Abo

Sonderweg beim Kampf gegen CoronaGroßbritannien debattiert die Herdenimmunität

Lesezeit 3 Minuten
Leicester Square in London

Passanten überqueren den Leicester Square. (Symbolbild)

  • Großbritannien hält sich im Kampf gegen das Coronavirus auffallend zurück: Keine flächendeckenden Schulschließungen, keine Reisebeschränkungen, schon gar keine Quarantäne.
  • Die Abwartestrategie beruht auf dem Rat von Experten.
  • Das Ziel sei „eine Art von Herdenimmunität aufzubauen, so dass mehr Leute immun gegenüber dieser Krankheit sind,“ erklärt ein Berater der Regierung.

London – Während in anderen europäischen Ländern drastische Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus getroffen werden, hält sich Großbritannien auffallend zurück. Zwar sind einige Sportveranstaltungen abgesagt worden und Personen mit Atemwegsbeschwerden wird geraten, sieben Tage zu Hause zu bleiben, aber ansonsten geht im Königreich das Leben wie normal weiter.

Bis zum nächsten Wochenende, so gab die Regierung bekannt, soll ein Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 500 Besuchern erlassen werden, aber vor schärferen Interventionen schreckt sie zurück: Keine flächendeckenden Schulschließungen, keine Reisebeschränkungen, schon gar keine Quarantäne. Ruhig bleiben und Hände waschen, scheint das Gebot der Stunde zu sein.

Coronavirus: Großbritannien verfolgt Abwartestrategie

Die Abwartestrategie beruht auf dem Rat von Experten. Zu früh mit drakonischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens zu operieren, wäre kontraproduktiv, erklärte Professor Sir Patrick Vallance, der oberste wissenschaftliche Berater der Regierung. Und er führte aus, dass es das Ziel sei „eine Art von Herdenimmunität aufzubauen, so dass mehr Leute immun gegenüber dieser Krankheit sind und wir die Übertragung reduzieren.“ Das löste umgehend Alarmglocken aus. Eine Herdenimmunität kann erreicht werden, wenn, so Vallance, mindestens 60 Prozent der Bevölkerung sich mit dem Coronavirus angesteckt haben. Idealerweise wären das vor allem Bevölkerungsgruppen wie die Jungen und Gesunden, bei denen ein Infekt nur mit milden Symptomen verbunden ist. Nicht eine Ausmerzung des Virus wird angestrebt, sondern eine Abflachung der Infektionsrate. „Den Sombrero quetschen“, so hatte es Premierminster Boris Johnson ausgedrückt.

Die Regierungsstrategie, urteilte Professor Ian Donald, Verhaltensforscher an der Universität von Liverpool, sei „potenziell sehr wirksam, aber auch riskanter.“ Man versuche, die Rate der Infektion gerade so groß zu halten, dass die Krankenhäuser nicht überfordert sind. Idealer Weise wäre die Zahl der Infizierten, die Behandlung brauchen, so groß wie Zahl derjenigen, die geheilt wären und entlassen würden. Sollte es gelingen, „ein Equilibrium zwischen Hospitalisierung und Ansteckung zu erreichen“, so Donald, dann wäre „nach einer Weile die Bevölkerung immun, die ernsthaft Kranken behandelt und das Land resistent.“ Das große Problem mit diesem Ansatz, wandten Kritiker ein, seien die großen Zahlen. Wenn man von einer Ansteckungsrate von 60 Prozent ausgeht, bedeutet das 40 Millionen infizierte Briten und bei einer Sterberate von nur einem Prozent immerhin 400 000 Tote. Zudem bräuchten viele Corona-Kranke eine Intensivbetreung, aber im Königreich gibt es zur Zeit nur etwas mehr als 4000 Intensivbetten, von denen jetzt schon vier Fünftel belegt sind.

Das könnte Sie auch interessieren:

Am Wochenende wandten sich dann mehr als 200 Wissenschaftler in einem offenen Brief an die Regierung und protestierten gegen die Strategie der Herdenimmunität, da sie „keine praktikable Option“ sei und „den Gesundheitsdienst unter einen noch größeren Stresslevel stellt und viel mehr Menschenleben als notwendig riskiert.“ Sie forderten die Regierung auf, umgehend Maßnahmen zur Durchsetzung einer „sozialen Distanzierung“ zu erlassen, sprich: Versammlungsverbote, Schulschließungen und ähnliches. Als dann am Sonntagmorgen bekannt wurde, dass sich die Zahl der britischen Corona-Opfer auf 21 Tote im Vergleich zum Vortag nahezu verdoppelt hatte – bei bisher insgesamt 1140 Fällen – ruderte die Regierung zurück. Herdenimmunität, erklärte der Gesundheitsminister Matt Hancock, sei nicht Teil des Plans, sondern „ein wissenschaftliches Konzept, kein Ziel oder eine Strategie“. Nichtdestoweniger kommt es vorerst nicht zu radikalen staatlichen Interventionen wie Geschäftsschließungen oder einer Einschränkung der Reisefreiheit. Und zur Strategie der Regierung gehört es nach wie vor, vor allem die Risikogruppen zu schützen: Für alle über 70-Jährigen, kündigte Hancock an, werde demnächst das Gebot der Selbstisolierung gelten – bis zu vier Monate müssen sie zu Hause bleiben.

Rundschau abonnieren