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Nordost-Offensive, Stimmung in RusslandSo ist die aktuelle Lage im Ukraine-Krieg

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angriff Ukraine

Kramatorsk: Menschen stehen neben einem Krater, der durch eine Explosion nach einem nächtlichen Angriff entstanden ist. 

Köln/Kiew/Moskau – Optimismus im Ukraine-Krieg: „Ein viel größerer Zusammenbruch Russlands wird sich in den nächsten Tagen ereignen“, orakelt der liberale Theoretiker Francis Fukuyama, und der ukrainische Militärjournalist Illia Ponomarenko vergleicht den russischen Aggressionskrieg mit einem Jenga-Spiel – jener Geschicklichkeitsübung, bei der ein Holzbaustein nach dem anderen aus einem Turm gezogen wird, bis er einstürzt. Ist es wirklich bald so weit? Ein Überblick über die Lage im Ukraine-Krieg:

Die Nordost-Offensive

Nach der Rückeroberung von Lyman dringen die ukrainischen Truppen nach Osten vor. Sie bauen auch nördlich der Kleinstadt, bei Kupjansk, einen Brückenkopf am Ostufer des Flusses Oskil aus. Zuletzt meldeten lokale Behörden dort die Befreiung des Ortes Borowa. Das bestätigt auch das Institute for the Study of War (ISW). Nächstes Ziel der ukrainischen Truppen ist offenbar die Straßen- und Bahnverbindung, die vom russischen Hinterland über Swatowe und Kremnina nach Sjewjerodonezk führt – jener Großstadt im Bezirk Luhansk, die Russland erst im Sommer nach wochenlangem Artilleriebeschuss eingenommen hatte.

Zudem halten die Ukrainer den Ort Bilohoriwka in direkter Nachbarschaft der Schwesterstadt Lyssytschansk. Das ISW zitiert Andrej Maroschko von den Milizen der selbst ernannten Luhansker Volksrepublik, mit der Aussage, die ukrainischen Truppen hätten bereits eine Stellung am Rand von Lyssytschansk erreicht. Die russischen Streitkräfte und die mit ihnen verbündeten Söldner der privaten Militärfirma Wagner konzentrieren sich dagegen nach wie vor auf den Versuch, die Stadt Bachmut weiter im Süden einzunehmen – bislang ohne Erfolg.

Die Lage im Süden

Mit ihrer Nordost-Offensive hatten die Ukrainer nicht nur die russischen Besatzer, sondern auch die Weltöffentlichkeit überrascht – richteten sich doch die Blicke bis dato auf die groß angekündigte Befreiungsaktion im Gebiet Cherson, tief im Süden des Landes. Dort schien es wochenlang nicht recht voranzugehen. Aber nun könnte auch hier die Lage kippen.

Umkämpft ist ein Geländestreifen auf dem rechten, westlichen Ufer des Dnipro, der sich von der Mündung bei der Bezirkshauptstadt Cherson in nordöstlicher Richtung bis ans untere Ende des Kachowkaer Stausees erstreckt. Am Sonntagabend gelang den Ukrainern ein Frontdurchbruch in Solota Balka, am Ufer des Sees und gut 150 Kilometer von Cherson entfernt. Von dort aus drangen sie sodann stromabwärts vor, in Richtung des Staudamms. Der nationalistische russische Blogger Rybar hat den Verlauf der ukrainischen Offensive in einer Animation dargestellt, die einem Armutszeugnis für das russische Kommando gleichkommt:  

Wie weit die Ukrainer bisher gekommen sind, ist nur in Umrissen klar. Die ukrainische Armee hält an ihrer Nachrichtensperre fest. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach am Montagabend von der Befreiung mehrerer Orte und nannte davon nur zwei, das lange umkämpfte Archanhelske und das benachbarte Myroliubiwka. Die Ukrainer sind aber offenbar noch weiter vorangekommen. Russische Blogger wie der normalerweise gut informierte Rybar vermuteten sie am Dienstag schon bei Dudtschany, etwa 30 Kilometer stromabwärts.

Die vielleicht größte Überraschung ist der Ort des Frontdurchbruchs – ganz im Nordosten des Kampfgebiets, am Seeufer. Dabei hatte die staatliche Nachrichtenagentur Ukrinform bereits im Frühjahr über einen Schlachtplan berichtet, schön zum Mitschreiben für den russischen Generalstab: Die ukrainische Offensive hätte demnach in der Mitte des Kampfgebiets angesetzt, in der Nähe des Dorfes Dawydiw Brid, wo die Ukraine bereits einen Brückenkopf über den Fluss Inhulez hielt. Tatsächlich gab es bei Dawydiw Brid am Sonntag Kämpfe, am Dienstag veröffentlichte das Verteidigungsministerium in Kiew dann auch ein Video, nach dem der Ort befreit sei. Die russischen Truppen hatten sich zurückgezogen, um einer drohenden Einkesselung zu entgehen.

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Zwei Fragen sind jetzt entscheidend: Kann die Ukraine weiter nach Südwesten vorstoßen? Und: Gelingt es ihr nicht nur, den Staudamm von Nowa Kachowka zu erreichen, sondern auch, ihn einzunehmen und damit den Dnipro zu überschreiten? Das gewaltige, 3,4 Kilometer lange Bauwerk ist weitgehend unversehrt. Die Ukraine hat nur eine etwa 20 Meter lange Brücke zerstört, die über eine Schiffsschleuse führt. Die Lücke ließe sich schließen – was ja auch die Russen trotz ukrainischer Raketenangriffe immer wieder versuchen.

Von der Stadt Nowa Kachowka am Ostufer des Flusses aus sind es nur noch 88 Kilometer bis Armjansk, der ersten Stadt auf der Krim. Damit wären die russischen Nachschublinienbedroht, die von der Halbinsel an die Front in der Südukraine führen.

Die Stimmung in Russland

Die ukrainische Nordost-Offensive und die Probleme mit der sogenannten Teilmobilmachung haben in russischen Medien ein verheerendes Echo gefunden – nicht nur bei nationalistischen Bloggern, sondern auch im Staatsfernsehen. Von einem System von Lügen, „von oben bis nach unten“, sprach der Ex-Militär Andrej Guruljow.

Der Außenpolitik-Experte Maxim Yusin stellte sogar die Entscheidung von Präsident Wladimir Putin infrage, ukrainische Gebiete zu annektieren, die man gar nicht kontrolliere: „Ich erinnere mich nicht an einen solchen Präzedenzfall in der Weltgeschichte.“ Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow stellte derweil den Generaloberst Alexander Lapin, im Sommer noch wegen der Eroberung von Sjewjerodonezk zum „Helden Russlands“ ernannt, in den Fokus seiner Kritik und verlangte dessen Degradierung. Dem schloss sich Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin an. Er verlangte, neben Lapin auch Generalstabschef Waleri Gerassimow „barfuß und mit einer Kalaschnikow“ an die Front zu schicken.

Die Niederlage in Lyman habe „noch mehr Verwirrung und negative Berichterstattung ausgelöst als die russischen Rückzüge aus Kiew, von der Schlangeninsel oder sogar aus Charkiw“, so das ISW. Für Putin, der sich bisher stark auf die Stimmungsmache der Militärblogger gestützt habe, sei das ausgemacht gefährlich, und das Fernsehen habe die radikale Blogger-Kritik an der Militärführung nun erstmals „in die Wohnungen der Durchschnittsrussen“ transportiert.

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