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Rundschau-Debatte des TagesIst die Willkommenskultur schon zu Ende?

Lesezeit 4 Minuten
flüchtlinge boot

Migranten aus verschiedenen afrikanischen Nationen warten in einem Boot auf Helfer

  • Auch die weltbedrohende Pandemie hat Flucht und Vertreibung nicht gemindert – im Gegenteil, wie der neue UNHCR-Bericht zeigt.
  • Doch die Bereitschaft, Heimatlosen zu helfen, nimmt auch in Deutschland ab.

Berlin – Die Mehrheit der Deutschen ist laut einer Umfrage derzeit gegen eine weitere Aufnahme von Flüchtlingen. In einer aktuellen Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag der Diakonie antworteten gut 62 Prozent von 5001 Befragten auf die Frage: „Sollte Deutschland, angesichts der steigenden Zahl an Flüchtenden weltweit, mehr Geflüchtete aufnehmen?“ mit „Nein“. Lediglich etwas mehr als ein Viertel der Befragten sagte „Ja“, zehn Prozent waren unentschieden.

Große Skepsis herrscht auch über den Integrationserfolg. Auf die Frage, ob die in den vergangenen zehn Jahren nach Deutschland gekommenen Migranten „gut in der Gesellschaft angekommen“ seien, antworteten knapp 58 Prozent mit „Nein“, 28 Prozent mit „teils/teils“ und 12,5 Prozent mit „Ja“.

Soziale Bedrohung als Grund?

Jeder Zweite will Grenzen dichtmachen

Die Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge ist auch in anderen Ländern längst nicht überall gegeben. Weltweit befürwortet laut einer aktuellen Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos ungefähr jeder Zweite Grenzschließungen für Geflüchtete im eigenen Land. Am größten ist die Zustimmung für diese Maßnahme demnach in Malaysia (82 Prozent) und in der Türkei (75 Prozent), am niedrigsten in Polen (34 Prozent), Japan (38 Prozent) und in den USA (41 Prozent).

Hierzulande sind laut derselben Umfrage mehr als vier von zehn Befragten (42 Prozent) der Ansicht, dass Deutschland seine Grenzen für Flüchtlinge derzeit vollständig schließen sollte. Das ist ein Anstieg um drei Prozentpunkte seit dem letzten Jahr, der laut den Meinungsforschern mit der Corona-Pandemie zusammenhängen könnte. Denn generell halten es 71 Prozent der Bundesbürger für richtig, dass Menschen in Deutschland Zuflucht finden können, um vor Krieg und Verfolgung zu fliehen. (dpa)

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie bewertete die Ergebnisse als „nicht wirklich überraschend, aber gleichwohl ernüchternd“. Er macht vor allem soziale Gründe verantwortlich: „Wer sich sozial bedroht fühlt, keine Perspektive für sich und seine Kinder sieht, am oder unter dem Existenzminimum lebt, macht innerlich schneller dicht – auch gegenüber Geflüchteten.“ Zudem werde zu wenig über Integrationserfolge gesprochen.

Die europäische Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre kritisiert die Diakonie in einer Mitteilung zum Weltflüchtlingstag am morgigen Sonntag scharf. Es habe eine „Politik der Abschottung statt der Integration“ gegeben; in der Folge seien Tausende Menschen im Mittelmeer ertrunken.

Die kommende Bundesregierung fordert der Verband zugleich auf, mehr Anstrengungen für eine liberalere Flüchtlingspolitik zu unternehmen. So fordert der Verband unter anderem, den Familiennachzug zu erleichtern. Zudem müssten die sogenannten Ankerzentren und alle Massenunterkünfte geschlossen werden, um von Anfang an die Integration der Menschen zu fördern. Abschiebungen in Krisengebiete wie Afghanistan sollten unterbleiben.

Ältere besonders ablehnend

Eine ablehnende Haltung gegenüber der Flüchtlingsaufnahme äußerten laut Umfrage vor allem ältere Menschen ab 40 aufwärts; mit Blick auf den Beschäftigtenstatus waren es Selbstständige und Rentner. Wobei die Ablehnung im Osten mit gut 75 Prozent deutlich höher lag als im Westen mit knapp 60 Prozent. Parteipolitisch lagen AfD-Anhänger mit 98 Prozent vor jenen der CDU/CSU mit 84 und der FDP mit knapp 83 Prozent. Auch bei SPD-Anhängern überwog die Ablehnung mit knapp 49 Prozent die Zustimmung mit 42,5 Prozent, während bei den Linken beide Seiten gleichauf lagen und bei den Grünen die Zustimmung mit über 63 Prozent deutlich überwog.

Neue weitweite Rekordmarke

Ungeachtet der Corona-Pandemie sind im vergangenen Jahr weltweit so viele Menschen auf der Flucht gewesen wie nie zuvor. Ende 2020 waren etwa so viele Menschen wegen Konflikten, Verfolgung und Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben, wie Deutschland Einwohner hat: 82,4 Millionen. Das berichtete das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) am Freitag in Genf. Im Vergleich zu 2019 ist das ein Anstieg um vier Prozent, im Vergleich zu vor zehn Jahren eine Verdoppelung. Auch der Klimawandel treibe immer mehr Menschen in die Flucht.

„Hinter jeder Zahl steht eine Person, eine Geschichte der Vertreibung, Enteignung und des Leids“, sagte der Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. Weil viele Länder in der Pandemie ihre Grenzen schlossen, fanden so wenige Flüchtlinge wie seit fast zwei Jahrzehnten keine neue Heimat mehr. Nur 34400 Menschen konnten in 21 Länder umgesiedelt werden – etwa ein Drittel der Zahl des Vorjahres. Eigentlich bräuchten 1,4 Millionen Menschen solche Plätze.

Deutlich mehr als die Hälfte der Menschen war im eigenen Land vertrieben. Wer ins Ausland flüchtete, blieb vor allem in den Nachbarländern. 86 Prozent wurden von Entwicklungsländern aufgenommen. Minderjährige machen zwar rund 42 Prozent der Geflüchteten aus.

„Kinder in Pandemie vergessen“

Das Deutsche Kinderhilfswerk kritisiert unterdessen, dass geflüchtete Kinder in Deutschland in der Pandemie stark vernachlässigt worden seien. „Geschlossene Schulen und Kitas haben vielfach dazu geführt, dass sie in ihrem Spracherwerb und auch schulisch weit zurückgeworfen wurden“, sagte Vizepräsidentin Anne Lütkes unserer Redaktion. Homeschooling ohne Hilfe der Eltern, oft ohne ausreichende Hard- und Software sowie Internetzugang, funktioniere nicht. „In den politischen Diskussionen um Schul- und Kitaöffnungen sind Flüchtlingskinder und ihre Familien aber konsequent ausgeblendet worden. Sie wurden vielfach einfach ihrem Schicksal überlassen“, kritisierte Lütkes. (mit dpa)

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