Rundschau-InterviewVirologe Hendrik Streeck kritisiert das RKI scharf

Lesezeit 8 Minuten
Virologe Streeck

Hendrik Streeck 

  • Wie bereiten wir uns auf die nächste Corona-Welle vor?
  • Hendrik Streeck fordert großangelegte Studien und eine systematische Überwachung – und kritisiert das Robert-Koch-Institut

Köln – Haben wir genug Daten über die Corona-Pandemie – und sind wir ausreichend auf den Herbst vorbereitet? Der Bonner Virologe Hendrik Streeck sieht massive Defizite. Raimund Neuß sprach mit ihm.

Die Omikron-Welle scheint zurückzugehen. Aber was wissen wir wirklich? Ist klar, wie viele Leute sie tatsächlich erfasst hat, und können wir abschätzen, was im Herbst möglicherweise als nächste Welle auf uns zukommt?

Sie sprechen zwei unterschiedliche Punkte an. Wir haben zum einen eine schlechte Datenlage, aber wir können dennoch eine Tendenz einschätzen.

Alles zum Thema Robert Koch-Institut

Also wenn das Robert-Koch-Institut sagt, die Zahlen gehen runter, dann kann man sich schon darauf stützen?

Wir haben systematische Fehler bei der Datenerfassung. Wir bauen auch immer wieder zusätzliche Fehler ein, zum Beispiel durch Änderungen der Teststrategie – zuletzt wieder vor kurzem. Aber der Fehler ist eben systematisch, das heißt: Gehen die gemeldeten Zahlen runter, dann ist das zwar mit Unsicherheit verbunden, aber man darf davon ausgehen, dass der Rückgang echt ist.

Nun gibt es ja immer wieder lokale Studien, in München etwa, in Köln, im Bonner Raum, und regelmäßig kommt heraus: Die Zahl der Infektionen, die es im Untersuchungszeitraum gab, ist viel höher als die offizielle Zahl. Wenn das so ist, können wir überhaupt früh genug erkennen, wo sich eine neue Welle aufbaut?

Wir müssen jetzt unbedingt dieses Frühjahr und den Sommer nutzen: Wir müssen zum einen repräsentative Stichproben machen, um zu verstehen wie groß das Infektionsgeschehen tatsächlich ist.

Impfungen

9907 Erstimpfungen und 973 Zweitimpfungen sind bisher mit dem Protein-Impfstoff von Novavax in Deutschland verabreicht worden. Eine Steigerung des Impftempos gab es bisher keineswegs: Am Mittwoch gab es beispielsweise 8947 Impfungen, 1751 weniger als eine Woche zuvor. Novavax gilt als Alternative für Patienten, die die mRNA-Impfstoffe von Biontech und Moderna ablehnen. (rn)

Zum anderen und viel wichtiger finde ich es zu erfassen, wie viele Menschen bereits geschützt sind. Das heißt auch, wie viele eine Infektion durchgemacht haben. Wir müssen den Antikörperstatus der Bevölkerung kennen, um die Schutzquote feststellen zu können. Das ist deshalb so wichtig, weil wir dann viel besser auf das Geschehen im Herbst und Winter vorbereitet sein werden. Wir dürfen nicht wieder den gleichen Fehler machen wie im letzten Frühjahr: Alle Fachleute haben vor der nächsten Welle im Herbst gewarnt, und wir haben den Sommer so verbracht, als sei die Pandemie vorbei.

Was müsste geschehen, damit wir diesmal besser vorbereitet sind?

Wir brauchen großangelegte Studien und ein besseres Überwachungssystem. Die Studien müssen feststellen, wie viele Leute wirklich geschützt sind. Überwachen sollten wir insbesondere das Abwasser. Dagegen sollten wir mit dem anlasslosen Testen sukzessive aufhören. Im Abwasser kann ich früh feststellen, wie sich das Infektionsgeschehen verhält. Dies wird bereits in anderen Ländern gemacht. Auch ein Virusvariantenmonitoring kann man über das Abwasser machen. Und Ich denke, dass es wichtig ist, eine nüchterne Bilanz zu ziehen und festzuhalten, was bisher gut gelaufen ist und was nicht.

