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RKI-Präsident Wieler im Interview„Wir dürfen dieses Virus nicht unterschätzen“

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Lothar H. Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI)

  • Der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, über die Corona-Krise, seine Verantwortung, Greta Thunberg und seine Jugend im Siebengebirge

Der Veterinärmediziner und Fachtierarzt für Mikrobiologie Professor Dr. Lothar Wieler gibt als Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) seit dem Beginn der Corona-Krise mehrmals wöchentlich eine Einschätzung der Situation in Deutschland. Mit dem in Königswinter aufgewachsenen Wieler sprach Hansjürgen Melzer.

Wie schätzen Sie die derzeitige Lage ein?

Lothar Wieler: Wir sind immer noch am Anfang einer Pandemie. Durch die Maßnahmen, die seit etwa zwei Wochen in unserem Land durchgeführt werden, gelingt es uns, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Das ist ein schöner Erfolg unserer Strategie, aber das ist nur ein Momentzustand und wir müssen in kurzen Zeitabständen immer wieder überprüfen, wie die Situation ist, um die Maßnahmen verschärfen oder lockern zu können. Wir werden noch monatelang dieses Virus in unserem Land haben und müssen daher weiter eine hohe Aufmerksamkeit haben, um Infektionsketten zu unterbrechen.

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Wie wird es weitergehen?

Wieler: Seitdem wir wissen, dass es eine Pandemie ist, das Virus sich sehr leicht übertragen kann und es auch zu vielen schweren Verläufen kommt, ist die Frage nur, wie viele Millionen Menschen infiziert werden und wie viele von diesen schwer krank werden oder sterben. Seitdem muss es das ganze Ziel sein, das Ausmaß zu verringern. Dafür tun wir, was wir können. Ich sehe es als eine Aufgabe an, die Menschen wachzurütteln.

Zur Person

Professor Lothar Wieler (59) wuchs in Oberpleis auf und besuchte das Oelberg-Gymnasium. Nach dem Abitur studierte er in Berlin und München Veterinärmedizin. Nach beruflichen Stationen in Ulm, München, Gießen, wo er sich für das Fach Infektionskrankheiten und Hygiene der Tiere habilitierte, war er Professor für Mikrobiologie und Tierseuchenlehre in Berlin. Seit 2015 ist er Präsident des Robert Koch-Instituts in Berlin. Wieler ist verheiratet und hat zwei Töchter. (EB)

Wir haben ein sehr starkes Gesundheitssystem – auch bezogen auf die Anzahl der Intensivbetten und Beatmungsplätze. Das darf uns aber nicht in der Sicherheit wiegen, dass wir sagen, wir können das alles abfedern. Wir rechnen immer noch damit, dass wir mehr Fälle haben werden, als das Gesundheitssystem verkraften kann. Das können wir jedenfalls nicht ausschließen. Wir dürfen dieses Virus nicht unterschätzen.

Was halten Sie von der Diskussion über Exitstrategien?

Wieler: Man muss prinzipiell über alle Optionen nachdenken. Das darf aber nicht so verstanden werden, dass ein Exit unmittelbar bevorsteht. Es ist definitiv zu früh, über den Exit selbst nachzudenken, wir sollten eher einen schrittweisen Transit ins Auge fassen. Man muss aber natürlich Konzepte erarbeiten.

Werden die Schulen nach den Osterferien wieder öffnen?

Wieler: Wir müssen wirklich schauen und ständig die Situation beurteilen, die sich jeden Tag verändert. Lassen Sie uns diese Lage in Ruhe bewerten und Kriterien entwickeln. Dann schauen wir, was nach dem 20. April geschieht.

Sie wurden zuletzt auch kritisiert, weil Sie erst sagten, die Lage entspanne sich, dann jedoch warnten und von der Gefahr italienischer Verhältnisse in Deutschland sprachen. Ist die Kritik an Ihnen und dem RKI berechtigt?

Wieler: Das ist wahrscheinlich normal, wenn auf jedes Wort geachtet wird. Ich erläutere so sachlich und nüchtern wie möglich, und natürlich der aktuellen epidemiologischen Situation entsprechend. Die Situation können wir deshalb so gut einschätzen, weil wir so viele Wissenschaftler am Institut haben, die sich seit vielen Wochen schwerpunktmäßig mit Corona befassen. Da ist eine Menge Fachkompetenz.

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Wir werden zusätzlich von nationalen und internationalen Expertengruppen beraten. Die Einschätzungen, die wir machen, sind fundiert. Insofern gab es keine widersprüchlichen Aussagen. In einer so dynamischen Lage kann die Risikoeinschätzung tagesabhängig sein.

Was sagen Sie zur Kritik des Bonner Virologen Hendrik Streeck am RKI, man habe es versäumt, frühzeitig Daten in Heinsberg zu sichern?

Wieler: Zu Beginn des Ausbruchs war ein Team des Robert Koch-Instituts in Heinsberg und hat dort die Ausbruchsbekämpfung mit unterstützt. Die Studie, die Prof. Streeck durchführt, ist sehr wichtig. Wir hoffen, dass wir viel daraus lernen können, auch wie gut die Aussagekraft für andere Ausbrüche ist.  Ich mache das mal an einem Beispiel deutlich: Eine wichtige Aussage ist die Dunkelziffer: Wie viele Personen waren bereits infiziert, ohne positiv getestet worden zu sein. Dann hängt die Aussagekraft zum Beispiel sehr davon ab, wie viele Tests zu Beginn des Ausbruchs durchgeführt wurden: Waren es wenige, dann wird zum Beispiel die Dunkelziffer überschätzt; waren es viele, wird sie unterschätzt.

