Neuer Exodus in die EU?Türkei will Syrer heimschicken

Lesezeit 3 Minuten
In der Türkei zunehmend unerwünscht: Syrische Kinder mit Plastikgewehren in der türkisch kontrollierten Stadt Al-Bab.

In der Türkei zunehmend unerwünscht: Syrische Kinder mit Plastikgewehren in der türkisch kontrollierten Stadt Al-Bab.

Istanbul – Istanbul im Mai 2043. Ein junger Türke wird von Arabern durch die Straßen gejagt. Seinen Eltern berichtet der junge Mann, der Arzt werden wollte, von seinem Hilfsjob in einem Krankenhaus, in dem Türkisch verboten ist. Warum die ältere Generation nichts getan habe, als es noch möglich gewesen sei, fragt er anklagend. „Ich wünschte, wir hätten etwas getan“, erwidert sein Vater im Kurzfilm „Lautlose Invasion“ der Journalistin Hande Karacasu.

Populistische Warnungen vor einer Überfremdung durch arabische Zuwanderer haben Konjunktur in der Türkei. Millionenfach ist Karacsus Streifen auf Youtube angeklickt worden. Bezahlt wurde „Lautlose Invasion“ von dem rechtspopulistischen Politiker Ümit Özdag. Dessen neue „Siegespartei“ will die inzwischen 3,6 Millionen Syrer in der Türkei nach Hause schicken – und zwar alle.

Acht von zehn Türken stimmen der Heimkehr der Syrer zu

Damit steht Özdag nicht mehr am Rand des politischen Spektrums, sondern im Zentrum. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu verspricht, im Falle eines Sieges bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in einem Jahr die Syrer innerhalb von zwei Jahren zurückzuschicken. Das werde er durch Absprachen mit der syrischen Regierung und mit Finanzierung aus der EU erreichen.

Acht von zehn Türken stimmen der Forderung nach Heimkehr der Syrer zu, die zumeist als Schutzsuchende von dem Bürgerkrieg in ihrem Land über die Grenze kamen. Unter den Anhängern der Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan fordern sogar 85 Prozent die Rückkehr der Syrer, die sie für Jobmangel, Wohnungsnot und Straßenkriminalität verantwortlich machen.

75 Prozent der Syrer wollen in der Türkei bleiben

Bisher stellte sich Erdogan gegen den Trend und betonte seine Bereitschaft, auch weiterhin Schutzsuchende aufzunehmen. Doch jetzt schwenkte der Präsident zumindest teilweise auf die Linie der Opposition um. Seine Regierung werde eine Million Syrer zur freiwilligen Heimkehr in ihr Land bewegen, versprach er. Mit internationalen und syrischen Organisationen werde Ankara in den türkisch kontrollierten Teilen Nordsyriens neue Häuser, Kliniken und Schulen bauen.

Die Türkei hält mehrere Gebietsstreifen in Syrien militärisch besetzt, um die kurdische Miliz YPG von der Grenze fernzuhalten. Innenminister Süleyman Soylu kündigte bei einem Besuch in Nordsyrien an, bis Ende des Jahres sollten mindestens 100000 Wohnungen für Rückkehrer fertig sein. Eine halbe Million Syrer sind nach Regierungsangaben bereits freiwillig in ihr Land zurückgekehrt.

Das könnte Sie auch interessieren:

Ungeklärt ist, wie andere Syrer zur Rückkehr bewegt werden könnten. Ihr Heimatland liegt in Trümmern, das Regime von Staatschef Baschar al-Assad betrachtet sie als Abtrünnige und potenzielle Terroristen. Viele Syrer sind schon seit Jahren in der Türkei, rund 750000 syrische Kinder sind in der Türkei geboren worden. In Umfragen sagen 75 Prozent der Syrer in der Türkei, sie wollten bleiben.

„Werden sie niemals von diesem Boden vertreiben“

Sowohl Erdogan als auch die Opposition schließen Zwangsabschiebungen bisher aus. Am Montag stellte sich der Präsident nun wieder deutlich gegen die zunehmend feindselige Stimmung gegen die syrischen Flüchtlinge. „Sie können in ihre Heimat zurückkehren, wenn sie es selbst wünschen. Aber wir würden und werden sie niemals von diesem Boden vertreiben“, sagte Erdogan in Istanbul.

Sollte die Türkei die syrischen Flüchtlinge zur Heimkehr zwingen wollen, könnte Europa die Folgen zu spüren bekommen. In diesem Fall könnten wie bei der Massenflucht der Syrer nach Europa vor sieben Jahren wieder Hunderttausende Menschen in die Boote nach Griechenland steigen, sagte Migrationsexperte Omar Kadkoy von der Denkfabrik Tepav in Ankara unserer Zeitung: Die türkische Ägäisküste könne erneut „die Szenen von 2015 und 2016“ erleben.

Rundschau abonnieren