgesuchten Artikel“, kicherte sie.

123 Vögel weniger. (Anmerkung: Angabe des ukrainischen Militärs, wie viele russische Jets abgeschossen wurden. Die Angabe lässt sich nicht unabhängig überprüfen.)

  • Samstag, 26. März

Tag des Angriffs in Lwiw: Ich habe mich gewaschen, weil ich nicht dreckig sterben wollte

Unter den anderen Evakuierten, die im Hochhaus meiner Mutter wohnen, ist mir eine Familie aus der Region Charkiw besonders aufgefallen: ein großer und außergewöhnlich gut aussehender Mann, zwei kleine Frauen und ein Kind, sie besonders mitgenommen aussahen. Manchmal sah ich sie beim Auto: die Frauen rauchten, der Mann nicht. Ihr kleines Auto war voll geparkt. Heute war es bis zum Rand voll: Offenbar wollten sie weiterziehen, weiter fliehen. Die Nase eines Teddys wurde an die Scheibe gequetscht. Um 16.30 Uhr gingen die Sirenen los - wir machten weiter mit der Gartenarbeit.

Etwa 20 Minuten später hörte ich ein leises Geräusch, das ich aber dem Wind zuschrieb, der vielleicht das Dach eines Nachbarn abriss. Später habe ich auf FB nachgesehen. Einige Freunde posteten lakonisch „Lviv again“, da es uns nicht erlaubt ist, zu filmen, zu fotografieren oder irgendwelche Details preiszugeben. Die russischen Brandstifter könnten die Informationen verwerten.

Ich rief ein paar Freunde an, um mich zu vergewissern, dass sie in Sicherheit waren, und um mehr Details herauszufinden. Sie wussten nicht viel, nur dass sich der Rauch im nordwestlichen Teil von Lwiw befand.

Der Bürgermeister von Lwiw riet dringend dazu, im Schutzraum zu bleiben, da weitere Raketenangriffe erwartet wurden. Wir gingen aber stattdessen ins Haus und öffneten einen „Notvorrat“ an Sonnenblumenkernen, um den offensichtlichen Stress zu lindern.

Es stellte sich heraus, dass CNN, BBC und andere Medien live übertragen hatten, wie Feuerwehrleute den Brand im Öllager löschten, während wir in Lwiw keine Ahnung hatten, was passierte...

Zweiter Angriff um 18.55 Uhr. Offensichtlich sagt Putin „Hallo“ zu Biden, der gerade Polen an der Grenze zur Ukraine besucht.

Ein Freund rief an: „Sie haben endlich die Panzerwerkstatt getroffen“. Jetzt, da sie zerstört ist, könne er wieder nach Hause ziehen. Weil seine Wohnung so nah an der militärischen Anlage liegt, sei er überhaupt erst ausgezogen.

Trotz der Proteste meiner Mutter gingen wir, nachdem der Alarm aufgehoben worden war, Wasser von einer Quelle am nördlichen Stadtrand von Lwiw holen. Zum erstem Mal seit Kriegsbeginn wieder Wasser sammeln, es wird zur Routine. Während der Fahrt sahen wir in der Ferne ein großes Feuer, das die Nacht durchbrach. Bittere Luft hat sich in der Stadt ausgebreitet.

Die Hölle kam in Lwiw an. Aber sie wurde zurückgeschlagen.

Auf dem Rückweg sehnte ich mich verzweifelt nach einer Zigarette. Normalerweise würde mich sogar Zigarettenrauch abschrecken, aber jetzt brauchte ich sie dringend. Ein weiterer Alarm auf der Rückfahrt. Erschöpft ignorierte ich ihn und duschte. Ich wollte nicht schmutzig sein, wenn ich St. Paul treffe. (Anmerkung: Bezug zu Apostel Paulus, der für mit der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi verbunden ist. Hier übertragend steht das Treffen mit Paulus für den Tod.)

Morgen wollte ich die amerikanischen Freiwilligen herumführen, bekam aber eine Nachricht von meinem Freund: „Tut mir leid, ich werde wahrscheinlich für morgen absagen. Die Explosion war etwa 700 Meter von uns entfernt“.

Anstelle einer Zigarette fand ich eine Zigarre. Sie sollte mal zur Deko sein. Ich stellte mir sogar vor, ich wäre ein Held des Arthouse-Films: friedlich rauchend in einem warmen Bett, eingemummelt in einen weichen Morgenmantel, inmitten der zerstörten Stadt. Aber leider verschluckte ich mich nach einem Zug und musste nach dem zweiten Versuch die Idee ganz aufgeben. Bei diesem zweiten Angriff wurde diesmal nicht Lwiw angegriffen, sondern ein anderes Öl-Depot in einer nördlichen Stadt namens Dubno.

121 Vögel fielen. (Anmerkung: Angabe des ukrainischen Militärs, wie viele russische Jets abgeschossen wurden. Die Angabe lässt sich nicht unabhängig überprüfen.)

  • Freitag, 25. März

Diese Gedanken machen mich wütend

Weil es ein schöner Tag war, sind Michael, meine Mutter und ich zu unserer Datsche auf dem Land gefahren. Michael hat Online-Unterricht gegeben, aber der wurde von Luftangriff-Alarmen unterbrochen. Zwischen seinen Kursen hat er den Tank für das Wasserbecken und die Dusche im Garten aufgefüllt und uns geholfen, den Garten aufzuräumen und für die Aussaat vorzubereiten.

„Wenn die Russen kommen, können sie in diesen Sommerhäusern hier gemütlich leben“, kommentierte meine Mutter. „Oder, wenn es einen Grabenkrieg gibt, werden sie den Wald niederbrennen und unsere Datsche gleich mit“, antwortete ich. Ich dachte an die Bilder der brennenden Wälder in den vom Krieg verwüsteten Gebieten und an die Gräben in unserem Wald.

Solche Gedanken machten uns wütend und wir begannen, noch heftiger den Boden aufzuhacken, um unseren Frust an unserer schwarzen ukrainischen Erde auszulassen.

Nach über einem Monat habe ich wieder damit angefangen, privaten Nachhilfeunterricht zu geben. Zu meiner eigenen Überraschung war ich wahnsinnig froh, meine Schülerin wiederzusehen, denn es brachte ein Gefühl der Normalität zurück. Die Beständigkeit und Ruhe dieser 30 Jahre jungen Frau ist beruhigend.

Sie erzählte mir: „Weißt du, ich habe ein neues Hobby, wenn man das überhaupt so nennen kann. In meiner Freizeit denke ich darüber nach, was ich nach dem Krieg beruflich mache – es wird so viele neue Möglichkeiten geben!“

Ich habe erfahren, dass mein Cousin als Soldat eingezogen wurde. Er hat einen Uniabschluss in Telekommunikation, aber jetzt arbeitete er als Projektmanager bei einer IT-Firma. Ich war überrascht, dass er zum Dienst verpflichtet wurde, trotz seiner beruflichen Position und ständigen gesundheitlichen Problemen. Außerdem hat das Ministerium für Digitale Transformation darum gebeten, dass keine wichtigen IT-Spezialisten eingezogen werden. Die sind nämlich die „Cyber-Armee“, die Geld ins Land bringen und an internationalen Projekten arbeiten. Das Finanzministerium sagt auch, dass die IT-Leute keine wichtige Gruppe in der Mobilisierung darstellen, aber natürlich kann das Verteidigungsministerium entscheiden, wie es will.

Auf dem Heimweg sahen wir ein Auto, das auf einem sogenannten „Panzerigel“ aufgespießt war. (Anm. d. Red. eine aus über Kreuz verschweißtem Stahl konstruierte Barriere, die Panzer aufhalten soll). Auf Bildern in unserer Populärkultur tragen Igel oft Pilze und Äpfel auf ihrem Rücken- dieser Igel hatte ein Auto „geerntet“.

117 Vögel abgeschossen. Offensichtlich ist der Sieg unser, aber zu welchem Preis? (Anm. d. Red.: Die Angabe des ukrainischen Militärs, wie viele russische Flugzeuge bereits abgeschossen wurden, lässt sich nicht unabhängig überprüfen). 

  • Donnerstag, 24. März

„Geht ihr oder wartet ihr, bis ihr bombardiert werdet?“

Ein Monat seit Beginn des Krieges. Manchmal kommt es einem wie eine Ewigkeit vor, manchmal wie gestern. Die Russen haben bisher nur eine nennenswerte Stadt eingenommen: Cherson, und dort ist der Widerstand stark. Und eine andere fast dem Erdboden gleich gemacht: Mariupol.

Keine Sirenen. Ich habe mir drei Tage Urlaub genommen, um zu heiraten, habe aber die meiste Zeit des Tages gearbeitet, um bei Verstand zu bleiben. Und nicht ständig die Nachrichten zu verfolgen.

Ich habe erfahren, dass meine Freundin, die kurz vor dem Krieg die Ukraine in Richtung Wien verlassen hatte, um ihren Bruder zu besuchen, zurückgekehrt ist. Ich war sicher, dass sie sich dort niederlassen würde, zumindest bis der Krieg vorbei ist. „Natürlich, Solomia, es ist mein Zuhause, hier fühle ich mich wohl. Es ist sehr unangenehm, sich wie eine Zwangsumgesiedelte zu fühlen. Ich bin keine Wandererin. Scheiß drauf, ich bin nach Hause gekommen.“

Michael (Anmerkung: Seit kurzer Zeit ihr Ehemann) ist der gleichen Meinung. Er ist hier in Lwiw definitiv ruhiger als in Polen oder Großbritannien. Draußen zu sein, macht ihm mehr Sorgen als drinnen.

Er hat wieder angefangen, online zu unterrichten, und in seinen Lektionen klingt er so lässig und fröhlich wie immer. Obwohl ich weiß, dass er sich selbst bis an die Grenzen treibt, um diese Rolle zu spielen. Seine scheinbar ruhige Haltung muntert die Leute auf und hilft uns, weiterzumachen.

Die Belarussen (die in der Ukraine wegen ihrer großen Kartoffelernte als Kartoffeln bekannt sind) haben noch nicht angegriffen. Aber wahrscheinlich werden sie es tun. Das sollte nicht allzu besorgniserregend sein, da das Land im Norden sumpfig ist und selbst alte Damen in den Wäldern Partisanen sein werden. Außerdem haben die Belarussen keine militärische Erfahrung. Die Ukrainer haben bereits das so genannte „Zweite-Welt-Militär“ in die Schranken gewiesen. Einige wenig enthusiastische Belarussen (die meisten wollen nicht kämpfen) werden uns keine Probleme bereiten. (Anmerkung: Dies ist Solomias subjektive Schilderung, es gibt keine unabhängigen Belege für ihre Eindrücke)

Wir sind ins Stadtzentrum gegangen, um unsere Heiratsurkunde übersetzen zu lassen. Nur für den Fall der Fälle. Die Cafés und Geschäfte waren geöffnet und florierten. Der Geruch von frischem Kaffee und leckeren Köstlichkeiten lag in der Luft. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Straßen ungewöhnlich staubig, weil die Stadtverwaltung andere Prioritäten hat, oder ist der Krieg nur eine Ausrede? Die städtische Hotline auf Facebook, wo man Beschwerden über Infrastrukturprobleme hochladen kann, war in den ersten Wochen still, aber jetzt melden sich die Leute wieder. Die Stadt muss weiter arbeiten und putzen.

