Prominenter Kirchenrechtler im InterviewWas wusste Joseph Ratzinger?

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Joseph Ratzinger als Erzbischhof in München: Jubelnd empfangen ihn Gläubige nach der Kardinalserhebung 1977.

Eine bisher geheimes Dekret des Münchener Kirchengerichts belastet den späteren Papst Benedikt den XVI. Raimund Neuß befragte dazu den Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke.

Das Münchner Kirchengericht hat 2016 per Dekret den Priesters Peter H. bestraft, der 1980 aus dem Bistum Essen nach Bayern kam und dort Sexualstraftaten an Kindern beging.  Er darf sein Priesteramt nicht mehr ausüben. Sie haben das Dekret gelesen – gibt es danach noch vernünftige Zweifel daran, dass der Erzbischof und spätere Papst Joseph Kardinal Ratzinger von H.s pädosexuellen Neigungen wusste?

Wir haben hier ein amtliches Dekret am Ende eines von der Glaubenskongregation angeordneten und in München kompetent durchgeführten Verwaltungsstrafverfahrens. Dieses Dekret geht nach interner Aktenlage davon aus, Kardinal Ratzinger habe als damaliger Erzbischof von München ebenso wie sein Rat aus Verantwortlichen des Ordinariats in Kenntnis der Sachlage einen Priester in München aufgenommen, der in Essen als gefährdet galt und deshalb dort aus dem Dienst genommen worden war. An der Korrektheit dieses Dekrets ist auch aus München bisher kein Zweifel geäußert worden. Wenn jetzt einer der Hauptverantwortlichen behauptet oder behaupten lässt, von nichts gewusst zu haben, ist das ein klarer Widerspruch, den zu beurteilen ich anderen überlasse. Übrigens, was wäre von der Leitung und Verantwortung eines Erzbischofs zu halten, der sich um solche brisanten Angelegenheiten, für die er nun einmal zuständig ist, nicht persönlich kümmern würde oder das in der Ordinariatssitzung überhörte? Ein Erzbischof malt in solchen Sitzungen ja keine Mandalas.

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Prof. Norbert Lüdecke

Seit 2010 nimmt der ehemalige Generalvikar Gerhard Gruber alle Schuld auf sich. Ratzinger habe nichts gewusst. Ist das glaubwürdig?

Wenn ich recht sehe, hat Gruber der New York Times nur erklärt, er habe den Einsatz des Priesters eigenmächtig entschieden. Es sei aber ein Memo über den Vorgang ans Erzbischöfliche Büro gegangen. Ob es auch auf den Schreibtisch Ratzingers gelangt ist, blieb offen. Aber ein Generalvikar ist das Alter Ego des Bischofs, er handelt für ihn. Die Finger eines Bischofs, die auf den  Generalvikar zeigen, weisen immer auf ihn zurück. Sonst weisen Bischöfe ja gern darauf hin, das Entscheiden, das decision taking, sei allein ihre Aufgabe. Da finde ich diese Verantwortungsenthaltsamkeit sehr merkwürdig.

Und dann geht das Bistum 26 Jahre später nur auf dem Verwaltungsweg gegen den Priester H. vor, und es dauert wieder Jahre, bis das Dekret an die Öffentlichkeit kommt …

Die Glaubenskongregation hatte das so angewiesen. Insofern ist das Verfahren seiner Art nach korrekt geführt worden. Kirchenrechtlich wäre ein gerichtliches Verfahren meiner Meinung nach angemessener gewesen. Dann hätten die Richter auch über den Voruntersuchungsbericht hinausgehende eigene Ermittlungen anstellen können. Kirchenpolitisch wäre genau das aber für das Bistum München prekär gewesen. Der Gesamtvorgang hätte noch detaillierter aufgearbeitet werden könnten, daran bestand aber erklärtermaßen kein Interesse. Er sollte vielmehr schnell und diskret aus der Welt. Das hat allerdings nun durch das Bekanntwerden des gut dokumentierten Dekrets nicht geklappt.

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Wollten die Glaubenskongregation, das Erzbistum München und das Bistum Essen also den mittlerweile emeritierten Papst Benedikt XVI. schützen?

Sie haben versucht, das Ganze schnell und diskret vom Tisch zu bekommen.  Mehr kann ich über die Intention nicht sagen.

Das Kirchenrecht ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder geändert worden. War das, was der damalige Essener Bischof Franz Hengsbach und sein Münchner Amtsbruder Ratzinger im Fall H. machten, denn nach den Maßstäben des Jahres 1980 rechtmäßig?

Nein, das war nicht in Ordnung. Auch damals ging es um Straftaten, die sie näher hätten untersuchen und melden müssen. In München hätte zusätzlich Vorsorge getroffen werden müssen, um die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen möglichst auszuschließen.

Wie sieht die Rolle des heutigen Münchner Erzbischofs Reinhard Kardinal Marx aus?

Es gibt zumindest das Problem, dass Marx den Priester H. erneut eingesetzt hat. Nach dem Wissenstand, über den er laut Dekret verfügte, hätte er sich nicht mit einem psychiatrischen Gutachten begnügen dürfen, sondern zuvor eine kirchenrechtliche Voruntersuchung wegen des Verdachts einer Straftat durchführen und das Ergebnis nach Rom melden müssen. Das hat er nicht getan. Ein Verstoß gegen seine Amtspflichten? Ja, das bedeutet die Nichteinhaltung einer kirchenrechtlichen Vorschrift und insofern einen Pflichtverstoß.

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