Krisen-KanzlerUkraine, Gas, Inflation – Ist Olaf Scholz all dem gewachsen?

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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).

Berlin – Dienstag, 18.40 Uhr, Berlin-Wannsee. 600 Genossen, Journalisten und Lobbyisten drängeln sich auf der „Havelqueen“, warten auf das Ablegen zur traditionellen „Spargelfahrt“ des Seeheimer Kreises. Zum ersten mal seit fast 20 Jahren ist wieder ein SPD-Kanzler an Bord. Unter Deck ergreift Olaf Scholz das Wort: „Dass Russland seine Truppen zurückzieht, dass die Ukraine ihre Freiheit zurückerhält: Alles, was wir tun, ist darauf ausgerichtet.“

Wenige Stunden zuvor hatte SPD-Chef Lars Klingbeil auf dem Festland eine bemerkenswerte Rede gehalten. „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben“, sagte er auf der Tiergarten-Konferenz. „Deutschland steht immer mehr im Mittelpunkt. Wir sollten diese Erwartungen erfüllen.“ Kritisierte der Parteichef da etwa die Führungsschwäche des eigenen Kanzlers?

Auf der „Havelqueen“ sitzt Klingbeil drei Meter vor dem Rednerpult, an dem Scholz seinen Kurs erklärt. Nein, heißt es später von den SPD-Spindoktoren, um Scholz-Kritik gehe es dem Vorsitzenden auf keinen Fall: um ein Wachrütteln der eigenen Partei, den Anstoß einer Debatte, den Blick in die Zukunft.

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Ein Getriebener

Aber irgendwie ist doch eine ziemliche Ernüchterung zu spüren. Einer aus dem Führungszirkel der Partei hält die Vorwürfe, Scholz laviere sich durch den Krieg, nicht für ganz unbegründet. Als Scholz seine Rede beendet, klingt der Beifall eher pflichtschuldig. Um 19.15 Uhr verlässt er das Schiff. Die „Havelqueen“ legt ohne Kanzler ab.

Der Vorwurf des Zauderns fokussiert sich auf die Frage, ob Deutschland genug Waffen an die Ukraine liefert, um den russischen Angriff abwehren zu können. Dass er entstand, hat zwei Gründe: Wochenlang kam Scholz mit neuen Argumenten um die Ecke. Wir haben nichts. Wir wollen keine Alleingänge. Wir dürfen keinen Atomkrieg riskieren. Zugleich wurden die flehentlichen Hilferufe aus Kiew aus den eigenen Ampel-Reihen befeuert.

Scholz vollzog schließlich die Wende. Am 1. Juni versprach er in seiner ersten feurigen Bundestagsrede die Lieferung von schwerem Gerät. Am 7. Juni warf er in Vilnius beim Treffen mit seinen baltischen Kollegen seine bisherige Position zumindest rhetorisch völlig über den Haufen. Deutschland, sagte er, liefere „am meisten Waffen von allen“. Die am Dienstag veröffentlichte Liste über wirklich Geliefertes und das, was schon in der Pipeline liegt, belegt wiederum etwas anderes: Deutschland ist bei Waffenlieferungen weder ganz vorne dabei noch Schlusslicht.

Mitmachen statt vorpreschen: Vieles spricht dafür, dass das genau der richtige Weg ist. Scholz hat seinen Amtseid darauf geleistet, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, nicht vom ukrainischen. Und jeder Tag, den Russland Präsident Wladimir Putin den Gashahn nicht komplett zudreht, ist für die Wirtschaft ein gewonnener Tag. Aber: Wenn Russlands Truppen die ukrainischen Linien im Osten durchbrechen und Richtung Kiew marschieren, wird der Vorwurf im Raum stehen, der Kanzler sei mitverantwortlich.

Erschöpfung nach Kiew-Reise

Der Abend des 16. Juni: Scholz steigt mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Kiew in den Zug zurück nach Westen. Auf der Fahrt trinken beide gemeinsam „bis zu zwei Flaschen Rotwein“, heißt es aus gut informierten Kreisen. Beim anschließenden Gespräch mit Journalisten sei Scholz recht wortkarg gewesen, berichten Mitreisende. Erschöpft habe er gewirkt, aber auch erleichtert. Er ist also ein Mensch und kein Hochleistungsroboter.

Die Reise wurde als „Befreiungsschlag“ gewertet. Endlich fuhr der deutsche Regierungschef in das kriegsversehrte Land, machte sich in Irpin ein Bild von der Vernichtung, erlebte die „Zeitenwende“ hautnah. Neben der überfälligen Solidaritätsgeste gab Scholz der Ukraine ein Versprechen ab: Ja, er werde sich dafür einsetzen, die Tür zur EU zu öffnen. Das attackierte Land soll Mitglied werden! Auf dem heute beginnenden EU-Gipfel soll Kiew den Kandidatenstatus erhalten.