Die Supermärkte arbeiten und sind voll mit Waren. Aber irgendetwas fühlte sich falsch an, und anfangs konnte ich es nicht begreifen. Optisch gibt es keine wirkliche Veränderung, die Regale sind voll, aber bei näherer Betrachtung sind sie voll mit demselben Zeug: zwei Reihen waren voll mit Waffelkeksen und eine andere ganze Reihe war voll mit. Marzipan aus deutscher Produktion. Eine andere war voll mit Katzenfutter, aber nur zwei billige Marken (mein wählerischer Junge mag mehr Premium).

Offensichtlich funktionieren die Versorgungsleitungen, aber mit Unterbrechungen. Ich kann mir nur vorstellen, wie die Situation in den Städten weiter östlich aussehen muss.

Meine Mutter hat mit einer Süßwarenladenbesitzerin gesprochen. Sie sagte, dass niemand etwas kauft. Die Leute müssen weiter kaufen, um die Wirtschaft in Gang zu halten. So konnte ich auch rechtfertige, so viel Marzipan zu kaufen (tatsächlich war auch der Preis reduziert).

Meine Mutter begann fast darauf zu bestehen, dass wir abreisen. Sie sagte: „Geht ihr jetzt oder wartet ihr, bis ihr bombardiert werdet? Oder einen Gasangriff erleidet? Wenn ihr euch nicht um eure eigene Sicherheit sorgt, denkt an Michael. Sie sollten die Sicherheit von Ausländern nicht gefährden.“

Ich erwiderte: „Hier wird das nicht passieren, zumindest jetzt noch nicht: Sie müssen sich erst um Mariupol, Dnipro, Charkiw, Kiew, Riwne, Paltawa usw. kümmern.“

108 Vögel abgeschossen. Wie ein Sonntags-Taubenschießen für unsere Jungs. Sicherlich gewinnen sie. (Anmerkung: Angaben des ukrainischen Militärs, wie viele russische Jets abgeschossen wurden. Die Angaben können nicht unabhängig geprüft werden.)

  • Mittwoch, 23. März

Minen werden nach dem Krieg ein riesiges Problem sein

Wir sind zur Datsche gefahren, um bei der Arbeit nicht von Alarmen gestört zu werden. Doch es gab gar keine. Wir haben im ganzen Wald lange Gräben gesehen – die sind aber zu flach, um Panzer aufzuhalten. Vielleicht sind sie für die Partisanen? Oder für Minen? Minen werden nach dem Krieg ein weiteres riesiges Problem sein. Wir werden nicht mehr unbehelligt herumlaufen können.

Ich habe überraschend schnell mein Online-Visum für Großbritannien bekommen. Es gibt immer weniger Ausreden, die Ukraine nicht zu verlassen. Der Hauptgrund es nicht zu tun ist momentan, dass wir auf eine Schlafcouch warten, die wir schon im Januar bestellt hatten.

Die Fabrik hat geschlossen, als der Krieg ausgebrochen ist, obwohl sie in dem sicheren Gebiet nördlich von Lwiw liegt. Die Regierung drängt Unternehmen dazu, den Betrieb wieder aufzunehmen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Außerdem glaube ich, dass wir mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen in der Westukraine sicherlich mehr Schlafsäcke, Betten und Co. brauchen.

101 Flugzeuge abgeschossen, wir haben es geschafft. Das Blatt in diesem Krieg wendet sich, aber es ist noch ein langer Weg, bevor wir diese Pest los sind (Anmerkung: Die Angabe des ukrainischen Militärs, wie viele russische Flugzeuge bereits abgeschossen wurden, lässt sich nicht unabhängig überprüfen). 

  • Dienstag, 22. März

Flucht vor den Sirenen in die Datsche

Temperaturen von bis zu 17 Grad werden würde. Wegen der langen Luftangriff-Alarme in der letzten Zeit entschieden wir uns dazu, tagsüber zu unserer Datsche zu fahren und dort im Garten zu arbeiten, ohne von den Sirenen abgelenkt zu werden. Das war eine gute Wahl, denn es gab an diesem Tag fünf Alarme.

Angeblich hat Lukaschenko (Anm. d. Red.: gemeint ist Alexander Lukaschenko, Präsident von Belarus) Putin versprochen, bis zum 22. März seine Truppen in die Ukraine zu schicken. Bis jetzt ist aber nichts passiert.

99 Flugzeuge abgeschossen. Fast geschafft. Es fühlt sich definitiv so an, als würden wir gewinnen. (Anm. d. Red.: Die Angabe des ukrainischen Militärs, wie viele russische Flugzeuge bereits abgeschossen wurden, lässt sich nicht unabhängig überprüfen). 

  • Montag, 21. März

Zum Kämpfen muss man nicht unbedingt eine AK47 in der Hand halten

Wenn die Sirenen heulen, dauert es meist nicht länger als eine Stunde. Die gleiche Zeit, die eine russische Rakete braucht, um ihr mögliches weitestes Ziel in der Ukraine zu erreichen.

Langer Alarm bedeutet, dass die Raketen noch in der Luft sind. Unsere Truppen scheinen jetzt ein Auge darauf zu haben und schießen viel mehr Raketen ab als früher. Das einzige Problem ist, dass eine Rakete, selbst wenn sie abgeschossen wird, immer noch irgendwo abstürzen muss. Das ist neulich in Kiew passiert - ein Mensch ist gestorben. Das sind zwar weniger Opfer, als wenn sie explodiert wäre, aber jedes verlorene Leben ist ein unverzeihliches Verbrechen.

Die Broschüre ist endlich fertig. Jetzt muss es nur noch gedruckt und in die richtigen Hände gebracht werden. (Anmerkung: Solomia hat eine Broschüre für Flüchtende geschrieben, viele Ukrainerinnen und Ukrainer fliehen über Lwiw etwa nach Polen)

Aus Neugier habe ich beschlossen, die Gesamtdauer der Alarme heute zu berechnen.

1.33 bis 2.46 Uhr, 6.53 bis 7.43 Uhr, 10.40 bis 11 Uhr, 11.17 bis 11.45 Uhr.

Und dann noch 16.17 bis 19.02 Uhr. In dieser Zeit habe ich einen Freund besucht, der in der Nähe meines Büros wohnt. Als ich ihn traf, arbeitete er gerade an einer App. Sie zeigt eine Karte der Ukraine – und wo gerade Luftangriffsalarm herrscht, in Echtzeit. So oft leisten die Menschen jetzt ihren ganz persönlichen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen. Zum Kämpfen muss man nicht unbedingt eine AK47 in der Hand halten - auch ein kluger Kopf hinter einer Tastatur ist ein unschätzbarer Kämpfer.

5 Stunden, 32 Minuten.

Mit diesen Raketen frisst Russland unsere Stunden der Produktivität. Wie die russischen Jungs vor dem Krieg, die stolz am Kreml vorbeimarschierten, um sich inspizieren zu lassen, marschieren wir „Ukies“ jetzt zu den Bunkern und wieder heraus. Vielleicht nicht stolz oder prunkvoll, aber bestimmt entschlossen, trotz dieser lästigen Einmischung in unser ansonsten ruhiges Leben weiterzumachen.

Vergangenen Dienstag hat das Vereinigte Königreich die Online-Beantragung von britischen Visa für Ukrainer freigegeben. Ich hab meinen Visumsantrag eingereicht. Nur für den Notfall, falls ich doch das Land verlassen muss. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon 27.000 Anträge. Da die Briten etwa 100 Anträge pro Tag schaffen, werde ich rund 270 Tage auf eine Antwort warten müssen. Es gibt keine Möglichkeit, den Antrag online zu verfolgen. Ich hoffe, dass ich das Visum nicht brauchen werde und der Krieg bis dahin vorbei ist.

97 Flieger abgeschossen. Noch 3. Schönen Tag noch. (Anmerkung: Angaben des ukrainischen Militärs über die russischen Verluste. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.)

  • Sonntag, 20. März

Die ältere Generation scheint den Krieg gelassener zu nehmen

Der erste Alarm des Tages war von 5.28-6.35 Uhr. Wir sind nicht in den offiziellen Schutzraum gegangen, sondern saßen auf Kissen im Flur unserer Wohnung. Im Internet habe ich gelesen, dass die Schutzräume nicht wirklich zu empfehlen sind, da sie nie als Schutzräume entworfen wurden. Keine Fluchtwege, keine verstärkten Decken, keine Notstromversorgung. Sie wurden willkürlich umgebaut. Besser ist es, zwischen den großen Betonwänden im Korridor der Wohnung zu sitzen. Dazu haben auch wir uns heute Morgen entschieden.

Wir waren heute in unserem Garten auf dem Land. Es war eine Oase der Ruhe in dieser nervösen Zeit. Der Frühling ist im Anmarsch. Die Blumenzwiebeln stecken ihre ersten Köpfe heraus, die Bäume treiben Knospen und das Gras wird grün (obwohl es schon eine Weile nicht mehr richtig geregnet hat).

Normalerweise würde meine Mutter nicht erlauben, an einem Sonntag zu graben oder zu sägen, aber selbst sie sagte: Es ist in Ordnung, während des Krieges ein wenig zu sägen. Natürlich hat Gott wichtigere Dinge, um die er sich kümmern muss.

Später habe ich mich bei der Freundin meiner Mutter erkundigt. Ihr Telefon funktionierte ein paar Tage lang nicht. Es geht ihr gut, sie hatte nur ein paar Tage lang keinen Empfang. Sie war viel ruhiger, als ich erwartet hatte. Tatsächlich scheint die ältere Generation diesen Krieg und die unsichere Situation oft gelassener zu nehmen. Vielleicht liegt es daran, dass sie alle den Zusammenbruch der UdSSR miterlebt haben.

96 Vögel abgeschossen. Noch 4. Es war ein guter Tag. (Anmerkung: Angaben des ukrainischen Militärs über die russischen Verluste. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.)

  • Samstag, 19. März

Hochzeit im Krieg: „Wir haben keinen Plan zum Feiern“

Keine Sirenen in der Nacht. Das ist ein gutes Zeichen und ein großartiges Geschenk.

Wir haben unseren Freunden nichts von der Hochzeit gesagt, weil wir uns nicht sicher waren, ob sie überhaupt stattfinden kann. Und erst am Tag davor habe ich meine Freundin angerufen und sie vorsichtig gefragt, ob sie meine Brautjungfer sein möchte. Sie hatte ein Online-Bewerbungsgespräch, doch sie versprach, dass sie es schaffen würde, wenn das Gespräch kurz ist. Währenddessen lud Michael seinen besten Freund und den Sohn meines Patenonkels ein. Leider war der beschäftigt. Er würde die freiwilligen Helfer mit den Flüchtlingen unterstützen, die aus anderen Städten kommen.

Ich fragte einen weiteren Freund, ob er am Samstagmorgen Zeit hätte: „Ja, wenn die Nacht ruhig wird.“ Die Nacht war tatsächlich ruhig und erst als er im Auto fragte, wo wir hinfahren, lüfteten wir unser „kleines Geheimnis“.

Eine Stunde und zwanzig Minuten um den Trauzeugen abzuholen, zum Markt zu gehen und ein besticktes Hochzeitstuch zu kaufen, die Brautjungfer und ihren Sohn abzuholen, Blumen zu kaufen, zu unserer Wohnung zu gehen und ein Hemd und Schuhe für Michael abzuholen und Wein aus dem Kühlschrank für eine kleine Party nach der Trauung zu entkorken. Wir konnten keinen Champagner kaufen, weil Kriegsrecht herrscht – kein Alkohol.

