Studie zeigt Untersterblichkeit in DeutschlandWaren die Corona-Maßnahmen übertrieben?

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Intensivstation (1)

Ein Pfleger auf der Intensivstation 

Berlin – Im Jahr 2020 starben weniger Menschen, als ohne Corona zu erwarten gewesen wäre. Zu dem überraschenden Befund kamen Forscher der Universität Duisburg-Essen (U-DE). Zur Berechnung der Sterblichkeit berücksichtigten sie auch die Alterung der Gesellschaft und verglichen die Daten mit denen aus Schweden und Spanien. Was die Ergebnisse über die Corona-Politik aussagen:

Sind im Corona-Jahr 2020 weniger Menschen gestorben als vorher?

Nein. Laut Statistischem Bundesamt gab es in Deutschland im vergangenen Jahr 985620 Todesfälle, darunter 34000 Menschen, die „mit oder an“ Corona gestorben sind. In den Jahren 2016 bis 2019 waren es im Schnitt 934394. In dem Jahr, in dem das Virus die Welt heimsuchte, gab es also hierzulande 51226 Tote mehr.

Warum sprechen die Forscher von einer Untersterblichkeit?

Nach Angaben von Studienautor Bernd Kowall vom Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie am Universitätsklinikum Essen kann man die Sterblichkeit nicht allein anhand der Nettozahl der Todesfälle berechnen. Denn ältere Menschen sterben häufiger als junge, und die Gesellschaft wird immer älter.

So lebten in Deutschland 2020 rund eine Million mehr Menschen im Alter von 80 und älter als noch 2016, ein Plus von 20 Prozent. Entsprechend wären auch ohne das Virus deutlich mehr Menschen gestorben als noch vier Jahre zuvor. Die Wissenschaftler bezogen den demografischen Faktor mit ein. Das Ergebnis: Die Sterblichkeit lag 2020 2,4 Prozent niedriger, als sie bei „normaler“ Entwicklung zu erwarten gewesen wäre. Auch auf die einzelnen Wochen heruntergerechnet starben selbst in der ersten Welle nicht mehr Menschen als ohne das Virus. In der zweite Welle Ende 2020 waren es dagegen etwas mehr.

Und wie sah die Lage in Schweden und Spanien?

Die Studie untersuchte auch die Lage in Schweden, weil das Land dem Virus mit weit weniger Einschränkungen begegnete und auf eine raschere Erreichung der Herdenimmunität setzte. Tatsächlich gab es in der ersten Welle auch unter Berücksichtigung des demografischen Faktors eine deutliche Übersterblichkeit. Auch für das Gesamtjahr berechneten die Forscher noch eine höhere Sterblichkeit – aber „nur“ von drei Prozent.

Anders die Lage in Spanien: Dort starben auch unter Einbeziehung der Alterung der Gesellschaft auf das Gesamtjahr berechnet fast 15 Prozent mehr Menschen, als ohne Corona zu erwarten gewesen wären, mit einer besonders drastischen Übersterblichkeit in der ersten Welle. Und dass, obwohl die Regierung auf drakonische Eindämmung setzte.

Was sagt das über die Corona-Politik aus?

Die Forscher verweisen auf eine Reihe von Faktoren: So verhinderte der Lockdown nicht nur viele Corona-Tote, sondern auch Tausende Grippe-Tote. Zudem sank die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle im Lockdown substanziell. Verwiesen wird aber auch auf gegenteilige „Nebeneffekte“ – etwa die gesunkene Zahl von Krankenhausbehandlungen wegen Krebs und Herzanfällen, was zu mehr Toten geführt haben könnte. Die Studienautoren betonen überdies, dass vorerkrankte ältere Menschen eine „reduzierte Lebenserwartung“ haben. Covid-Erkrankte, die das Jahr 2020 auch ohne Corona nicht überlebt hätten, tragen nicht zu einer höheren Sterblichkeitsrate bei.

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Der Chef des Virchowbundes der niedergelassenen Ärzte, Dirk Heinrich, warnte angesichts der Untersterblichkeit vor „vereinfachten Debatten“: „Wer sagt, die Eindämmung war übertrieben, weil viele ohnehin ein paar Monate später gestorben wären, argumentiert zynisch“, sagte er unserer Redaktion und erinnerte auch an die Bilder der Intensivstationen in Italien.

Mehr Tempo bei Boosterimpfungen gefordert

Erst 1,6 Millionen Menschen haben eine Auffrischimpfung erhalten, das sind nur zwölf Prozent der Über-70-Jährigen. Ärzte und Patientenschützer schlagen daher Alarm. „Boosterimpfungen für die vulnerablen Gruppen werden gerade mit Blick auf die steigenden Zahlen dringend gebraucht“, sagte Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des Virchowbundes der niedergelassenen Ärzte. In der Pflicht stehe besonders der Hausärzteverband. „Er hat früh die Schließung der Impfzentren gefordert, weil diese angeblich nicht gebraucht würden. Das war ein Fehler“, sagte Heinrich. „Daher muss der Verband jetzt flächendeckende Boosterimpfungen auch in Pflegeheimen durch die Hausärzte sicherstellen und mobile Impfteams dorthin schicken!“ Auch Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, beklagte den „schleppenden Verlauf“ beim Boostern. „Jetzt rächt es sich, dass gerade auf Druck der Kassenarztfunktionäre die Impfzentren und mobilen Teams größtenteils abgeschafft wurden.“

„Es braucht eine gründliche Aufarbeitung über die Angemessenheit der Pandemiebekämpfung, das ist richtig. Aber eine Über- oder Untersterblichkeit kann dafür sicher nicht der ausschlaggebende Faktor sein.“

Was lief in Schweden und Spanien falsch?

Für Schweden halten die U-DE-Forscher fest, dass die Sterblichkeit dort im ersten Halbjahr wegen der laxeren Pandemiebekämpfung höher lag als in Norwegen, Finnland und Dänemark. Die Fähigkeit von Pflegeheimen, die Bewohner zu schützen, sei überschätzt worden. Auch sei der Versuch, rasch Herdenimmunität zu erreichen, nicht richtig gewesen. Dass trotz des langen Lockdowns in Spanien die Übersterblichkeit auch unter Berücksichtigung des demografischen Faktors so hoch gewesen sei, erklären die Autoren ebenfalls durch mehrere Faktoren: Es fehlte an Ärzten und Pflegekräften, an Schutzausrüstung und Tests. Ein Grund könne aber auch die hohe Anzahl an chronisch Kranken gewesen sein, für die Corona besonders gefährlich sei.

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