Zur Person

Prof. Hendrik Streeck, Jahrgang 1977, leitet nach Stationen in den USA (Harvard Univertity, Johns Hopkins University) und Duisburg/Essen seit 2019 das Institut für Virologie und HIV-Forschung der Universität Bonn. Er ist Mitglied im Corona-Expertenrat der Bundesregierung.

Ohne mit dem Finger auf irgendjemanden zu zeigen, sondern um zu lernen. Wir werden im Sommer niedrige Fallzahlen haben, also eine Ebbe. Umso mehr müssen wir die Deiche nachbessern und schauen, was wir im Gesundheitswesen kurzfristig optimieren und langfristig verbessern können. Dazu gehören eine stärkere Digitalisierung, und die zeitnahe Erfassung der symptomatischen Infektionen. Und wir müssen uns auch kommunikativ vorbereiten. Autofahrer kennen das mit Winterreifen und Sommerreifen. Im Sommer können wir weitgehend auf Masken verzichten, im Winter brauchen wir sie, und wir müssen Abstandsregeln einhalten. Das muss klar gesagt werden.

Konzepte für ein Abwassermonitoring oder für repräsentative Antikörperstudien lagen schon kurz nach Beginn der Pandemie auf dem Tisch. Warum ist nichts passiert?

Die Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich habe mehrfach eine sogenannte Sentinel-Stichprobe vorgeschlagen, also eine repräsentative Bevölkerungsgruppe regelmäßig zu testen. Warum es nicht geschieht, ist mir ein Rätsel. Es wäre enorm wichtig, solche Studien zu machen. Die Vorschläge liegen längst auf dem Tisch. Sie sind ans Gesundheitsministerium gegangen und ans Robert-Koch-Institut. Warum das RKI gefühlt immer nur warnt und nicht solche oder auch gerne andere Lösungswege beschreitet, ich verstehe das nicht. Wir müssen aber aktiv vorgehen und haben dafür nicht ewig Zeit bis zum nächsten Herbst.

Viel wird über eine Impfpflicht diskutiert, wie sehen Sie da Chancen?

Die Chancen? Oder die Machbarkeit? Ich bin skeptisch, so sehr ich die Argumente dafür verstehe. Wenn sich mehr Leute impfen ließen, wäre die Lage besser. Aber die Idee, dann wäre die Pandemie vorbei, führt in die Irre. Wir sehen Ansteckungen auch bei Geimpften. Wir müssen uns fragen, was wir erreichen wollen – eine gewisse Zahl von Impfungen oder eine bestimmte Schutzquote. Um die zu beurteilen, müssen wir den Antikörperstatus der Bevölkerung erst einmal kennen. Also schlage ich vor: Genesene und Geimpfte gleichstellen und das durch Antikörpertests festzustellen und zu beobachten. Wer geimpft ist und zu wenig Antikörper hat, dem würde ich zum Booster raten. Wir müssen die Schutzquote bestimmen und die Leute, die nicht geschützt sind, zu einem Beratungsgespräch bringen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Müssten wir dann alle regelmäßig zur Blutabnahme, um unseren Corona-Schutzstatus nachzuweisen?

Das nicht – es ist zunächst wichtig den Status Quo genau zu erfassen, bevor wir unwissend reagieren. Zum Beispiel: Immer wieder redet man von einer zu großen Impflücke. Wie viele Menschen sind denn eigentlich nicht geschützt vor einem schweren Verlauf? Wir wissen es schlicht und einfach nicht.

Gehen Sie davon aus, dass der Schutz nach einer Infektion ähnlich lange hält wie nach einer Impfung? Die Politik setze mal drei, mal sechs Monate Immunität nach Genesung an, bei der Booster-Impfung gibt es derzeit keine Frist.