Wir schafften es, alles in anderthalb Stunden zu erledigen. Warum diese Vorbereitungen in letzter Minute? Wir waren uns unsicher, ob die Hochzeit stattfinden kann und wollten uns keine unnötigen Hoffnungen machen. Beim Standesamt ging eine Woche lang niemand ans Telefon und am Tag zuvor, als wir persönlich hingingen, stand dort nur ein Wachmann, der mit einem wissenden Lächeln sagte:

„Haben Sie einen Termin?“

„Ja“, sagten wir, „für morgen.“

„Alles klar, kommen Sie morgen und wir verheiraten Sie.“

„Gibt es eine komplette Trauungszeremonie oder eine verkürzte?“

„Verkürzt.“

„Wie schade, hätten wir das gewusst, hätten wir auch nur für eine verkürzte Trauung bezahlt“, versuchte ich zu scherzen.

Als wir gerade wegfahren wollten, winkte er, um uns zurückzuhalten. „Wenn Sie für die komplette Trauung bezahlt haben, werden Sie auch eine bekommen. Mit Frauen, die singen und die Bandura (Anmerkung: ein ukrainisches Lauteninstrument) spielen und so weiter.“

Am Tag der Hochzeit, als wir den Papierkram erledigten, gingen die Sirenen los und Gäste und Angestellte mussten widerwillig in den Keller. Eine der Angestellten hatte Geburtstag und die anderen sangen ihr direkt dort ein Lied. Ein weiteres Paar machte seine Hochzeitsfotos vor dem Hintergrund der weißen Kellerwand. Wir machten auch einige Selfies, um diese einmalige Gelegenheit nicht zu verpassen. Für uns gab es Luftalarm-Sirenen anstatt Hochzeitsglocken. Zum Glück war der Alarm nur kurz und die Trauung konnte weitergehen.

Es gab keinen Plan zum Feiern, abgesehen von einem Schluck billigen Vorkriegs-Wein aus Plastikbechern draußen vor dem Standesamt, aber irgendwie landeten wir am Ende in einem gemütlichen Restaurant mit atemberaubendem Ausblick über die Stadt, das überraschenderweise offen hatte. Es war leer. Trotzdem fühlten die Dinge sich plötzlich wieder normal an und wir genossen den Ausblick, der bald verschwunden sein könnte.

Am Nachmittag gingen wir in unseren Garten. Weil er wusste, dass es vielleicht so bald keine Gelegenheit mehr dafür geben würde, benutzte Michael seine Kettensäge, um ein paar Zweige von einem kürzlich gefällten Baum zu schneiden.

95 Flugzeuge abgeschossen, noch fünf übrig.

  • Freitag, 18. März

Raketenangriffe in Lwiw: „Putin heißt dich willkommen“

Bumm… es brachte die Fensterscheiben zum vibrieren, die Alarmanlagen von Autos sprangen an, doch es gab keine Anzeichen einer Panik. Wir hatten die Sirenen nicht gehört und schliefen nach Michaels (Anmerkung: Ihrem Freund, den sie am Tag darauf heiratete) Ankunft am späten Abend friedlich. Das ist das erste Mal, dass wir Raketenangriffe in Lwiw hatten, seit Michael die Stadt vor drei Wochen verlassen hat. Unsere Verschlafenheit brachte uns dazu, uns unter der Bettdecke zu verkriechen und das Chaos um uns herum zu ignorieren.

Die zweite Explosion folgte kurz nach der ersten. Ich sah Michael an und sagte: „Putin heißt dich in Lwiw willkommen.“ Nach der dritten Explosion eilten wir in den Flur, um das Ende des Alarms abzuwarten. Natürlich stand nicht sofort in den Nachrichten, was passiert war, um den Russen nicht zu helfen.

Als wir wieder im Bett lagen, versuchten wir die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, dass das Ziel der Angriffe der Bahnhof, der Flughafen oder die Panzerwerkstatt war (letztere ist anscheinend seit ein paar Jahren außer Betrieb, aber sie könnte immer noch zum Ziel werden, weil die Russen in diesem Krieg oft veraltete Karten und Informationen benutzen). Schließlich haben wir erfahren, dass es eine Werkstatt für Flugzeuge (von der ich gar nicht wusste, dass wir sie in Lwiw haben) neben dem neuen Flughafen war.

Sechs Marschflugkörper wurden vom Schwarzen Meer aus abgefeuert: zwei wurden von unseren unermüdlichen Luftabwehr abgeschossen, aber vier fanden leider ihr Ziel. Der Angriff begann um 6.08 Uhr und um 6.25 Uhr waren drei Explosionen zu hören (die vierte hörten wir nicht, vielleicht ist sie nicht detoniert – die Russen benutzen alte Ausrüstung, die manchmal Gott sei Dank nicht hochgeht).

Wir haben den Tag in unserer Wohnung verbracht. Es war wunderbar, mit Michael nach Hause zu gehen, doch es wurde auch von der Traurigkeit getrübt, dass wir nicht länger dort bleiben konnten. Michael hat den Freund getroffen, der momentan in unserer Wohnung lebt. Sie haben sich gut verstanden und Michael hofft, dass sie Freunde werden, wenn wir alle diese Zeit überleben.

Eine Aufgabe für heute war, die Koffer zu packen um schnell verschwinden zu können, falls es nötig ist. Wir haben diese schreckliche Aufgabe so lange es geht aufgeschoben, und sie selbst dann nur halbherzig und lustlos erledigt. Wie entscheidet man, was man mitnimmt? Nehme ich mein Familienarchiv mit, oder die Sammlung sowjetischen Glasgeschirrs und das Teeservice, oder Kleidung? Welche Bücher sollte ich mitnehmen? Zuerst packte ich hunderte Familienfotos und alte Briefe ein, dann einige Kameraobjektive und zuletzt einige wenige Kleider und Schuhe. Das hat gezeigt, was wirklich wertvoll ist. Es sind Erinnerungen, keine alten Klamotten.

Aus unerklärlichen Gründen packte Michael alle seine Socken, aber keine Pullis ein, bis ich ihn darauf hinwies. Wir haben herzlich darüber gelacht. Er wollte seine Werkzeuge mitnehmen. Logisch betrachtet wissen wir natürlich, dass das Unsinn ist. Wir können neue Kleider kaufen, Sägen können ersetzt werden und selbst Bücher können neu gekauft und wieder gelesen werden. Aber es sind unsere Sachen.

Die Russen haben kein Recht, Menschen in diese Situationen zu bringen. Ich weiß, dass viele meiner Landsleute es viel schlechter haben als ich und dass sie mich wegen meines Händeringens über sowjetisches Geschirr auslachen würden. Aber ich glaube, dass wir zum großen Teil von dem „Zeug“ ausgemacht werden, mit dem wir uns umgeben. Versetzt euch in die Lage der Ukraine – welche eurer Sachen würdet ihr in ein paar wenigen Koffern mitnehmen, wenn ihr dazu gezwungen wärt?

Auf der Arbeit habe ich mit Kollegen darüber gesprochen, dass nach dem Krieg Bauarbeiter die neuen IT-Arbeiter sein werden: sie werden die am meisten gefragte Berufsgruppe darstellen.

Ich gehe einen Tag nach dem anderen an und denke nie viel über den nächsten Tag nach. Mache keine Pläne. Aber für morgen habe ich einen Plan. Michael und ich werden heiraten. Unser kleiner Sieg über Putin.

93 Flugzeuge abgeschossen, noch sieben übrig – ein weiterer Sieg bahnt sich an. (Anmerkung: Das ukrainische Militär gibt regelmäßig Informationen über die Verluste und Treffer. Die Angaben können nicht unabhängig geprüft werden.

  • Donnerstag, 17. März

Zum ersten Mal seit drei Wochen fühlte ich mich für einen Moment von der Last des Stresses befreit

Nur ein Luftalarm in der letzten Nacht, und der ging nicht mal eine Stunde. Keine Raketeneinschläge. Das sehen wir als angenehm langweilige Nacht.

Am Nachmittag bin ich ins Stadtzentrum gefahren, letzter Besuch beim Zahnarzt. Es war schön zu sehen, wie die Stadt wieder zum Leben erwachte, Straßenmusiker, geöffnete Cafés, Souvenirverkäufe und junge Leute, die sich vergnügten. Die Menschen wirkten entspannt, trotz der Krankenwagen und Militärfahrzeuge, die zielstrebig an ihnen vorbeifuhren.

Zahlreiche Geflüchtete bewundern die Architektur Lwiws. Man könnte sie fast mit Touristen verwechseln, die mit gezückten Kameras die Sehenswürdigkeiten fotografieren. Noch vor ein paar Tage, als ich das Stadtzentrum besucht hatte, ist man misstrauisch gegenüber allen Personen gewesen, die Fotos gemacht haben. Denkt dran, was mir passiert ist. (Anmerkung: Auch Solomia K wurde von Sicherheitskräften angesprochen, als sie Fotos für das Kriegstagebuch machte. Sie wurde gefragt, ob sie eine russische Spionin sei.) Möge es lange so bleiben.

Das einzige Problem für diese unerwarteten Touristen ist, dass viele der Skulpturen und berühmten Kunstwerke zu ihrem Schutz mit Metallbarrikaden versehen wurden. Ich habe viele meiner früheren Kollegen erkannt, als ich noch als Reiseführerin gearbeitet hab. Nun zeigen sie den Geflüchteten die Stadt. Ein Reiseführer ist nicht einfach nur ein menschlicher Aufzeichner von Fakten. Diesen Menschen liegt ihre Stadt so sehr am Herzen, dass sie sich aktiv um den Schutz ihrer kulturell wertvollen Artefakte kümmern. Zum ersten Mal seit drei Wochen fühlte ich mich für einen Moment von der Last des Stresses befreit. Nur die Schlangen vor dem Waffenladen erinnerten mich an den Ernst der Lage.

Michael kommt zurück.

Er hat im Kloster meines Cousins in Wroclaw, Polen, übernachtet. Es könnte sein, dass wir doch noch heiraten werden. Meine Großeltern haben 1944 während des Zweiten Weltkriegs geheiratet. Ich dachte: „Wie albern, während eines Krieges zu heiraten“. Und jetzt bin ich hier. So dreht sich das Rad der Geschichte.

86 Flugzeuge, 14 fehlen noch. (Anmerkung: Angaben des ukrainischen Militärs, wie viele russische Flugzeuge bereits zerstört wurden. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.)

  • Mittwoch, 16. März

Kein Kaffee mehr, bis der Krieg vorbei ist – Alle sind gerade sehr misstrauisch

Die meisten Beschränkungen fühlen sich nach zwei Jahren Corona-Pandemie normal an. Und trotzdem können manche scheinbar kleinen Unannehmlichkeiten eine innere Rebellion auslösen.

Heute hatte ich das Verlangen nach einer Tasse Kaffee und ging zu der Kaffeemaschine im Büro. Sie war ausgestöpselt. Ich suchte die Reinigungskraft auf, und sie sagte, dass die Maschine nicht laufen würde, wenn nicht alle Zutaten eingefüllt sind. Dem Büro ist die heiße Schokolade ausgegangen, die normalerweise aus der Ostukraine kommt. Jetzt ist die Lieferkette unterbrochen worden – kein Kaffee mehr, bis der Krieg vorbei ist…

Als ich nach Hause ging, entdeckte ich jemanden mit einer Schaufel in der Mitte der Straße. Natürlich wurde ich misstrauisch und hielt mein Handy bereit, um die Polizei rufen zu können. Als ich näherkam, erkannte ich einen Mann, der Kies in ein Schlagloch schaufelte.

