Virologe spricht über den Corona-Herbst"Wir kennen die Immunitätslage nicht"

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KR Impfung

Eine Impfung gegen das Coronavirus. (Symbolbild)

Dr. Ulf Dittmer leitet das Institut für Virologie an der Uniklinik Essen. Mit Raimund Neuß sprach er über den anstehenden Corona-Herbst und fehlende Daten zur Immunitätslage in Deutschland.

Herr Professor Dittmer, die Urlaubszeit ist vorbei, die Corona-Sommerwelle verebbt, und im Nachhinein besteht der öffentliche Eindruck: Die Situation war trotz hoher Inzidenzen einigermaßen entspannt. War sie das wirklich?

Das kann man so und so beantworten. Medizinisch war sie tatsächlich nicht so schlimm. Das Omikron-Virus ist zum Glück nicht mehr so aggressiv und krankmachend wie Delta, und wir haben eine breite Immunitätslage in der Bevölkerung. Das hat zwar nicht verhindert, dass sich viele Menschen infiziert haben. Aber es hat verhindert, dass viele Menschen im Krankenhaus behandelt werden mussten. Trotzdem konnten viele Menschen wegen COVID-19 nicht arbeiten. Wir haben hier an unserem Institut für Virologie in Essen im Sommer mehr Ausfälle gehabt als jemals zuvor. Und wenn sich viele infizieren, gibt es leider immer einige wenige, die es doch sehr hart trifft.

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Die Testregelungen sind geändert worden, viele Infizierte machen nach dem Schnelltest keinen PCR-Test und gehen damit nicht in die Statistik ein, wir sprechen über hohe Dunkelziffern. Wissen wir unter diesen Umständen eigentlich genug über Hospitalisierung, Sterblichkeit, Immunität in der Bevölkerung?

Da kranken wir nach wie vor dran. Wir könnten viel aus dem Ausland lernen. Die Immunitätslage für den Durchschnitt der Bevölkerung kennen wir nicht, wir sind nicht in der Lage, hier in Deutschland vernünftige Daten dazu zu liefern.

Virologe: Deutschland hätte Pandemie nutzen müssen, um Datenerfassung zu etablieren

Aber was ist das für ein Signal an die Bevölkerung: eine schlimme Krankheit, aber genau nehmen wir es statistisch auch wieder nicht?

Es ist schlecht, dass wir da so unbefriedigend aufgestellt sind. Es gibt ja auch noch andere Krankheitserreger außer Sars-Cov2. Wir hätten die Pandemie nutzen müssen, um ein System zu etablieren, mit dem man solche Zahlen verlässlich erfassen kann. Andere Länder kriegen es hin, wir kriegen es leider nicht hin. Das muss man ganz klar sagen.

Wenn die Omikron-Variante sich als milder erwiesen hat als Vorgängerin Delta – ist das ein Hinweis darauf, wie die im Herbst und Winter zu erwartenden Infektionswellen verlaufen könnten?

Wie sich das Virus genetisch verändert, kann man seriös schwer vorhersagen. Ich halte aber die Theorie, im Herbst und Winter komme ein Killervirus ähnlich wie Delta zurück, für relativ unwahrscheinlich. Omikron löst weniger schwere Verläufe aus, weil es sich vor allem im Nasen-Rachenraum festsetzt und nicht so tief in der Lunge. Das ist es auch, was das Virus von der Evolution her will: Da kann es sich leichter verbreiten. Der Weg zurück tief in die Lunge, wo es sich nicht so leicht verbreiten kann, macht von der Evolution her keinen Sinn. Das heißt aber nicht, dass wir keine Varianten sehen könnten, die schwerere Verläufe auslösen als die gegenwärtig umlaufenden. Vielleicht war es sogar schon so, dass Omikron BA.1 milder war als BA.5 oder BA.4, die wir jetzt haben. Das legen experimentelle Daten nahe. Andererseits kommt die Immunitätslage in der Bevölkerung dazu, die die krankmachende Wirkung wieder abschwächt. Beides zusammen ergibt das Bild, das wir im Sommer gesehen haben.

Immer neue Infektionen möglich

Dass sich das Virus so rasch verändert und damit auch Impfstoffe austrickst, wirkt überraschend, oder? Am Anfang hieß es doch: Coronaviren sind relativ stabil, anders als etwas Grippeviren.

Coronaviren sind RNA-Viren wie Grippeviren. RNA-Viren können sich grundsätzlich schnell verändern. Aber es gab bis zur Pandemie in der Tat keine Studien, die gezeigt hätten, wie schnell sich früher bekannte Coronaviren verändern. Erst unter dem Eindruck der Corona-Pandemie hat man sich auch diese anderen, für Menschen weniger gefährlichen Viren, angeschaut und festgestellt: Die sind ähnlich variabel wie das jetzige Coronavirus. Wir hätten es also wissen können, aber wir wussten es nicht. Nun sehen wir die Immunflucht des Virus in Echtzeit, dadurch sind immer neue Infektionen möglich. Was wir aber nicht sehen, ist eine Immunflucht, die alle Mechanismen außer Kraft setzen würde, die der Körper gegen das Virus hat. Wir haben Mechanismen der Immunantwort, denen das Virus nicht entkommt: Wir können uns zwar erneut infizieren, aber schwere Verläufe sind dann die absolute Ausnahme. Das wird auch so bleiben.