Ein Beitritt wäre wahrlich historisch. Aber ob das gelingt, zeigt sich im vermutlich Jahrzehnte dauernden Annäherungsprozess. Dass Scholz in der Beitrittsfrage „Führung“ lieferte, kann bezweifelt werden. Erst nach Telefonaten mit vielen EU-Kollegen am Wochenende vor der Reise rang er sich zum „Ja“ zum Kandidatenstatus durch, getrieben von der nüchternen Einsicht, sein „Nein“ würde gravierenden politischen Schaden anrichten. Auch hier also eher Mitlaufen statt Anführen.

Was Scholz sehr früh erkannt hat: Es geht bei diesem Krieg nicht „nur“ um die Ukraine und Europa. Für Asien, Afrika und Südamerika ist der angegriffene Staat sehr weit weg, ein politisch eher unwichtiges Land, aber als Getreidelieferant von fundamentaler Bedeutung. Und es gehört zu Putins zynischer Agenda, daraus Kapital zu schlagen. Der Kreml-Chef will die von ihm verursachte globale Ernährungskrise nutzen, seinen Einfluss in ärmeren Ländern noch zu stärken.

Erfolg in Elmau?

Mit „seinem“ G-7-Gipfel von Sonntag bis Dienstag in Elmau will Scholz dagegenhalten. Die Einladung von Indonesien, Indien, Argentinien, Senegal und Südafrika ist der Versuch, eine Spaltung West gegen Ost und Süd zu verhindern. Gerade drei der sogenannten Brics-Staaten, die traditionell mit Moskau zusammenarbeiten, nach Elmau zu holen sei eine „strategische“ Entscheidung, sagt der Kanzler in seiner Spargelfahrt-Rede. Dass Scholz die globale Perspektive einnimmt, ist ihm hoch anzurechnen. Der G-7-Club war viel zu lange mit sich selbst beschäftigt. Wenn es Scholz gelingt, das in Elmau zu korrigieren, wäre das ein enormer Erfolg.

Die Inflation bei steigenden Zinsen und die Energiekrise türmen sich ja auch bei uns zu gewaltigen Problemen auf. Robert Habeck und Christian Lindner stimmen das Land auf Entbehrungen ein. Auch das ist Teil der „Zeitenwende“. Und was tut der Kanzler dagegen?

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Auf der „Havelqueen“ wirkte Scholz regelrecht beleidigt, dass über die bisherigen Wohltaten der Ampel nicht berichtet werde. Das liegt freilich an den Akteuren, die ihre Pakete selbst zerreden und zudem die Rentner vergaßen. Sauer ist Scholz auch darüber, dass seine Koalition gerade wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen wirkt: Ständig kommen Kabinettsmitglieder mit neuen Entlastungsideen daher, auch aus den eigenen Reihen, wie Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) mit einem „sozialen Klimageld“. Der Chef wirkt dabei wie ein Zuschauer.

Dabei hat der Kanzler längst einen Masterplan. Den Eindruck will er jedenfalls erwecken: Am 4. Juli, am Montag nach dem Gipfelmarathon, empfängt Scholz erstmals Arbeitgeber und Gewerkschaften zu einer „konzertierten Aktion“. Auf dem Anti-Inflation-Gipfel sollen sich „alle gemeinsam unterhaken“.

Scholz fände hohe Einmalzahlungen der Arbeitgeber besser als kräftige Tarifsteigerungen, was die Gewerkschaften anders sehen. Sie wären nur ins Boot zu holen, wenn der Staat die Bürger zusätzlich substanziell entlastete. Wie das aber gehen soll, ohne die Schuldenbremse aufzuheben oder Besserverdienern mehr Steuern abzunehmen, das kann niemand erklären. Abermals wirkt Scholz also wie ein Getriebener.

Scholz und der Merkel-Stil

Wie Angela Merkel ist Olaf Scholz ein „Kamel-Schläfer“. Nach durchgearbeiteten Tagen und Nächten kann er in einem langen Dauerschlaf wieder auftanken. Sonst wäre sein Pensum nicht durchzustehen.

Auch die Krisenpolitik der beiden hat Ähnlichkeiten: Jedes Puzzleteil betrachten, Ruhe bewahren und nicht ins volle Risiko gehen. Aber die Kanzlerin regierte in anderen Zeiten. Ist der Merkel-Stil des Eindämmens, der Konsens-Politik also noch angemessen? Oder brauchte es nicht mehr, ja, Mut?

SPD-Chef Klingbeil zitierte in seiner „Zeitenwende“-Rede die berühmte Gramsci-Definition für Krisen. „In einer Krise ist das Alte nicht mehr da, das Neue aber hat noch nicht begonnen.“ So ist es gerade, und da kann sich auch Kanzler Olaf Scholz nur vortasten.

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