„Was tun Sie hier?“, fragte ich. „Sie tragen keine Warnweste und können auf dieser vielbefahrenen Straße leicht von einem Auto erwischt werden.“

„Straßenreparatur“, lachte der Mann. „Verdächtigen Sie mich? Glauben Sie, ich würde Markierungen für die Russen machen? Ich lebe direkt hier – das ist mein Haus. Ich habe vierzig Jahre Erfahrung im Straßenverkehr, mir wird schon nichts passieren.“

„Natürlich, im Frühling schmilzt der Schnee und die Straße schmilzt gleich mit“, dachte ich und antwortete: „Nee, das ist nicht mehr angesagt, genauso wenig wie die Leute zu melden, die ein violettes Licht in ihren Fenstern haben.“ (Anm. d. Red.: Vor kurzem ging auch in den sozialen Medien das Gerücht um, dass violette Lampen in Fenstern als Markierungen genutzt würden, um russische Luftangriffe zu erleichtern.)

„Ich sag Ihnen mal was“, fuhr der alte Mann fort, „gestern Abend kam ein Auto mit Kiewer Kennzeichen vorbei. Die Leute haben mich gefragt, wo sie den Anlasser des Autos reparieren lassen könnten. Ich antwortete ihnen, dass die Straße runter neben dem Hotel eine Werkstatt sei, die aber schon geschlossen hat. Und plötzlich fragten sie mich, wo das Militärübungsgelände ist! Am Vortag ist ja der Militärstützpunkt in Jaworiw mit Marschflugkörpern angegriffen worden. Also antwortete ich: ‚Oh Leute, ihr fahrt in die falsche Richtung. Dreht um, fahrt zurück über die Brücke und dann durch die Innenstadt‘. Natürlich habe ich ihnen damit nicht den richtigen Weg verraten und sie falsch gelotst. Und denk dir nur, sie sind tatsächlich umgekehrt und zurückgefahren.“

Wir sind gerade alle sehr misstrauisch. Heute Morgen hat eine Kollegin zugegeben, dass sie ein violettes Licht gemeldet hatte, als wir vor zwei Wochen dazu angehalten wurden. Die Polizei kam, um sich die Sache anzuschauen und es stellte sich heraus, dass es sich um eine Pflanzenlampe handelte, die Orchideen beim Wachsen hilft.

Mariupol wurde angegriffen, damit noch mehr Druck aufgebaut wird und wir aufgeben. Aber über diesen Punkt sind wir hinaus. Niemand, der belagert wird, wird jemals aufgeben.

84 Flugzeuge abgeschossen. Noch 16 übrig. (Anm. d. Red. Diese Angabe lässt sich nicht unabhängig überprüfen) Noch immer ein guter Tag. 

  • Dienstag, 15. März

Drei Luftangriff-Alarme am Tag – Gedanken über das (Über-)Leben nach dem Krieg

Ein Freund hat diese Zeit das „Leben zwischen den Luftangriff-Alarmen“ getauft. Heute gab es am Morgen, am Abend und nachts einen Alarm. Ich habe meinen früheren Projektleiter getroffen, der die Ausbildung und die Einstellung eines Philosophen hat. Wir haben im weitgehend leeren Büro eine Tasse Tee getrunken und haben über kleine und große Dinge gegrübelt. Seine ruhige und zuversichtliche Art hat auch mich beruhigt.

Als wir über den Krieg sprachen, sagte er:

„Falls du dich dazu entscheidest, nach dem Krieg den Beruf zu wechseln, denk darüber nach, Psychotherapeutin zu werden. Wir werden nach dem Krieg jede Menge davon brauchen… Denk an die Hunderttausenden, die jetzt Waffen erhalten haben. Viele haben das Schießen beigebracht bekommen, aber viele auch nicht. Unter den jetzigen Umständen ist eine Person mental dazu bereit, zu töten, sobald sie eine Waffe erhält.

Sie müssen sich überwinden und daran glauben, dass es richtig ist, zu töten. Glaub mir, das ist nicht so einfach. Selbst wenn sie niemanden umbringen, wird ihre frühere mentale Bereitschaft, jemandes Leben zu nehmen, sie für immer verfolgen. Sie werden sich schuldig fühlen.

Jetzt kann das Gehirn nicht rational funktionieren, aber wenn der Krieg vorbei ist, sind sie aufgeschmissen und können sich nicht gut an die neuen Gegebenheiten anpassen. Dasselbe wird für die Frauen und Kinder gelten, die überlebt haben. Sie werden sich schuldig fühlen, „Überlebensschuld-Syndrom“ nennt man das.“

81 Flugzeuge abgeschossen, noch 19 übrig. (Anmerkung: Die Angaben des ukrainischen Militärs, wie viele russische Flugzeuge bereits abgeschossen wurden, können nicht unabhängig überprüft werden). Heute war ein guter Tag.

  • Montag, 14. März

Mehr Freiwillige als Munition – Wir wünschen uns jetzt immer gegenseitig eine „langweilige Nacht“

Die Sirenen heulen seit 2.19 Uhr – bis 7.49 Uhr. Nach den Angriffen gestern sind die meisten nun schnell in die Schutzräume geeilt. Ich nicht.

Ein Kollege hat in unseren Chat geschrieben: „Hi zusammen! Das Team in Lwiw hat heute einen Flugalarm erlebt, wir haben die ganze Nacht im Bunker verbracht, ohne Schlaf. Wir starten heute ein bisschen später, verpassen die Meetings am Morgen.“ Vor einem Monat hätte das komplett surreal geklungen.

Unser ukrainisches Team ist sichtlich gestresst heute. Sie machen Witze über die Vorteile eines eleganten Todes. Lieber in einem Bett mit Lavendelduft statt kurz vor dem Verdursten in einem dreckigen Bunker zu sterben. Ein anderer Kollege, der vor einer Woche aus Odessa nach Lwiw gezogen ist, hat nach Neuigkeiten gefragt. Er schafft es beneidenswerter Weise, nur einmal am Tag nach Nachrichten zu gucken. Der Typ hat einen starken Willen.

Ein Kollege, der in einem Dorf nahe Lwiw wohnt und wie ungefähr fünf bis zehn andere Personen regelmäßig in die Stadt kommt, sagt, er habe eine riesige Stromrechnung bekommen. Eine riiiiesige. „Natürlich habe ich nicht gezahlt. Die müsste ich mit all meinen Habseligkeiten bezahlen.“

Ich war verblüfft: Welche Rechnung? Warum sollte das wichtig sein? Er kann es sich doch sicher leisten, seine Rechnungen zu bezahlen. Die IT ist die lukrativste Branche.

Er fuhr fort: „Ich bin eine der Schlüsselfiguren des Projekts, und die Weitergabe von Wissen würde viel Zeit in Anspruch nehmen, die wir nicht haben. Ich habe keine Angst vor dem Tod, um das Vaterland zu schützen. Aber ich habe auch eine Frau und zwei Kinder zu ernähren und die Hälfte meiner Familie, die nicht aus der Zentralukraine geflohen ist.“

Ahh, er ist eingezogen worden, endlich habe ich es verstanden. Er muss zum Militärkommissariat.

„Ich verlasse mein Haus gegen fünf Uhr morgens und komme gegen 20 Uhr zurück. Einestages stand ein Auto vor meiner Tür und mein Herz ist mir in die Hose gerutscht. Ich habe mich bekreuzigt und war bereit, mich meinem Schicksal zu stellen. Ich habe das Tor geöffnet und ging los. Aber dieses Mal hatte ich Glück. Sie sind nicht gekommen, um mich abzuholen.“

Er sollte sich keine Sorgen machen. Es gibt mehr Freiwillige, die sich zur Armee melden, als es Munition gibt.

77 Flugzeuge. 23 müssen noch abgeschossen werden, um den Wendepunkt zu erreichen. (Anmerkung: Das ukrainische Militär hat am 14. März über die Nachrichtenagentur Ukrinform gemeldet, bereits 77 russische Flugzeuge abgeschossen zu haben. Die Angabe konnte nicht unabhängig überprüft werden.)

Wir wünschen uns jetzt immer gegenseitig eine „langweilige Nacht“. Eine „langweilige Nacht“ also für uns. Ok, ein paar Flugzeuge mehr, aber sonst eine langweilige Nacht.

  • Sonntag, 13. März

Warum fühlen wir uns unter einer Bettdecke so sicher wie im Atombunker?

Schon die zweite Nacht in Folge, in der sich die Katze weigert, mit mir einzuschlafen. Ich bin gegen 3 Uhr morgens aufgewacht und begann wie üblich, durch die Nachrichten zu scrollen. In den letzten zwei Stunden war nichts Großes passiert. Dann heulten plötzlich die Sirenen.

In den ersten Tagen ging ich immer in voller Montur ins Bett und eilte in den Schutzraum, sobald die Sirenen ertönten. Jetzt ziehe ich mir einen Schlafanzug an - wie in den guten alten Zeiten. Und ich habe keine Lust, nach draußen zu gehen, wenn die Luftschutzsirenen ihr unheilvolles Crescendo anstimmen.

Irgendwann hörte ich eine Explosion, dann noch eine. „Sie bombardieren den Flughafen“, dachte ich, aber ich fühlte mich zu erschüttert, um mich anzuziehen. Also schnappte ich mir die mürrische Katze und steckte sie unter die Bettdecke.

Warum fühlen wir uns unter einer Bettdecke so sicher wie im Atombunker?

Dann schlief ich ein, nur um von der miauenden und kratzenden zerquetschten Katze geweckt zu werden. Eine weitere Explosion. Freunde posteten erste Facebook-Beiträge: „Habt ihr die Explosionen gehört?“ Andere fingen an, sie zu kritisieren, indem sie behaupteten, solche Informationen könnten Artillerie-Spotter helfen. Andere verneinten: „Da es keine direkten Koordinaten oder Fotos gibt, wird diese allgemeine Frage nicht weiterhelfen“.

Einige Stunden später erschien die offizielle Information. Etwa 30 Marschflugkörper sind auf das Internationale Friedens- und Sicherheitszentrum in Jaworiw abgeschossen worden. Es ist etwa 30 Kilometer von Lwiw und 20 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.

35 Tote, 135 Verletzte.

Russland meldete, 180 ausländische Kämpfer getötet zu haben. Sie testen ihre Grenzen aus, überschreiten rote Linien. Ihre „Friedensmission“ scheint gescheitert zu sein.

Ich habe die zweite Luftangriffswarnung ignoriert. Mir wurde übel und ich verbrachte die meiste Zeit des Tages im Bett. Schlechter Tag.

  • Samstag, 12. März

Die junge Architektin träumt davon, Charkiw und Mariupol wieder aufzubauen

Besichtigung der Stadt mit drei Reportern aus Hongkong, die jetzt im Vereinigten Königreich und in den USA leben: Ein Professor, ein Geistlicher und ein Geschäftsmann, die Lwiw besuchten, um Berichte zu schreiben, für den Frieden in der Ukraine zu beten und junge Hongkongern zu inspirieren, für ihre Freiheit zu kämpfen.

Der Presseausweis und das eindeutig ausländische Aussehen haben gereicht - es gab keine verdächtigen Blicke, und wir bekamen eine Führung durch das Freiwilligenzentrum auf dem Marktplatz und sprachen mit Einheimischen. Das Fotografieren wurde uns nur vom Polizeipräsidium verweigert.

