Rundschau-DebatteSorge vor XXL-Parlament – Wächst der Bundestag ins Unermessliche?

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Der Bundestag könnte nach der Wahl auf bis zu 1000 Abgeordnete anwachsen.

Der Bundestag könnte nach der Wahl auf bis zu 1000 Abgeordnete anwachsen.

Berlin – Der Bundestag wächst von Wahl zu Wahl. Bei der Wahl vor vier Jahren kamen 78 Abgeordnete hinzu, wodurch das Parlament auf 709 Mandatsträger anwuchs. Auch bei dieser Wahl dürfte das Parlament nach Einschätzung von Experten nochmals größer werden – womöglich sogar deutlich. Verlässliche Vorhersagen sind aber vor dem 26. September kaum möglich.

Wie werden die Sitze auf die Parteien verteilt?

Die Bundesrepublik ist in 299 fast gleich große Wahlkreise eingeteilt, aus denen ein direkt gewählter Abgeordneter nach Berlin geschickt wird. Ausschlaggebend für die Stärke der Parteien im Parlament sind allerdings die Zweitstimmen. Vor der Wahl stellen die Parteien dafür in allen Bundesländern Listen mit Kandidaten auf. Über diese werden entsprechend der Zweitstimmenergebnisse weitere 299 Sitze des Bundestags besetzt.

Warum sind dann mehr als 598 Abgeordnete im Bundestag?

Dass der Bundestag seine Sollgröße überschreitet, hängt mit den sogenannten Überhangmandaten zusammen. Sie entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach den Zweitstimmen zustehen. Die Zahl dieser zusätzlichen Mandate stieg nach der Wiedervereinigung vor dem Hintergrund der Veränderungen in der Parteienlandschaft an.

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Warum gibt es auch noch Ausgleichsmandate?

Von den Überhangmandaten profitierte zuletzt vor allem die Union (2017: 43 von 46 Überhangmandaten), während kleinere Parteien durch die Verzerrung des Zweitstimmenergebnisses einen Nachteil hatten. Das Bundesverfassungsgericht erklärte das geltende Wahlrecht deshalb für verfassungswidrig. Als Lösung führte eine 2013 verabschiedete Reform einen Ausgleichsmechanismus ein: Dabei wird die Gesamtzahl der Sitze im Bundestag solange erhöht, bis das Größenverhältnis der Fraktionen trotz der Überhangmandate wieder dem Zweitstimmenergebnis entspricht. Das führt aber zu einer nochmals höheren Zahl von Abgeordneten. 2017 gab es 65 Ausgleichsmandate.

Gab es vergangenes Jahr nicht eine Reform?

Ja, aber nur eine kleine. Sie wurde im Herbst 2020 mit den Stimmen von Union und SPD beschlossen. Dadurch werden drei Überhangmandate künftig nicht mehr ausgeglichen. Zudem sollen weitere Überhangmandate in begrenztem Umfang mit Listenmandatenin anderen Bundesländern verrechnet werden. Erst ab dem Jahr 2024 soll auch die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert werden, was die Zahl der Überhang- und Ausgleichsmandate verringern dürfte.

Politiker in Sorge um das Parlament

Politiker verschiedener Parteien sorgen sich um die Funktionsfähigkeit des Bundestags, wenn dieser nach der Wahl wegen vieler Überhangmandate noch größer wird. „Sollten es mehr als 840 Abgeordnete werden, dann habe ich eine Woche lang schlaflose Nächte“, sagte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) dem Magazin „Spiegel“. Das derzeitige Wahlrecht sei „ein Beschaffungsprogramm für neue Hinterbänkler“, sagte Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne). „Wo sollen die alle im Plenum sitzen? Wo treffen sich die Fraktionen?“ Grünen-Parlamentsgeschäftsführerin Britta Haßelmann sorgt sich um die Arbeitsfähigkeit der Ausschüsse, in denen die Facharbeit gemacht wird: „Wir können in den Ausschüssen nicht lauter Miniparlamente schaffen.“ Die Botschaft eines extrem großen Parlaments wäre verheerend, sagte FDP-Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann: „Wie soll die Politik glaubhaft für Reformen werben, wenn sie sich nicht selbst durch ein gut gemachtes Wahlrecht reformiert?“ Auch in der Union, die sich gegen weitreichendere Reformvorschläge der SPD und der Opposition gestellt hatte, gibt es besorgte Stimmen. „Ab einer gewissen Größe des Bundestags wäre auch die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Arbeit gefährdet“, sagte der CDU-Wahlrechtsexperte Ansgar Heveling dem „Spiegel“. (dpa)

Wie groß wird also der neue Bundestag?

Das hängt vom tatsächlichen Wahlverhalten ab – auch davon, ob viele Bürger ihre Erst- und Zweistimmen auf unterschiedliche Parteien verteilen. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa kam bei seiner jüngsten Wahlumfrage auf 796 Sitze – das wären nochmals 87 mehr bisher. Die Bertelsmann-Stiftung hat extra eine Prognose mit unterschiedlichen Szenarien auf Basis aktueller Umfragetrends ins Netz gestellt. Demnach ist auch ein „XXL-Bundestag“ mit 935 Abgeordneten „derzeit nicht auszuschließen“. Andere Szenarien gehen allerdings von „nur“ 717 oder 822 Mandaten nach der Wahl aus.

Wird es genügend Platz für die Abgeordneten geben?

Die Bundestagsverwaltung hält sich zu konkreten Plänen zur Unterbringung zusätzlicher Mandatsträger bislang noch bedeckt. Ein großer Erweiterungsbau wird erst 2022 fertig. Ein genaues Datum dafür gibt es nicht. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte 2019 gesagt, zur Sicherheit habe seine Verwaltung auch „ein Genehmigungsverfahren für den Bau von Bürocontainern beantragt“. Diese Überlegungen werden laut einer Bundestagssprecherin nun über ein weiteres Erweiterungsgebäude aus vorgefertigten Holzmodulen umgesetzt. Dieses soll jedoch erst im Dezember fertig sein. Gibt es nach der Wahl deutlich mehr Abgeordnete, würden die Büros eigentlich schon Wochen vorher gebraucht. Denn der neue Bundestag muss spätestens am 26. Oktober erstmals zusammentreten. (dpa)

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