Was macht es mit Ihnen persönlich, auf einmal so im Rampenlicht zu stehen?

Wieler: Das ist eine große Verantwortung und ein hoher öffentlicher Druck, die meine volle Konzentration fordern. Ansonsten hoffe ich, dass ich mit der Aufgabe wachse und dass es ansonsten nicht viel mit mir macht.

Können Sie noch unerkannt einkaufen gehen?

Wieler: Ich gehe tatsächlich fast nie einkaufen, weil ich den ganzen Tag im Institut bin. Es ist aber tatsächlich so, dass mich häufiger Leute anschauen oder ansprechen, wenn ich unterwegs bin. Viele danken mir und dem Robert Koch-Institut für unsere Arbeit. Das ist schon eine ganz andere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.

Sie sind verheiratet und haben zwei Töchter. Wie gehen Sie in der Familie mit der Kontaktsperre um?

Wieler: Die Töchter sind aktuell beide zu Hause, weil die Universitäten geschlossen sind. Wir halten uns sehr an das Zuhausebleiben und das Abstandsgebot. Wir gehen nur noch einkaufen, zur Arbeit und spazieren. Wir halten uns auch von den Schwiegereltern fern, weil sie älter sind und zu den Risikogruppen gehören. Wenn wir uns treffen, dann nur auf Abstand.

Haben Sie überhaupt noch Freizeit?

Wieler: Wenig. Das war aber auch vorher nicht anders, wenngleich die Arbeitstage jetzt noch etwas länger geworden sind. Und die Wochenenden sind noch dazu gekommen. Sie sind in Königswinter-Oberpleis aufgewachsen. Bis wann haben Sie dort gewohnt? Wieler: Bis Oktober 1980.

Welche Erinnerungen haben Sie?

Wieler:  Als ich geboren wurde, hatte Oberpleis ja noch ein eigenes Rathaus. Es war eine sehr schöne, unbeschwerte Jugend. Wir haben sehr viel Zeit an der frischen Luft verbracht und Fußball, Badminton und Tennis gespielt. Mein Vater war Tierarzt in Oberpleis. Damals gab es noch sehr viel Landwirtschaft mit Viehzucht. Meine Geschwister und ich sind oft mit ihm durch die Landschaft gefahren und haben uns in Kuhställen aufgehalten.

Sie haben das Gymnasium am Oelberg besucht und dort im vergangenen Jahr die Festrede zum 50-jährigen Schuljubiläum gehalten. Wie war Ihre Schulzeit?

Wieler: Ich war kein fleißiger Schüler und habe sie reichlich genossen. Mein Ehrgeiz auf dem Fußballplatz war sicherlich größer als der in der Schule. Ich habe in der Schulzeit versucht, mit einem möglichst geringen Aufwand einen maximalen Profit zu erreichen. Man braucht im Leben aber auch Glück. Als ich nach dem Abitur 1980 ganz überraschend einen Studienplatz als Nachrücker in Berlin bekam, hat sich meine Einstellung schlagartig geändert, weil ich plötzlich ein konkretes Ziel vor Augen hatte.

Wo haben Sie Fußball gespielt?

Wieler: Ich war viele Jahre beim TuS 05 Oberpleis, aber auch zwei Jahre beim FV Bad Honnef. Ich habe mit 15, 16 Jahren als Torwart in der Mittelrheinauswahl gespielt. Wir hatten beim TuS einen sehr ehrgeizigen Trainer, der Sportlehrer an der Realschule war. Das war ein richtiger Schleifer.

Sie sind Fan des 1. FC Köln. Wie oft sind Sie im Stadion?

Wieler: Da ich in Berlin lebe, ist es mir kaum möglich, Spiele zu besuchen. Ich bin, seit meine Eltern, die in Oberpleis lebten, vor neun Jahren verstorben sind, nur noch selten im Rheinland. Ich bin vielleicht einmal im Jahr im Stadion.

In Ihrer Festrede haben Sie Ihre Bewunderung für Greta Thunberg ausgesprochen. Warum?

Wieler: Wir haben einige exzellente Wissenschaftler in Deutschland, die das Thema Klimawandel in das Bewusstsein der Menschen gebracht haben. Aber Greta Thunberg hat eine Öffentlichkeit und eine Aufmerksamkeit erreicht, wie es keiner von den Wissenschaftlern geschafft hat. Wir Wissenschaftler sind froh, dass es Greta Thunberg gibt, weil sie der Wissenschaft Gehör verschafft. Sie argumentiert nicht polemisch oder populistisch, sondern mit wissenschaftlichen Argumenten, weshalb man sie auch ernst nehmen muss. Das ist sehr, sehr authentisch. Was weitgehend Konsens unter den Wissenschaftlern ist, hat sie mit einer jugendlichen Selbstverständlichkeit und auch Gnadenlosigkeit formuliert. Das finde ich klasse.

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