Im Stadtzentrum wimmelte es von jungen Leuten aus der ganzen Ukraine. Es war fast wie ein normaler sonniger Tag für Touristen. Unsere Führerin im Freiwilligenzentrum war Sofia, eine 19-jährige Architekturstudentin aus Charkiw. Ihr Traum ist es, die Städte Charkiw und Mariupol wieder aufzubauen, wenn der Krieg vorbei ist und die Ukraine siegreich ist - was sie sicherlich sein wird!

Am Abend bot ich ihr an, meine Wohnung zu besuchen. Die Idee wurde begeistert aufgenommen, wir besorgten Vorräte aus dem Supermarkt und der 72-jährige Politikprofessor kochte eine Mahlzeit.

Budmo - Hey! Budmo - Hey! Budmo Budmo Budmo - Hey Hey Hey! (Anmerkung: Populärer ukrainischer Trinkspruch, der häufig auch gesungen wird)

Ich fühlte mich schuldig, als wir ziemlich laut "Prost" auf Ukrainisch sagten, während wir mit Kahor, dem Kirchenwein für das Heilige Abendmahl, aus der Vorkriegszeit auf unseren baldigen Sieg und den Frieden auf Erden anstießen.

Ich hatte ein kurzes Telefonat mit Michael (Anmerkung: ihr Freund, den sie bald heiraten will), der sagte: „Ich weine fast, wenn ich sehe, dass unser schönes Haus immer noch benutzt wird!“ Wir haben beide so viel Mühe in die Renovierung unserer Wohnung gesteckt. Der Gedanke, dass es zerstört werden könnte, wie so viele andere Häuser, macht uns Angst.

Auf der Rückfahrt fassten wir den fröhlichen Entschluss, dass nach dem Ende des Krieges ausländische Investoren hier angesichts der reichhaltigen natürlichen Ressourcen und der fleißigen Menschen reichlich Möglichkeiten haben werden.

Vielleicht wird sich sogar die NATO uns anschließen wollen.

  • 11. März

„Keep calm, and be ukrainian“

Die Sirenen ertönten bis 4.45 Uhr, etwa zwei Stunden zuvor hatten sie eingesetzt. Ich habe sie verschlafen, nur um später herauszufinden, dass die Russen sich daran erinnerten, dass man in der Westukraine schon lange keine Explosionen mehr gehört hatte. Sie nahmen Iwano-Frankiwsk, Lutsk und Dnipro (Anmerkung: Ukrainische Städte) ins Visier. In Dnipro wurde eine Schuhfabrik zerstört - diese Bastion des Nazi-Militarismus wurde erfolgreich entmilitarisiert.

Der zweite Alarm kam um 11.20 Uhr. Ich war im Büro und konnte deutlich sehen, dass die Kollegen gezögert haben, nach unten zu gehen. Sie hätten es wahrscheinlich auch nicht getan, wenn es nicht den Druck der Kollegen gegeben hätte. Der Parkplatz des Bürozentrums wurde zu einem Schutzraum umfunktioniert.

Das Ganze wirkt surreal: Während eines Telefonats entschuldigen sich ukrainische Teammitglieder und gehen in die Bunker. Es ist erstaunlich, vielleicht sogar beruhigend, wie schnell sich Menschen an neue Umstände anpassen. Ich frage mich, ob Stoizismus im Angesicht eines solchen Grauens eine der besten Formen des Widerstands ist. Gemeinsam, als Stadt, als Nation, als Volk, bleiben wir ruhig und machen weiter. Man könnte ein modisches T-Shirt mit der Aufschrift „Keep Calm, and be Ukrainian' machen.

Heute schien der Sieg nicht so unmittelbar bevorzustehen. Dies war einer der schlechten Tage.

  • Donnerstag, 10. März

Heute war ein guter Tag. Wenn es gute Tage im Krieg geben kann.

Frühmorgens kriege ich einen Anruf von einer Frau, die auf dem Land lebt. Sie will uns mit Eiern und Hähnen versorgen: „Ich bin auf dem Markt, mein Schwiegersohn hat einen jungen Hahn geschlachtet. Soll ich ihn für Sie abgeben?“. 20 Minuten später sind der magere Hahn und zehn große Eier in meiner Tasche. Ich komme nicht mehr zu anderen Bauern in der Nähe, da die meisten Vorortbusse gestrichen wurden. Ich hoffe, sie kommen wieder, wenn der Krieg vorbei ist, denn es geht nichts über frische Lebensmittel vom Bauern.

In den letzten Tagen ist es am besten, überall zu Fuß hinzugehen. Es gibt nur wenige öffentliche Verkehrsmittel, die Straßen sind verstopft, und etwa 50 Prozent aller Nummernschilder sind von außerhalb des Bezirks Lwiw. Einige fliehen nach Lwiw, andere fliehen durch Lwiw. Viele Krankenwagen aller Größen und Formen, vielleicht von Polen gespendet, aber bereits mit ukrainischen Nummernschildern.

Die Straßenreinigungsfahrzeuge sind verschwunden. Ein paar ältere Menschen tun ihr Bestes, um den Schutt und Staub zu beseitigen, indem sie ihn zu Haufen aufschichten, die dann von den Windböen weggeblasen werden.

Ein weiterer Tag, gefolgt von einem Zahnarzttermin. Meine Zahnärzte sind zwei Kumpel mit einer kleinen Privatpraxis in einem Theater aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die klassisch geschnitzten Decken sind eine reine Augenweide und ein besseres Schmerzmittel als eine Spritze. Irgendwann ruft der eine Zahnarzt dem anderen zu:

„Andriy, möchtest du ein Bier?“

„Ich fahre noch, ich kann nicht“

„Dann nimm es für Zuhause, Kumpel. Ich konnte noch ein paar Flaschen von der letzten Brauerei in Ternopil ergattern.“

Es stellt sich heraus, dass sie in Lwiw kein Bier mehr brauen. Alles destillierte Wasser wird in den Osten transportiert, um den katastrophalen Mangel in den Gebieten mit zerstörter Infrastruktur auszugleichen. Das „Trockenheits-Gesetz“ wurde am 1. März eingeführt. Aber ich schätze, hier trinkt eh kaum noch jemand.

Wir sind berauscht mit Wut und Frust.

Ein Freund von mir, der in der US-Armee ist, hat mir geschrieben. „Es wird gute und schlechte Tage geben. Man weiß es nie genau. Als ich drei Mal im Irak und zwei Mal in Afghanistan war, gab es viele Tage von Gut und Schlecht.“

Heute war ein guter Tag. Wenn es gute Tage im Krieg gibt.

  • Mittwoch, 9. März

Zwei Wochen durchhalten haben sie gesagt

Sie haben uns gesagt, wir sollen zwei Wochen durchhalten. Wir haben es geschafft. Jeder und jede hat bessere Laune. Die ukrainische Armee besteht nicht nur aus gut ausgerüsteten Soldaten, sondern auch diesen draufgängerischen Zivilisten, die vorrückende russische Laster und Panzer blockieren. Besondere, alte Damen zerstören Aufklärungsdrohnen mit eingelegten Tomaten.

Zwei Wochen. Wir haben es geschafft. Direkt nach den ersten Angriffen am Donnerstagmorgen des 24. Februars haben sie gesagt, dass wir zwei Wochen aushalten müssen. Dann haben wir eine Chance auf den Sieg. Überraschend sogar für uns: Wir haben durchgehalten.

Vor zwei Wochen, als ich mich von Michael (Anmerkung: Ihr Freund, den sie bald heiraten will) verabschiedet habe, hat niemand es für möglich gehalten. Aber hier sind wir. Die Regierung hat IT-Fachleute aufgefordert, nicht mehr freiwillige Arbeiten zu erledigen, sondern zu programmieren. Der Staat braucht die Kohle dringend. Aber es fühlt sich praktisch unmöglich an, sich auf eine Arbeitsstimmung einzustellen.

Jeder im Team scheint optimistischer zu sein, aber niemand versucht zu verbergen, dass es mental viel einfacher ist, sich ehrenamtlich zu engagieren, als den eigentlichen Job zu machen.

Eine weitere wunderbare Empfehlung ist, nur ein- oder zweimal am Tag die Nachrichten zu lesen. Wie ist das möglich? Während des Zweiten Weltkriegs hatten die Menschen das Glück, kein Internet zu haben.

  • Dienstag, 8. März

Weltfrauentag angesichts des Kriegs: Hübsche, zarte Blumen inmitten der Trauer und Verdammnis

Es ist der Internationale Frauentag, dem zuerst viele Westukrainerinnen (warum wohl zuerst hier?) und dann immer mehr Frauen im Osten trotzig gegenüber gestanden haben.

Bis vor kurzem hat man noch in vielen sowjetischen und post-sowjetischen Ländern den Satz gehört: „Halt deinen Mund, Frau. Dein Tag ist der achte März.“ Wenn ich am achten März Blumen von Männern bekommen habe, war ich zu schwach zu widerstehen, habe „Danke“ gesagt und sie zu der örtlichen Marienstatue gebracht, um meine Schuldgefühle loszuwerden.

Dann hat sich die allgemeine Rhetorik verändert: aus dem Frauentag wurde das Frühlingsfest, und die sozialen Medien wurden mit „Schönes Frühlingsfest!“-Grußkarten überflutet. Trotz der Proteste ist es immer noch ein Feiertag für staatliche Unternehmen.

Als ich heute nach der Arbeit zum Zahnarzt gegangen bin, habe ich ein paar Männer und Frauen mit Blumen herumlaufen sehen. Zarte, hübsche Blumen inmitten der Trauer und Verdammnis des Krieges.

Der örtliche Markt, der teilweise abgerissen wurde um einem neuen Geschäftszentrum Platz zu machen, hat seine Arbeit wieder aufgenommen. Ich habe im Vorbeigehen ein paar Handyfotos von den Ruinen gemacht. Mama hat mich gebeten, ihr einen Rollkoffer zu besorgen.

Ein Mann, der Trolleys und Koffer verkauft, beschwerte sich: „Sie bringen keine Waren mehr aus Polen mit. Nur noch Panzerabwehrraketen kommen aus dem Westen.“ „Javelins?“, fragte ich. „Ja, Javelins.“ „Wie bringen sie sie dann hier her?“ „Über Land, in Lkw“, lachte er. „Wirklich? Sie sind zu groß.“

Andere Verkäufer, Frauen, die durch die Abwesenheit der Kunden offensichtlich gelangweilt waren, sagten: „Du bist eine Spionin, warum stellst du Fragen über Waffen? Warum hast du den Markt fotografiert? Letzte Woche sind Fremde hier her gekommen und haben die Ruinen gefilmt, um zu zeigen, dass die Russen das Gelände bombardiert haben. Und du sammelst militärische Informationen von uns und gibst sie an die Russen weiter. Warum stellst du Fragen über Javelins?“ „Ich habe das Gerede über Javelins doch gar nicht angefangen“, verteidigte ich mich, „ich habe einfach aus Höflichkeit die Konversation aufrechterhalten.“

Die Frauen haben mich eingekreist, mir mein Handy weggenommen, mich aufgefordert, meinen Ausweis zu zeigen und schließlich die Polizei gerufen. Natürlich hätte ich ihnen meinen Ausweis nicht geben sollen, denn sie hatten kein Recht, überhaupt Fragen zu stellen. Ich war zu schockiert, um vernünftig zu reagieren und war froh, als die Polizei kam, damit sie mich vor diesen offensichtlich verängstigten Frauen beschützen konnten.