Jetzt liegt die Empfehlung der Ständigen Impfkommission für eine Viertimpfung vor, unter anderem für die Altersgruppe 60plus. Sollte man jetzt sofort zum Arzt gehen oder vielleicht doch bis Ende September warten, wenn angepasste Impfstoffe auf dem Markt sind?

Die Stiko hat ja nicht gesagt, man sollte sofort die vierte Impfung durchführen. Das wäre auch nicht sinnvoll. Wir haben die Sommerwelle ja gerade hinter uns. Und die Daten zu den angepassten Impfstoffen von Biontec und Moderna sind doch sehr überzeugend. Ich würde warten, bis die zur Verfügung stehen. Es sind bivalente Impfstoffe, sie enthalten den alten Impfstoff und eine angepasste Variante und lösen eine breite Immunantwort gegen alle bisherigen Varianten aus. Also würde ich bis September oder Oktober warten, bis diese Impfstoffe auf dem Markt sind, und mich dann für die Wintersaison impfen lassen.

Auch wenn Gesundheitsminister Karl Lauterbach sagt, dass er es nicht so meint – das neue Infektionsschutzgesetz könnte einen ja motivieren, sich alle drei Monate eine Spritze abzuholen, um den lästigen Testpflichten zu entgehen. Was halten Sie davon?

Ich würde das nicht machen. Wenn man Impfungen so oft wiederholt, kann es Veränderungen im Immunsystem geben. Erste Daten zeigen das auch. Einen Booster für den nächsten Winter finde ich sinnvoll, aber nicht alle drei Monate.

Paxlovid nur bei Risikopatienten sinnvoll

Nochmal Lauterbach: Er hatte eine leichte Corona-Infektion und hat sofort Paxlovid geschluckt. Kann man das zur Nachahmung empfehlen?

Eigentlich setzt man das nur bei Risikopatienten ein, auch hier in unserer Klinik. Das ist auch absolut sinnvoll, und man muss es früh machen, sobald man die Infektion nachweisen kann. Wir setzen es besonders bei stark immunsupprimierten Patienten ein, etwa nach Transplantationen, und bei Älteren. Ich glaube nicht, dass jeder, der sich infiziert, Paxlovid schlucken muss.

Wie sehen Sie die Perspektiven bei den allgemeinen Infektionsschutzmaßnahmen? Maskentragen etwa oder Isolations- und Quarantänepflichten, Sie haben ja selbst geschildert, was das bei Ihnen im Institut bewirkt hat …

Es kann wieder Infektionslagen geben, bei denen wir in bestimmten Bereichen den Mund-Nasen-Schutz anwenden müssen. Das ist oft lästig, aber es ist in einigen Bereichen – etwa bei einem Besuch im Ladengeschäft – nicht übermäßig störend. Das ist ein gutes Instrument, die Möglichkeit sollte bleiben. Und ich glaube auch, dass begrenzte, nicht zu lange Quarantäneregeln bleiben müssen, einfach um zu verhindern, dass in Betrieben riesige Infektionsketten entstehen.

Sie haben vorhin selbst gesagt: Es gibt ja noch andere Erreger außer Sars-Cov2, an die wir denken müssen. Haben wir denn das Thema Affenpocken im Griff, oder droht da eine größere Verbreitung?

Die Fälle außerhalb der Hochrisikogruppe, etwa bei Kindern, sind große Ausnahmen. Wir sehen hier auch bei uns in Essen, dass die Impfanstrengungen in der Hochrisikogruppe wirken und dass wir da allmählich weniger neue Fälle sehen. Ich glaube, wir sind an dem Punkt, wo wir das Geschehen langsam in den Griff bekommen und verhindern können, dass es in andere Bevölkerungsgruppen schwappt. Das liegt aber auch daran, dass sich das Virus nicht so leicht verbreitet. Der Hauptinfektionsweg ist risikoreicher Geschlechtsverkehr. Es gibt praktisch keine Tröpfcheninfektion über die Atemluft. Daher breitet sich das Virus nicht so schnell aus, wie man es hätte befürchten können. Es ist ein DNA-Virus und ändert sich somit auch nicht so schnell. Ganz ausgeschlossen sind genetische Varianten aber nicht, die zum Beispiel leichter übertragen werden könnten. Umso mehr müssen wir alle die erreichen, die aktuell ein großes Risiko haben, das Virus zu verbreiten – um es eben gleich am Anfang zu stoppen.

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