Umgang mit sexualisierter GewaltDer Fall Heße – was wir wissen und was nicht

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Stefan Heße

Stefan Heße ist seit 2015 Erzbischof von Hamburg.

Köln – Schon im März sollte eine unabhängige Studie veröffentlicht werden, in der der Umgang des Erzbistums Köln mit sexualisierter Gewalt untersucht wird. Die beauftragte Münchner Anwaltskanzlei sollte auch Namen jener nennen, die dafür verantwortlich waren, „dass Vorfälle von sexuellem Missbrauch gegebenenfalls vertuscht oder nicht konsequent geahndet wurden“, hatte Kardinal Rainer Maria Woelki versprochen. Noch immer ist die Studie nicht da, dennoch ist der Umgang führender Geistlicher mit einem mutmaßlichen Missbrauchsfall aus den 90er Jahren zum Thema geworden.

Worum geht es in diesem Fall?

Ein heute 69-jähriger Pfarrer soll von 1993 bis 1999 seine drei damals zwischen sechs und 13 Jahre alten Nichten mehrfach pro Woche sexuell missbraucht haben. Im Juli dieses Jahres erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Pfarrer. Ermittelt worden war gegen ihn bereits vor zehn Jahren. Im Juni 2010 hatte eine der Nichten Anzeige erstattet. Im Oktober 2010 beurlaubte der damalige Erzbischof Joachim Kardinal Meisner den verdächtigten Pfarrer.

Warum ist nicht weiter ermittelt worden?

Die mutmaßlichen Opfer machten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, so dass das Verfahren im März 2011 eingestellt wurde. Das Erzbistum erklärte nun, die Betroffenen hätten damals gebeten, „nicht in einem staatlichen oder kirchlichen Verfahren beteiligt zu werden“. Ihre Aussagen seien damit nicht zurückgezogen worden, durften jedoch nicht mehr als Beweismittel verwendet werden. Im Juni 2011 nahm Meisner die Beurlaubung zurück. Erst 2019 erklärten sich die Betroffenen bereit, ihre ursprünglichen Aussagen zu wiederholen. Woelki beurlaubte den Pfarrer erneut.

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Was geschah von Oktober 2010 bis März 2011?

Das Erzbistum Köln berichtet von einem Gespräch des verdächtigten Pfarrers im Generalvikariat, zu dem es eine Notiz gebe. Der Inhalt sei aber „überwiegend schlecht lesbar“. Man habe einen Archivar und Experten für orthografische Transkription herangezogen. Bei einer von drei handschriftlichen Notizen habe es sich um eine Mitschrift einer Anhörung des Pfarrers durch den damaligen Personalchef und heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße gehandelt. Dort finde sich kein Hinweis auf ein Geständnis des Pfarrers. Später habe Heße bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt, der Pfarrer habe die Vorwürfe ihm gegenüber bestritten.

Heße wird Vertuschung vorgeworfen. Warum?

In einer Gesprächsnotiz vom November 2010 zu einem Telefonat zwischen der damaligen Bistums-Justiziarin und dem damaligen Verteidiger des Pfarrers stehe laut Erzbistum, „dass aus der handschriftlichen Notiz kein Protokoll gefertigt werden sollte, damit sie notfalls vernichtet werden könnte“. Heße habe dazu sein Einverständnis gegeben. Es ist die Rede davon, dass aus der Notiz hervor gehe, der beschuldigte Pfarrer habe bei dem Gespräch im Generalvikariat „alles erzählt“. Das Erzbistum Köln nennt es nun „eine Interpretation“, dass es sich hier um ein Geständnis handelt.

Was sagt Heße in diesem Fall selbst dazu?

Unserer Zeitung teilte er mit: „Ich begrüße die Klarstellung des Erzbistums Kölns, dass es ... kein Geständnis des beschuldigten Priesters und damit auch keine Vertuschung durch mich gegeben hat.“ Über die Anhörung des verdächtigten Pfarrers durch ihn gebe es eine Niederschrift oder Mitschrift (handschriftlich, durch eine dritte Person), die zu den Akten genommen worden sei. „Diese Mitschrift enthält keine Hinweise auf ein Geständnis des verdächtigten Priesters.“

Hätte es ein Protokoll des Gesprächs geben müssen?

Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller sagt: Ja. „Solche Gespräche sind unbedingt zu verschriftlichen, da sie später für ein kirchliches Strafverfahren entscheidend sein können.“ Heße „hätte dies veranlassen müssen“.

Hätte das Erzbistum mehr machen müssen?

Nach Ansicht Schüllers wäre es die Amtspflicht der mit diesem Fall betrauten Personen gewesen, weitere Nachforschungen im sozialen Umfeld der möglichen Opfer und des beschuldigten Pfarrers einzuholen. „Dann hätte man auch ohne die konkreten Aussagen der möglichen Opfer das gesamte Material in Form einer Voruntersuchungsakte nach Rom zwingend schicken müssen.“

Wie beurteilte Heße die Situation?

Er sagt: „Zu der damaligen Entscheidung, kein kirchenrechtliches Verfahren einzuleiten, kann ich aus heutiger Sicht nur mitteilen, dass ich mich bei der Weiterleitung des Falls an den für diese Entscheidung zuständigen Erzbischof auf die eindeutige rechtliche Einschätzung der Experten verlassen musste, dass es für die Einleitung eines solchen Verfahrens keine Grundlage gibt.“

Wer hätte Meldung an den Vatikan machen müssen?

Laut Schüller gehört das zu den Amtspflichten des Diözesanbischofs, damals also Meisner. „Hinweisen müssen ihn die Kirchenrechtler der Diözese.“ In der Regel sei das der Offizial, also der Chef der Gerichtsbarkeit. In Köln war und ist das Domkapitular Günter Assenmacher.

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