Vor ein paar Wochen haben sich Gerüchte verbreitet, dass russische Eindringlinge an verschiedenen Orten der Stadt Zielmarkierungen malen, um die Angriffe einfacher zu machen. Selbst die Regierung hat empfohlen, nach solchen Leuten Ausschau zu halten und sie zu melden. Später hat sich das aber als Falschmeldung entpuppt und wurde offiziell dementiert. Aber die Angst war da.

Die Polizei kam und hat mich auf die Wache mitgenommen. Zum ersten Mal in meinem Leben. Die Beamten waren sehr nett und sagten, dass sie dem offiziellen Prozedere folgen müssen. Sie haben dann mein Handy und meinen Laptop durchgeschaut und eine Personenüberprüfung durchgeführt.

In ihren Augen sah ich die Entschlossenheit, zu gewinnen und nach einem netten kleinen Plausch bin ich gegangen, überzeugt von unserem Sieg.

Habe mich dafür entschuldigt, dass ich es nicht zum Zahnarzt geschafft habe.

  • Montag, 7. März

Meine Freunde geben der Reihe nach auf

Meine Freunde, die geschworen haben bis zum Ende zu bleiben, geben der Reihe nach auf und verlassen das Land. Meistens sind es die, die Kinder haben.

Ich bringe das noch nicht fertig. Erstens würde ich die Schuldgefühle nicht ertragen, nicht da gewesen zu sein als mein Land am verletzlichsten war. Zweitens würde es mir das Herz brechen, meine alte Mutter allein zu lassen. 

Und drittens… Meine Großmutter stammte aus der alten Stadt Belz, die vor dem zweiten Weltkrieg eine große jüdische Gemeinde hatte. Sie erzählte meiner Mutter immer Geschichten aus dem Krieg. Als dieser begann, mussten die armen Juden alles zurücklassen und viele schafften es zu flüchten. Doch den reichen fiel es schwer, ihren Besitz zurückzulassen, und sie hofften, im Austausch gegen Gold und Schmuck ihr Leben retten zu können.

Ich gebe es ungern zu, aber der dritte Grund, der mich am Verlassen des Landes hindert, ist sehr materiell: es sind Eigentum und Gegenstände, die meine Großeltern, Eltern, Michael (Anmerkung: Michael ist ihr Freund, den sie bald heiraten will) und ich uns hart erarbeitet haben.

Es gibt immer noch die schwache Hoffnung, dass den Russen ihre Bomben und Soldaten ausgehen, bevor sie so weit westlich wie nach Lwiw kommen. Trotzdem werden ungefähr 15 Millionen die Ukraine in einer Massenflucht verlassen.

Ein mit Panzern beladener Zug ist vorbeigefahren. Ich kann nicht glauben, dass noch am vorletzten Mittwoch ein prekärer Frieden geherrscht hat und ich für einen Sportkurs ins Fitnessstudio gegangen bin. Heute ist das Fitnessstudio eine temporäre Zufluchtsstätte.

  • Sonntag, 6. März

Die Schlinge zieht sich Tag für Tag enger zu

Ich bin zu der Datsche außerhalb von Lwiw gefahren, um nachzuschauen, ob sie schon geplündert wurde. Das war zum Glück nicht der Fall. Wir haben sie erst letztes Jahr gekauft und den Kredit dafür noch nicht abbezahlt, es wäre eine große Schande, wenn sie zerstört würde. Im Keller waren immer noch Vorräte und in der Garage lag eine Axt. Puh! Der nahegelegene Wald hat tiefe Schluchten, wo wir uns im schlimmsten Fall verstecken können.

Die Kontrollposten an jeder Kreuzung außerhalb der Stadt sind beruhigend und angsteinflößend zugleich. Viele Autos sind unterwegs, vielleicht die Hälfte davon mit Kennzeichen außerhalb des Verwaltungsbezirks Lwiw. Manche fahren zur Grenze, manche nach Lwiw, andere kommen von der Grenze. Letztere sind Männer, die ihre Frauen, Mütter, Schwestern und Kinder zur Grenze gebracht haben und zurückkommen. Kontrollposten, Ausgangssperre. Die Schlinge zieht sich Tag für Tag enger zu.

Am Nachmittag musste ich in meine Wohnung, um die Pflanzen zu gießen und etwas Kleidung und Ausrüstung mitzunehmen. Ich bin nicht mit dem Auto gefahren um das wertvolle Benzin zu sparen, das den meisten Tankstellen schon ausgegangen ist. In der nächsten Zeit kam kein Bus, weshalb ich ungefähr fünf Kilometer zum Bahnhof gelaufen bin, um eine Straßenbahn zu erwischen.

Eine Familie mit einem kleinen Kind kam an mir vorbei, die Mutter versuchte das Kind zu überreden, seine Schulbücher wieder zu öffnen: „Die Schule wird wieder beginnen, der Krieg wird zu Ende gehen… du musst den Stoff wiederholen, damit du dafür bereit bist.“

Am Bahnhof. Tausende verzweifelte Frauen mit Kindern - Männer dürfen nicht evakuiert werden – Züge, Hunde, Katzen und andere Haustiere. Manche haben 20 Stunden im Zug aus dem Osten gestanden und jetzt sind sie übermüdet und benommen, die Kinder schlafen auf dem Boden. Die meisten werden nach Polen weiterreisen. Um vier Uhr nachmittags waren schon fünf Evakuierungszüge weg. Wie viele werden heute noch abfahren? Niemand weiß es.

Für die Evakuierten gibt es keine Informationen am Gleis. Nur ein paar Betrüger bieten für viel Geld Mitfahrgelegenheiten nach Polen an. Unglaublich. Info-Zentren gibt es außerhalb des Bahnhofs, aber der Weg zum Bahnhofsvorplatz ist nicht ausgeschildert. Verdammt noch mal. Die Leute sind hungrig, müde, und haben keine Ahnung, dass es ein paar hundert Meter weiter Gratisessen für sie und ihre Haustiere, Kleidung, gratis Bustransfers ohne Warteschlangen zur Grenze, und Unterbringungsmöglichkeiten in Lwiw gibt. Eine Weile habe ich den Leuten den Weg gewiesen, dann konnte ich kein Wort mehr sagen, weil ich nur noch geweint habe.

Ich habe mir vorgenommen, eine Broschüre für die Ankommenden zu erstellen und am Bahnhof zu verteilen. Zu Hause habe ich einer Nachbarin ein Päckchen Walnüsse angeboten. Wir hatten letztes Jahr eine reiche Ernte und Walnüsse sind nahrhaft genug, um einen vor dem Verhungern zu bewahren.

Wir haben hauptsächlich über den Krieg gesprochen, die Nachbarin hat geweint. „Mein Sohn ist gerade achtzehn geworden, er wird Kanonenfutter sein… Solomia, liebst du deinen Freund Michael? Wenn ja, bitte verlass das Land bevor es zu spät ist, ich flehe dich an. Du bist eine Intellektuelle, es gibt nicht viele von deiner Sorte in diesem Land. Du kannst später zurückkommen und es wieder aufbauen.

Bitte versprich mir, dass du so bald wie möglich zu Michael gehst, wir können die Besten unserer Nation nicht einfach sterben lassen…“ Ich musste ihr versprechen, dass ich gehe. Ich habe es nicht mehr vor der Ausgangssperre zu meiner Mutter geschafft, weil wieder mal keine Busse gefahren sind. Fühle mich erschöpft.

  • Samstag, 5. März

Wenn der Alltag ruft und keine Antwort bekommt

Heute sind die Sirenen nur einmal losgegangen, was bedeutet, dass heute nur einmal russische Raketen oder Luftangriffe auf die Region gerichtet waren. Das Monster ist viel zu beschäftigt damit, den Osten zu zerstören.

Ab und zu bilden wir uns ein, dass wir die Sirenen hören würden, und eilen ans Fenster, um zu sehen was los ist.

Während meines fünfstündigen Zahnarztbesuches hatte ich heute mehr als genug Zeit, mir um alles Gedanken zu machen. Die fünf Stunden beinhalten auch anderthalbstündiges Gehetze durch die Stadt, um eine Praxis zu finden, die eine Röntgenaufnahme von meinen Zähnen machen konnte. Normalerweise hätten die Kliniken an einem Samstag viel zu tun, aber nicht in diesen unsicheren Zeiten.

Nach einer unbequemen Erfahrung mit traurigen Konsequenzen, die ich während meines Auslandsstudiums in Großbritannien mit dem Zahnarzt machen musste, halte ich jeden ukrainischen Zahnarzt für einen Gott. Sie versuchen nicht, die kurze Zeitspanne bei den Terminen einzuhalten, sondern sie lassen sich Zeit, und es ist ihr ganzer Stolz, auch den verfaultesten Zahn zu retten.

Ein Blick in den Spiegel, ein Lächeln mit einer riesigen schwarzen Lücke zwischen den sonst strahlend weißen Zähnen – und eine 50-jährige, erschöpfte Bauersfrau blickt mich an. Seit dem 24. Februar werde ich jeden Tag ein bis zwei Jahre älter. Ich kann nicht glauben, dass ich vor ein paar Jahren noch meinen Ausweis vorzeigen musste, wenn ich Alkohol kaufen wollte.

Traurigerweise gibt es keinen Fortschritt bei dem Versuch, Fischernetze oder Stoffe aus Polen zu bekommen. Ich fühle mich nutzlos. Die örtlichen Freiwilligen sagen, dass es genug Essen, Kleidung und Spielzeuge gibt. Jetzt brauchen wir Medikamente, kugelsichere Westen, Helme, Taschenlampen, Schaumstoffmatten, Armeestiefel und so weiter. Und, natürlich, Fischernetze und Stoff, um Tarnnetze herzustellen!

Die Altstadt von Lwiw ist momentan ein sicherer Hafen für Flüchtlinge, die hier einen Zwischenhalt einlegen bevor sie weiter nach Westen gehen, und ein Sammelplatz für die Freiwilligen. Große und kleine Geschäfte bieten große und kleine Gesten der Freundlichkeit an.

Wir können Leid und Frustration nicht mehr in Alkohol ertränken, denn am 1. März ist eine Prohibition in Kraft getreten. Das Spirituosengeschäft am Marktplatz macht zwei Ankündigungen: „Alkoholverkauf verboten“ und „Gratis Suppe und Tee für das Militär, Frauen und Kinder.“

Die majestätische Architektur von Lwiw erwartet das Schlimmste. Selbst die beiden Weltkriege haben diese über 750 Jahre alte Stadt verschont, und bald ist sie vielleicht für immer fort. Die Russen verschonen auf ihrem Weg nichts. Seit mehr als zehn Jahren habe ich meine Leidenschaft für Lwiw mit Touristen geteilt und dafür gekämpft, dass jedes noch so kleine Stück der alten Architektur vor dem Abriss durch die ortsansässigen Neureichen bewahrt wird. Wenn die Stadt jetzt zerstört wird, wäre das gleichbedeutend mit meiner Zerstörung.

Die 400 Jahre alte griechisch-katholische Kirche „St. Peter und Paul“ ist eine beständige Erinnerung daran, dass der Krieg bereits 2014 angefangen und täglich Opfer gefordert hat. Die Soldaten, der Kaplan, Heiligenbilder und das Kreuz aus Birkenholz haben wie durch ein Wunder eine schwere Attacke auf das Militärcamp im Verwaltungsbezirk Luhansk überlebt. Wir haben die Welt seit 2014 vor Putin gewarnt.