Das ist so und geht leider an der wissenschaftlichen Realität vorbei. Wir haben eine Reihe an Virusvarianten, und wir wissen, dass eine Omikron-Infektion nicht gut vor einer Delta-Infektion schützt. Und dass wahrscheinlich auch eine durchgemachte asymptomatische Infektion nicht gut vor einer Wiederinfektion schützt. Aber alle Studien, die wir haben, zeigen, dass eine durchgemachte symptomatische Infektion ähnlich wie eine Impfung sehr gut vor einem schweren Verlauf schützt. Und der Schutz vor einer Reinfektion hält bei Genesenen nach mehreren Studien im Schnitt gut und gerne 250 Tage, also länger als bei einer Impfung. Die beste Immunität haben Sie übrigens, wenn Sie genesen sind und dann geboostert.

Was würden Sie einem Patienten empfehlen, der Sie nach einer Auffrischung fragt?

Ich würde das von zwei Faktoren abhängig machen. Erstens das eigene Risiko. Über 60-Jährigen würde ich im Herbst oder Winter einen Booster empfehlen. Bei jemandem, der ohnehin einen schlechten Immunstatus hat, etwa wegen einer Vorerkrankung, würde ich auch den Antikörpertiter bestimmen. Das ist die individuelle Strategie. Deutschlandweit würde ich so vorgehen, dass ich im Herbst und Winter allen über 60-Jährigen die Impfung empfehle, aber auf freiwilliger Basis. Wie bei der Grippeimpfung, auch die wird dieser Altersgruppe empfohlen, aber sie ist freiwillig. Und Genesenen würde ich entweder einen Booster oder zur Sicherheit Antikörperbestimmung empfehlen. Alles freiwillig. Die Unterscheidungen von 2G, 3G, 2G plus haben wissenschaftlich wenig Sinn. Es ist nicht bewiesen, dass dies Einfluss auf das Infektionsgeschehen hat. Über Karneval ließ man das fallen, dann führt man es wieder ein – das erscheint eher willkürlich als denn eine kluge, langfristige Strategie.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach warnt für den Herbst vor einer möglichen Supervariante: So infektiös wie Omikron, so krankmachend wie Delta. Wie wahrscheinlich ist das?

Ich gebe zu, dass ich diesbezüglich anders ticke – das dauerhafte Warnen, ob vor möglichen Supervarianten oder anderen möglichen Katastrophen steht bei mir nicht auf der Tagesordnung. Richtig ist, dass bei der Evolution von Viren eine solche Supervariante nicht unmöglich ist. Aber wir können meiner Meinung nach unser Leben nicht an den Extremen ausrichten. Das ist eine Einstellungssache, darüber bin ich mir sehr bewusst, und hier unterscheide ich mich womöglich vom Gesundheitsminister. Zwar halte ich eine Rekombination aus Delta und Omikron für möglich, aber es ist eine andere Frage, ob sie sich auch durchsetzen kann. Omikron hat einen Übertragungsvorteil gegenüber Delta. Delta wird durch die Impfung verdrängt, es hat keinen Überlebensvorteil gegenüber Omikron. Aber - ja, aus Omikron können weitere Fluchtvarianten entstehen. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass unser Immunsystem nicht nur aus Antikörpern besteht, die von solchen Fluchtvarianten ausgetrickst werden, sondern dass wir auch T-Zellen haben, die längerfristig schützen.

Wissen wir genug über andere bedrohliche Viren, beginnend bei neuen Grippe-Varianten?

Es gibt schätzungsweise noch 1,7 Millionen unentdeckte Viren, geschätzte 400 000 davon können auch Menschen krank machen. Es ist nicht vorherzusagen, was die nächste Pandemie auslösen könnte. Wir müssen aber auf Zoonosen blicken. Das sind Krankheiten, die von Tieren auf Menschen überspringen können. Seit einiger Zeit beobachten wir zum Beispiel, dass sich Grippeviren verstärkt in Schweinen vermehren. Ob nun eine solche Grippeviren-Rekombination vom Schwein auf den Menschen überspringt, können wir nicht absehen. Aber wir müssen damit rechnen, dass die nächste Infektionswelle durch ein Grippevirus ausgelöst wird.

Rundschau abonnieren