Ulrike Meyfarth bei Olympia 1972Wie ein Teenager aus Wesseling die Nation entzückte

Lesezeit 4 Minuten
Meyfarth2

Ulrike Meyfarth jubelt gemeinsam mit tausenden Zuschauern im Münchener Olympiastadion nach der Landung. 

  • Die 16 Jahre alte Ulrike Meyfarth bezwingt 1972 in München mit der Weltrekordhöhe von 1,92 Metern die Hochsprung-Elite.
  • Wir blicken im Rahmen unserer Olympia-Serie auf das Ereignis zurück.

Bonn – Gut dreieinhalb Stunden sind die Athletinnen an jenem Montag im Münchner Olympiastadion schon im Einsatz. Die hoch eingeschätzte Bulgarin Jordanka Blago¬ewa befindet sich noch im Wettbewerb, natürlich die österreichische Weltrekordlerin und Topfavoritin Ilona Gusenbauer – und ein 16 Jahre alter Teenager aus Wesseling, den niemand auf der Rechnung hat: Ulrike Meyfarth, mit einer Bestleistung von 1,85 Metern angereist.

Es ist nicht irgendein Wettkampf. Man schreibt den 4. September 1972; auf dem Programm steht das Finale bei den Olympischen Spielen im Hochsprung der Frauen. Um 15 Uhr hat der Endkampf begonnen – mit 23 Athletinnen. Mittlerweile liegt die Latte auf 1,90 Metern – nur zwei Zentimeter unter dem Weltrekord. Längst hat sich der Fokus der live übertragenden Fernsehanstalten und Radiostationen, längst hat sich alle Aufmerksamkeit des Publikums in der ausverkauften Arena auf diesen Wettbewerb gelegt. Eine ganze Nation hockt fingernägelkauend vor den Bildschirmen, fiebert mit der 16-Jährigen mit, die vor Olympia nicht mal Insidern ein Begriff gewesen ist.

Meyfarth1

Ulrike Meyfahrt in Aktion

„Im Laufe des Wettkampfs habe ich gesehen, dass mein Name auf der Anzeigetafel immer höher rückte. Auch die Zuschauer merkten, dass sich da was zusammenbraut“, erinnert sich Ulrike Nasse-Meyfarth, wie sie seit ihrer Hochzeit mit dem Rechtsanwalt Roland Nasse 1987 heißt, mit dem Abstand von 48 Jahren an diesen speziellen Abend. „Vor meinen Sprüngen war es plötzlich so still, dass du eine Stecknadel hättest fallen hören können.“ Es geschieht, was keiner für möglich gehalten hat: Blagoewa und Gusenbauer reißen die 1,90 Meter dreimal, Meyfarth muss nur im ersten Versuch passen. „Da haben einige Zuschauer sogar gepfiffen“, zeigt sie sich noch heute befremdet. Und sie erinnert sich, dass „die Latte bei einem Versuch Blagoewas lange liegen blieb, ehe sie doch noch fiel“.

Ulrike Nasse Meyfarth

Ulrike Nasse-Meyfarth, geboren am 4. Mai 1956 in Frankfurt/Main, hat eine beispiellose Karriere vorzuweisen. Neben den beiden Olympiasiegen stehen in ihrer Erfolgsliste der Europameistertitel 1982 und die Vizeweltmeisterschaft 1983 zu Buche. Zweimal hielt sie den Weltrekord: 1972 mit 1,92 Metern und 1983 mit 2,03 Metern. Von 1981 bis 1984 wurde sie viermal in Folge zur Sportlerin des Jahres gewählt.

Mit dem Hochsprungtraining begann sie als Zwölfjährige beim TV Wesseling; später startete sie für den ASV Köln und TSV Bayer 04 Leverkusen. In Wesseling wurde 2004 das Ulri¬ke-Meyfarth-Stadion nach ihr benannt. Heute trainiert Nasse-Meyfarth bei Bayer Leverkusen die Kinder in leichtathletischen Disziplinen: „Außer im Hammerwerfen und Stabhochsprung.“ ley

Meyfarths zweiter Versuch bringt die Entscheidung: Totenstille während der Vorbereitung und beim Anlauf, dann der Sprung in der damals noch relativ neuen Flop-Technik. Sie schraubt sich hoch, überquert rücklings die Latte – und dann entlädt sich bei ihr, im Stadion, in den Wohnzimmern der Nation die ganze Spannung in einem einzigen Aufschrei: Ulrike Meyfarth, die Außenseiterin, die große Unbekannte, ist Olympiasiegerin! Die 16-Jährige nutzt die Euphorie, lässt mit der sicheren Goldmedaille im Rücken die Weltrekordhöhe von 1,92 Metern auflegen – und schafft diese im ersten Versuch!

„Dass du Gold hast, ist erst gar nicht richtig zu begreifen. Ich hätte die Latte anschließend sicher auch noch höher legen lassen können“, sagt Nasse-Meyfarth. „Im Nachhinein gesehen, hätte ich wohl auch 1,93 Meter geschafft. Aber alles andere als 1,92 Meter waren für mich in diesem Moment mental nicht zu verkraften.“

Verkraften muss sie anschließend ohnehin eine ganze Menge. Der Siegerehrung und dem Medienrummel folgt am nächsten Morgen der Schock des Attentats auf das israelische Olympiateam: „Ich kann das Attentat nicht von diesem Wettkampf trennen.“

Der Fall ins Leistungsloch

In den Jahren danach fällt die Olympiasiegerin in ein tiefes Leistungsloch. Mit dem nötigen Abstand sagt sie im Rückblick: „Ich hatte mich innerhalb von zwei Jahren um 20 Zentimeter verbessert. Es war klar, dass das so nicht weitergehen konnte. Aber du setzt dich selbst unter Druck, meinst, dass du diese Leistung immer wieder bestätigen musst.“

Gerade als Teenager, der eigentlich nur zu Olympia gekommen war, um Erfahrung zu sammeln. „1972 sollte meine Lernphase sein, aber die kam dann später“, berichtet Nasse-Meyfarth. Mit dem Tiefpunkt 1976, als sie an der Qualifikationsnorm für die Olympischen Spiele in Montreal scheitert. Doch ihre Karriere will sie so keinesfalls beenden. „1972 ist mir der Olympiasieg quasi in den Schoß gefallen, er war nicht erarbeitet. Aber ich wollte mir so etwas unbedingt noch einmal erarbeiten.“

Das tut sie tatsächlich: 1984 in Los Angeles. Sie feiert einen Olympiasieg, auf den sie im Gegensatz zu dem von 1972 nur selten angesprochen wird, obwohl ihr im Vorfeld verletzungsbedingt wieder kaum Chancen eingeräumt werden und obwohl sie mit 2,02 Metern olympischen Rekord springt. Dafür hat sie eine einfache Erklärung: „Nach deutscher Zeit fand der Wettkampf in der Nacht statt; nicht jeder hat ihn hautnah mitverfolgt.“ Dazu waren nach dem Olympiaboykott der Sow¬jetunion und 18 weiterer Staaten nicht alle teilnahmeberechtigten Athletinnen am Start. „Die Medaille glänzt nun mal nicht so, wenn nicht so viele dabei sein dürfen“, stellt sie nüchtern fes

Rundschau abonnieren