  • Freitag, 4. März

Wenn es Zeit wird, sich Gedanken über Langzeitfolgen zu machen

Heute Abend haben Psychologen angefangen davor zu warnen, dass im Krieg erst die Euphorie und dann die totale Erschöpfung kommt. Wir steuern wohl auf diese Phase zu. Letzte Nacht habe ich mich dazu entschieden, wieder arbeiten zu gehen, selbst wenn es nur für einen Tag ist, um vor der Realität zu flüchten. Wenn man pro Tag nur vier Stunden schläft, sind die Energiereserven irgendwann erschöpft. Und selbst dieser Schlaf wird oft abrupt unterbrochen, wenn die Sirenen heulen und wir schnell in den Bunker müssen.

Krieg oder nicht, manchmal kommt der Zeitpunkt, an dem man einen Hahn töten muss. Frau Vira, eine Bäuerin aus einem nahegelegenen Dorf, war heute Morgen schon um halb acht mit dem frisch geschlachteten Vogel auf dem Markt. Lang mögen diese unermüdlichen alten Damen leben! So lange es sie noch gibt, werden wir überleben.

Als ich das Treppenhaus hinunterging, konnte ich starkes und zugleich elegantes Parfüm riechen. Es ist beruhigend, dass Frauen selbst in Krisenzeiten nicht den Kopf hängen lassen. Wie sehr ich mir wünsche, dass ich genauso stark wäre… Das Büro in der Firma war leer, bis auf fünf Leute in dem ganzen großen Raum. Trotzdem ist es den Gang ins Büro wert, selbst wenn es nur ist, um auf die Stadt zu blicken: rechts sind mehrere, an große Schlangen erinnernde Reihen von Zügen, links befindet sich ein Friedhof. Die Züge sind zum Symbol der Hoffnung geworden, und wenn diese Hoffnung fort ist, kommt die Zeit, um in Frieden zu ruhen...

Die Kollegen, die an den Telefonkonferenzen teilnehmen, finden es fast unmöglich, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Trotzdem geben sie zu, dass selbst der praktisch nutzlose Versuch, ein bisschen Arbeit zu erledigen, dabei hilft, nicht verrückt zu werden. Auch die Unterstützung unserer britischen Projektpartner hält die Stimmung hoch. Am Ende haben Arbeit und Sorgfaltspflicht den Kampf aber verloren und ich verbrachte den größten Teil des Tages damit zu versuchen, kaputte Fischernetze und die benötigten Stoffe aus Polen in die Ukraine zu bekommen, damit die Anwohner weiter Tarnnetze daraus knüpfen können. Ich halte die Finger gekreuzt, dass der Plan funktioniert.

Es ist schon 14 Stunden her, dass mein Facebook-Freund, ein Dichter und Rapper aus der zurzeit heftig bombardierten Stadt Bucha nahe Kiew, zum letzten Mal etwas gepostet hat: „Warum haben die uns verlassen? Sind wie Kiews Schutzschild, oder was? Leute aus Kiew, rettet BUCHA… TUT ETWAS!“ Aufgrund von gesundheitlichen Problemen konnte er der Armee und der Territorialverteidigung nicht beitreten. Die letzte Woche über war er gezwungen, sich in seinem und dann – nachdem er zerstört wurde – im Keller seines Nachbarn zu verstecken. Ich hoffe, es hat einfach nur einen Stromausfall gegeben und der Akku seines Handys ist leer.

Die Russen erlauben keine humanitären oder Rettungsmissionen in den eingeschlossenen Dörfern und Städten. Was für Barbaren.

Es gibt keine Flugverbotszone über der Ukraine und sie sagen, das Schlimmste kommt erst noch.

Wenn sie es nicht schaffen, die Ukraine zu erobern, werden die Russen sie niederbrennen. Nach der Eroberung des Atomkraftwerks in Tschernobyl und dem irrsinnigen Angriff auf das in Saporischschja heute überrascht mich gar nichts mehr. Immerhin haben sie noch um die 400 Flugzeuge und 200 Hubschrauber an der Grenze zusammengezogen. Ein verrückter Gedanke ist mir in den Kopf gekommen: vielleicht ist die Ukraine ein notwendiges Opfer, damit das Gute am Ende siegt?

  • Donnerstag, 3. März

Vom Frühling, Tarnnetzen und Zähnen

Der dritte Tag des Frühlings: Die Tage sind kalt, die Nächte noch kälter. In Friedenszeiten hatte ich die neurotische Angewohnheit, mindestens zehnmal täglich die Wettervorhersage zu checken und zu hoffen, dass sie sich zum Besseren wenden würde.

Heute habe ich die Wettervorhersage zum ersten Mal seit der Invasion angesehen. Wenn sie richtig liegt, erwarten wir in zwei Wochen echtes Frühlingswetter. Mir ist gerade bewusst geworden, dass der Frühling hier sein wird, selbst wenn ich es nicht mehr bin. Dieser Gedanke hat mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert: Es ist gut zu wissen, dass es Phänomene gibt, die über das kurze und flüchtige menschliche Dasein hinausgehen.

Letzte Nacht ist es mir schwergefallen, selbst für eine kurze Zeit einzuschlafen, denn gestern kam mir spontan die Idee in den Kopf, auch in der Schule gegenüber ein Tarnnetz zu knüpfen. Die Schuldirektorin fand die Idee gut und wir vereinbarten ein Treffen für zehn Uhr morgens am nächsten Tag.

Ich machte mir Sorgen, weil wir noch die Materialien besorgen mussten, und die sind im Moment nur schwer aufzutreiben. Ich habe quer durch Lwiw danach gesucht, besonders nach Netzen (Fischernetze eignen sich am besten), aber ich konnte nichts finden. Alle Netze sind weg. Um zehn Uhr morgens waren Schüler, Frauen und selbst die Schuldirektorin schon damit beschäftigt, Stoffe zu zerreißen. „Das ging schnell!“, dachte ich. Wir sollten den Prozess ja nur in Gang bringen!

Jemand hatte schon einen ganzen Transporter voll mit Stoffbahnen exzellenter Qualität vorbeigebracht. Das kam überraschend, denn Baumwolle in den passenden Farben und Farbtönen ist in letzter Zeit schwer zu finden. Wir hatten allerdings kein Netz, also nahmen die Männer das Netz vor den Fenstern der Schulturnhalle ab und brachten es in Form. Idealerweise sind die Maschen der Tarnnetze etwa vier mal vier Zentimeter groß – unsere waren ungefähr zehn mal zehn, aber andere Gruppen haben uns gezeigt, wie man die Netze engmaschiger machen kann.

Die Schule hat Flüchtlinge willkommen geheißen. Heute sind ein paar davon aus der kleinen Stadt Boyarka nahe Kiew angekommen. Darunter war auch eine Frau mit vier ihrer Kinder. Das fünfte, ein 23-jähriger Sohn, ist in Kiew geblieben, um das Heimatland zu verteidigen. Der Dame fiel die Entscheidung schwer, ob sie noch ein wenig länger in Kiew bleiben sollte (vielleicht bis zu unserem Sieg), oder ob sie auf direktem Weg nach Italien geht, um dort ein neues Leben zu beginnen.

Heute Morgen ist mir ein halber Zahn abgebrochen. Da meine Zähne mir sehr wichtig sind, würde ich normalerweise in Panik verfallen. Aber jetzt dachte ich nur: „Ist dann eben so.“ Ich hatte Schmerzen, trotzdem zögerte ich, meinen Zahnarzt anzurufen, denn ich dachte: „Warum mache ich mir Gedanken um einen nutzlosen Zahn, wenn mein Land sich im Krieg befindet und die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass so viele von uns in den nächsten Wochen sterben?“

Am Abend rief ich den Zahnarzt aber dann doch an und überraschenderweise hatte er sofort einen Termin frei: Zahnarzt am Tag, freiwilliger Territorialverteidiger bei Nacht. Instinktiv versuchte ich mir einzureden, dass es gar keinen Krieg gab und die Leute einfach ihr Leben weiterlebten und normalen Routinen folgten.

Tatsächlich war in der Innenstadt alles ruhig, als ob gar nichts Schlimmes passieren würde. Ich konnte wieder einmal die wunderschöne Architektur des UNESCO-Weltkulturerbes bewundern, aber ich befürchte gleichzeitig, dass sie bald durch einen weiteren barbarischen Luftangriff zerstört wird.

Was persönliche Bedürfnisse angeht, erwarte ich nicht viel vom Leben, nur dass wir es schaffen durchzuhalten und dass ich nächste Woche meinen Zahn überkront bekomme.

Wenn ich mir die Videoaufnahmen von Bombardierungen in anderen Teilen der Ukraine ansehe, kann ich mir kaum vorstellen, wie hart es für bettlägerige Menschen sein muss, die ihre Häuser bei den Luftangriffen nicht verlassen können und bei lebendigem Leib verbrennen. Während der letzten Tage habe ich immer wieder daran gedacht, wie froh ich bin, dass mein bettlägeriger Vater vor zwei Jahren gestorben ist und nicht in seinem Bett von einer russischen Bombe getroffen wird.

  • Mittwoch, 2. März

Wer hätte gedacht, dass ich jetzt alles über Waffen lernen muss?

Kampfszenen in Filmen, Krieg und Waffen waren noch nie mein Ding, und ich habe die Ausstellungen über Waffen in Museen immer übersprungen. Wer hätte gedacht, dass ich jetzt alles über mit Raketen bestückte Boote, Flugabwehrgeschütze, selbstfahrende Luftverteidigungssysteme, Vakuumbomben und so weiter lernen muss?

Immer mehr Frauen und Kinder in der – bisher sicheren – Westukraine knüpfen Tarnnetze. Aber anscheinend haben nicht alle vernünftig beigebracht bekommen, wie man das macht, denn sie verarbeiten auch synthetische Stoffe, die sich nicht gut für die Tarnung eignen.

Während einige Leute Lwiw in eigens dafür eingesetzten Zügen und Bussen über die polnische Grenze verlassen, kommen aus dem Osten neue an. Freiwillige haben Suppenküchen, Informationszentren und so weiter organisiert – für die, die ankommen und für die, die gehen. Von letzteren werden keine Pässe oder Impfnachweise für Haustiere mehr verlangt, und glücklicherweise nehmen die meisten ihre Haustiere mit.

Ein Mann hat gerade ein Klavier gespendet, mit dem Leute am Bahnhof musizieren und dadurch die Motivation aufrechterhalten können. Klaviere inmitten des Chaos sind zu einem Symbol für uns geworden, wie dieses berühmte Klavier auf dem Maidan-Platz 2014.

Andere Züge fahren in Richtung Osten, vollgepackt mit humanitären Hilfsgütern. Viele internationale Journalisten und Reporter sind in Lwiw, sie trauen sich aber nicht, weiter ostwärts zu gehen, weil die russischen Truppen keine Reporter durchlassen.

  • Dienstag, 1. März

Eine große Enttäuschung

Der erste Tag des Frühlings. Es werden weiter Tarnnetze geknüpft. Momentan gibt es mehr Freiwillige als Rahmen und Fischernetze, die als Basis benutzt werden. Das Ganze erinnert an das alte Ritual, als die Frauen ihre Abende noch damit verbrachten, Garn zu spinnen und Kleidung zu weben, während sie plauderten um sich die Zeit zu vertreiben. Es ist verständlich, dass es gerade psychisch sehr anstrengend ist, zu Hause zu bleiben, denn dort ist man immer in Versuchung, ohne Pause durch die Nachrichtenmeldungen zu scrollen und Trübsal zu blasen. Sich in der Gemeinschaft aufzuhalten und eine gemeinsame Sache zu unterstützen, hebt die Stimmung der Menschen.

Weniger Leute suchen Schutz im Bunker, wenn die Sirenen heulen, denn nach den ersten drei Tagen hat sich die Lage in Lwiw etwas beruhigt. Seit Sonntag wurden keine Raketen mehr auf die Westukraine gerichtet, keine Truppen der Luftwaffe haben versucht zu landen, feindliche Aufklärung und Spione werden schnell von der Territorialverteidigung entdeckt, die aus Freiwilligen besteht.

Die große Enttäuschung des Tages: Der Geschäftsführer der großen internationalen IT-Firma, für die ich arbeite – notiert an der New Yorker Börse – hat verkündet, dass er die Invasion nicht offiziell verurteilen wird. Das Unternehmen spendet kein Geld an die Armee, sondern nur an das Rote Kreuz; es wird seine Niederlassungen in Russland und Belarus nicht schließen. Auch die bestehenden Verträge mit russischen Kunden, darunter Sberbank und VTB, die gerade von amerikanischen Sanktionen betroffen sind, werden nicht geändert.

  • Montag, 28. Februar

Putin dachte, er würde in der Ukraine eine Militärparade feiern

Die Sirenen sind heute nur einmal gegen 9 Uhr morgens an gewesen. Ich ging gerade nach Hause vom Netzeknüpfen. Normalerweise würde ich nicht in Panik geraden, aber alleine auf der dunklen Straße? Ich bin gerannt, hektisch.

Die Ukrainer sind wütend, der Schock des Krieges ist längst verflogen. Sie sind wütend. Putin hatte gehofft, er könnte die Ukraine mit seinen Luftangriffen einschüchtern. Mit den Angriffen auf die Militärbasen im Land. Und er hatte gehofft, dass seine Armee eine glorreiche Parade durch unser Land feiert. Sie dachten, es würde nur zwei Wochen dauern, die Ukraine einzunehmen.

Aber wir wehren uns.

Ein Priester in einer lokalen Kirche gibt jetzt einen Kurs, wie man Molotov-Cocktails baut. Die Geist meiner Leute gibt Mut. Ich wurde nur noch kämpferischer als ich die Nachricht von einem italienischen Freund bekam, der jetzt in den USA lebt: „Solomia, wie geht es dir? Ich habe von dem Konflikt in der Ukraine gehört und ich habe mich gefragt, wie die Lage bei dir ist? Sind du, Michael und deine Familie okay?“

Meine Antwort: „Danke für deine Nachricht und deine Sorge. Ich würde sagen, die Lage ist weit mehr als ein Konflikt. Wir erleben hier eine großangelegte Invasion durch Russland und einen Massengenozid der Bevölkerung. Michael war gezwungen zu flüchten, für Ausländer wie ihn war die Situation zu gefährlich. Wir beten beide, dass der Krieg endet. Wir beten, dass die Ukraine siegen wird. Und Michael schnell nach Hause kommen kann. Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen kann.

Es sind die dunkelsten Tage.

In den sicheren Stunden knüpfe ich Tarnnetze und während der Luftangriffe bleiben wir in Bunkern.

Wir werden durchhalten. Das ganze demokratische System der Welt steht auf dem Spiel. Und hier, auf unseren Schultern.“

  • Sonntag, 27. Februar

Ich werde das Land nicht verlassen, was auch immer passiert

Der erste Schock ist vorbei, die Wut wächst. Im Westen des Landes sind wir uns nun auch sicher, dass Kiew fallen wird. Putin wird auch hierher kommen. Und er wird vermutlich noch weiter gehen.

In Kirchen haben Frauen Tarnnetze für die ukrainischen Verteidiger geknüpft, schon seit 2014. Und jetzt kommen immer mehr Freiwillige, wenn die Not größer wird. In den vergangenen Tagen haben sie dunkle Tarnnetze geknüpft, aber jetzt gibt es Wetterberichte, dass Schnee fallen soll. Die Tarnnetze werden heller.

In der Herz-Jesu-Kirche in Lwiw helfen ungefähr 30 Frauen und Kinder beim Netzemachen. Sie helfen den Geflüchteten, die hier von Tag zu Tag ankommen. Sie versorgen die Armee, während die Männer Molotov-Cocktails bauen. Die Sirenen waren nur einmal kurz an, ein kurzer Aufenthalt im Luftschutzbunker.

Und nein, ich werde das Land nicht verlassen, was auch immer passiert.

  • Samstag, 26. Februar

Genervt von den Nachrichten aus dem Westen

Das Leben geht weiter. Bauern, die Milchprodukte für Kioske und Supermärkte liefern, kommen an. Und doch sind die Straßen leer. Überall gibt es jetzt Checkpoints aus Betonblöcken, Sandsäcken, Reifen.

Die Nachbarschaft hat gefordert, dass der gemeinschaftliche Luftschutzbunker mehrmals am Tag geräumt wird, wenn die Sirenen ausgehen.

Ich bin genervt von den Nachrichten aus dem Westen: „Kiew wird fallen“. „Die Ukraine gibt auf.“ Und so weiter.

Tatsächlich sind wir organisierter und kämpferischer als je zuvor. Wir sind temperamentvolle Leute, und ihr legt euch besser nicht mit uns an. Ich bin mehr denn je überzeugt, dass der Westen nicht nur Bilder von Kindern in Bunkern zeigen sollte, sondern eine tiefe Analyse schreiben sollten, warum dem Sohn eines KGB-Veterans der „London Evening Standard“ gehört (Anm. d. Red: Evgeny Lebedev).

  • Freitag, 25. Februar

Wenn die Sirenen heulen

Ein kleine Runde durch die Nachbarschaft. Keine Panikkäufe mehr, leere Straßen, hungrige Straßenkatzen. Ich habe mir den Keller angeguckt, in dem ich Zuflucht finden kann, wenn die Sirenen vor Flugangriffen warnen. Betonhäuser fallen bei Bomben- und Raketenangriffen wie Kartenhäuser zusammen, das hat keinen Sinn, sich dort zu verstecken.

Die meisten Nachbarn, die noch nicht die Stadt oder das Land verlassen haben, bleiben trotzdem in ihren Wohnungen, wenn die Sirenen verstummen. Das Stadtzentrum ist leer, nur eine kleine Schlange vor einem Laden, der alkoholische Getränke verkauft.

Das Backsteinhaus meiner Mutter ist stabiler. Die Leute rennen zu ihr, wenn die Sirenen heulen.

  • Dienstag, 24. Februar

Sie haben angegriffen

In den letzten Nächten konnten weder mein Freund noch ich gut schlafen. Wir haben einfach nur Nachrichten gelesen und gehört, alle paar Stunden. An diesem Morgen bin ich um 5 Uhr aufgewacht, habe meinen Freund angeguckt, der schon längst wach war und mich gehalten hat.

Sie haben angegriffen.

Aber an diesem Punkt war es keine Frage mehr, ob sie es tun, sondern nur wann.

Meine Mutter hat mir unzählige, beeindruckende Geschichten erzählt, wie die Sowjets das Leben von Familien in Sibirien zerstört haben. Im Exil, als mentale und physische Folter. Ich habe all diese Geschichten gesammelt, habe mir alte vergiblte Familienfotos angeschaut und dachte: Es ist vorbei. Lasst uns lieber an die Zukunft denken, die Ukraine ist jetzt ein freies Land, es gibt keine direkte Bedrohung.

Mein Freund Michael hat überlegt, die Ukraine für ein paar Tage zu verlassen. Er könnte zurück zu seinen Eltern nach Großbritannien gehen, sagt er. Sein Herz hat ihm gesagt, zu bleiben, während sein Gehirn flüsterte: „Hau so schnell ab wie möglich“. Wir haben Sorge, dass er als britischer Spion gilt, wenn die Russen hier ankommen. Sorge, dass er gefoltert wird.

Ohne weitere Verzögerung bin ich ins Internet gegangen und habe ihm zwei Zugtickets gebucht, von Lwiw nach Przemysl, eine Stadt an der Grenze. Überraschenderweise waren noch nicht viele Sitze reserviert.

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Wahrscheinlich haben die Menschen das Ausmaß dieser künftigen Tragödie noch nicht verstanden.

Wir haben weiter Nachrichten geguckt, haben aus dem Fenster geschaut. Einige Nachbarn fuhren eilig davon. Vermutlich in ländlichere Regionen, die als sicherer gelten. An den Kiosken drängten sich die Menschen, um das Nötigste zu bekommen. Das Leitungswasser ist okay, aber viele bevorzugen das Gefilterte.

Doch kurz bevor wir losgehen wollten, sagte Michael, dass er nirgendwohin gehen will. Aber ich konnte ihn überzeugen, zumindest zum Bahnhof zu gehen und dann zu schauen, wie die Dinge weiterlaufen. Er hat nur seinen Pass und seinen Laptop gegriffen.

Als wir losfuhren, waren die Straßen verstopft, wir haben das Auto stehen gelassen und sind mit einer Straßenbahn weitergefahren.

Der Zug kam zu spät. Erst zwei Stunden, dann zweieinhalb, dann drei, vier. Wir hatten Sorge, dass er aus Kiew ankommen würde. Der Hauptstadt, in der die Bomben fielen.

Als er endlich ankam, drückte meine Mutter Michael in den Zug aus Sorge, er würde sonst nicht gehen und fliehen können. Natürlich habe ich an diesem Tag nicht gearbeitet, auch wenn ich keinen Urlaub genommen habe. Ich hatte Angst und Wut, dass der Krieg zu uns kommen würde.

Kurz bevor wir heiraten wollen. Am 19. März. Ich glaube, es wird immer unwahrscheinlicher.

  • Mittwoch, 23. Februar

Acht Jahre Krieg – und nichts gelernt?

Männer werfen alte Möbel auf eine Wiese zwischen meinem Wohnblock und einer Schule in Lwiw.

Ich frage sie: „Warum macht ihr aus dem Rasen eine Müllhalde?“

Sie antworten knapp: „Wir wurden angewiesen, den Keller der Schule zu räumen.“

Ich: „Aber warum hier? Hättet ihr nicht ein Fahrzeug für die Möbel organisieren können? Das wird hier eine Müllhalde. Ich rufe die Stadt-Hotline an.“

Sie: „Die werden schon irgendwann einen Transporter für die Möbel schicken. Aber solang werde ich die Stadt-Hotline für Sie rufen, Sie stören hier unsere Arbeit.“

Ich habe dann Fotos gemacht und bin gegangen. Dabei dachte ich darüber nach, dass unsere Luftschutzbunker und Keller immer bereit sein sollten für Notfälle, nicht nur, wenn es Anweisungen von oben gibt. An diesem Punkt war ich einfach nur wütend, dass wir aus acht Jahren Krieg nichts gelernt haben.

Disclaimer: Der vollständige Name von Solomia K. ist der Redaktion bekannt. Wir verzichten darauf, sie im Foto zu zeigen, um sie vor Angriffen zu schützen. Alle Darstellung sind aus Solomias Tagebuch übersetzt und sollen vor allem ihre subjektive Sicht wiederspiegeln.

Übersetzt aus dem Englischen von Martin Böhmer und Carolin Raab, in Zusammenarbeit mit Stefan Corssen.

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